Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

E. oder Die Insel
E. oder Die Insel
E. oder Die Insel
eBook435 Seiten6 Stunden

E. oder Die Insel

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

April 1945, auf einer Insel in der Mulde. In einem Gebüsch hält sich ein Mann versteckt. Seine Knie sind aufgeschlagen, seine Sachen nass, in der Ferne ist das Geräusch krachender Haubitzen zu hören. Er blickt auf das Pfarrhaus am Ufer, in dem er mit seiner Frau und den Kindern gelebt hat. Aber jetzt sind sie weg. Sie scheinen verschleppt worden zu sein, und er ist sich sicher, dass ihr Verschwinden etwas mit ihm zu tun hat. Er versucht sich zu erinnern. Ein Mann mit einem Klumpfuß kommt ihm in den Sinn. Und ein kleines Mädchen, von dem er nach und nach zu erzählen beginnt. Was er sieht, hört und denkt, schreibt er auf. Ein Abschiedsbrief an seine Frau. Ein Bericht, mit dem er Zeugnis ablegt. Er notiert seine Worte auf der Rückseite von Akten. Sie liegen in dem Koffer, den er bei sich führt, zwischen Dosenfleisch, einer zersplitterten Uhr und einem langsam hart werdenden Laib Brot.

Ein Roman, dessen Fassade langsam zerbricht und der die Abgründe unter der dünnen Firnis der Zivilisation sichtbar macht.

"Ein dunkler Roman über einen Arzt, der gefangen ist auf der Insel seines Denkens. Ich kenne nichts Vergleichbares in der deutschen Gegenwartsliteratur." (Gunnar Cynybulk)
SpracheDeutsch
HerausgeberVoland & Quist
Erscheinungsdatum17. Mai 2021
ISBN9783863913007
E. oder Die Insel

Ähnlich wie E. oder Die Insel

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für E. oder Die Insel

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    E. oder Die Insel - Francis Nenik

    Samstag, 14. April 1945

    Marie, wo bist du? Was haben sie mit dir und den Kindern gemacht?

    Ich bin auf der Insel im Fluss. Ich halte mich in den Büschen versteckt. Ich habe mich tief unter die Zweige geschlagen.

    Du kannst mich nicht sehen, und du hörst mich auch nicht. Ich kritzle meine Worte stumm aufs Papier.

    Marie, es ist viel passiert. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich sitze hier, meine Sachen sind nass, und ich friere. Dabei sollte ich neben dir liegen. Ich wollte dich überraschen, wollte zu dir ins Bett steigen, mich an dich schmiegen und dir sagen, dass alles gut ist. Dass ich die Stadt verlassen habe. Dass dieser Krieg hinter mir liegt.

    Ich wäre gern eher gekommen. Aber es ging nicht. Ich musste noch ein Kind begleiten. Ein Mädchen, noch keine zehn Jahre. Ich konnte es nicht allein lassen auf seinem Weg.

    Marie, du brauchst keine Angst zu haben, für mich ist gesorgt. Ich habe ein Dach aus Blättern und Zweigen und Vorräte für mehrere Tage. In meinem Koffer sind Büchsen mit Kondensmilch und Wachsbohnen. Sogar Dosenfleisch habe ich. Und Brot.

    Ich habe es aus L. mitgebracht. Die ganze Stadt wurde gestern versorgt. Es heißt, die Zuteilungszeiträume seien zusammengelegt worden. Dabei weiß jeder, dass es Sonderzuteilungen waren, wie wir sie nach jedem Luftangriff kriegen. Aber ich habe mich nicht mit in die Schlange gestellt. Ich hatte mir meinen Teil schon zwei Tage vorher geholt. In der Nacht, in der die Bomber gekommen sind.

    Ich hatte mich gerade hingelegt, als der Alarm durch die Ruine geheult ist. Es war bereits der vierte an diesem Tag, und ich war es leid, durch die riesigen Flure zu rennen und Schutz im Keller zu suchen.

    Du kannst es nicht wissen, Marie, aber der Keller ist leer. Die eilfertigen Diener des Untergangs haben sämtliche Akten aus den Schränken geholt und auch sonst nichts zurückgelassen. Als müssten sie Platz machen für unseren Schutz. Dabei waren wir nur noch zu zweit, das Mädchen und ich.

    Ich bin liegen geblieben und habe an die Decke gestarrt. Ich war mir sicher, sie würden uns nicht attackieren. Es gab nichts mehr zu holen, rundherum war doch schon alles verbrannt. Aber dann ist die Kleine aufgewacht und hat angefangen zu wimmern. Sie hat ganz flach geatmet, und ich habe sie aus dem Bett genommen und fest an mich gedrückt. Aber ich konnte sie nicht beruhigen. Also habe ich den Leuchtkasten über meinem Tisch angemacht und ihr die Bilder gezeigt, doch auch das hat nichts gebracht. In meiner Not habe ich die Pappen aus den Fenstern entfernt, und wir haben raus in den Nachthimmel geschaut. Auf die Flieger, die von Osten hereinzogen, und die Stadt, die wenig später zu brennen begann.

    Ich weiß nicht, warum, aber das hat sie ruhig gestimmt. Ich habe es erst gemerkt, als sie schon wieder eingeschlafen war. Ich hatte nur Augen für die brennende Stadt.

    Marie, mir ist kalt, und alles ist nass. Die Sachen kleben an meiner Haut wie mein Stift auf dem Papier. Alles andere hat sich gelöst. Ist kaputtgegangen. Zerfallen.

    Wie ich da stand und durch die glaslosen Fenster geblickt habe. Auf den Nachthimmel und die vielen Maschinen … Sie hatten sich zu einem langen Rechteck geformt, als versuchten sie, einen Sarg in den Himmel zu zeichnen.

    Sie sind von Osten gekommen und übers Stadtzentrum gezogen. Dann sind sie nach Nordwest abgedreht und haben angefangen, ihre Leuchtbomben zu werfen.

    Es gab keine Gegenwehr. Die Flak hat nur spärlich geschossen und auch erst dann, als die Bomben schon fielen. Offenbar hat sie der Angriff überrascht. Vielleicht ist ihnen die Verteidigung einer Stadt, die bereits zerbombt worden ist, aber auch sinnlos geworden. Ich kann es nicht sagen. Ich weiß nur, dass das Abwehrfeuer aus der Nähe kam. Wahrscheinlich die Flakstellung in der Torgauer Straße.

    Die Kaserne trägt den Namen des Stadtteils, in dem sie steht. „Heiterblick". Was für eine lächerliche Ironie.

    Sie haben nur noch für ihr Gewissen geschossen. Der Glaube an den Sieg liegt längst unter ihren Stiefeln begraben. Die Flak hat gegen die Flieger nichts ausrichten können. Selbst wenn sie einen getroffen haben, war seine Ladung schon unterwegs. Die Bomben hingen an kleinen Fallschirmen und kamen ganz langsam herabgeschwebt. Als wollten sie den Menschen eine letzte Chance geben, in die Keller zu eilen.

    Aber ich bin nicht gegangen. Ich habe am Fenster gestanden und zugesehen, wie die Bomben lange, leuchtende Schlieren in den Nachthimmel gemalt haben und das Feuer in die Stadt zu tropfen begann. Ein glühender Sternregen. Und in meinen Armen das Mädchen, das zu wimmern aufgehört hatte.

    Ich weiß nicht, wie lange ich da gestanden habe. Ich weiß nur, dass ich keine Angst hatte. Die Flugzeuge waren weit weg, sie hatten sich ein anderes Ziel ausgesucht. Für sie existierte der Ort, an dem ich stand, gar nicht mehr. Sie hatten ihn schon erledigt. Für sie war es nur noch eine Trümmerwüste. Ein Ruinenfeld. Eine Sache, die abgehakt war. Sie konnten nicht wissen, dass das Kind und ich überlebt hatten.

    Die Kleine war in meinen Armen eingeschlafen, und für einen Augenblick habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn ihr Gesicht im Schein des brennenden Phosphors zu leuchten begänne.

    Drüben, die Fenster des Pfarrhauses sind dunkel. Nur die Holzstoff-Fabrik schüttet ihr Licht vor mir aus. Sie kippt es direkt in den Fluss.

    Was kann ich tun, außer hier hocken und warten. Mir mit dem Stift die Kälte aus dem Körper rausschreiben? Als ob das was brächte! Ich bin nass, von oben bis unten. Ich kann den Bleistift kaum halten. Ich schreibe nur, um meine Hände zu spüren.

    Als ich am Fenster stand, habe ich mir für einen Moment gewünscht, dass einer der Flieger aus der Formation ausbricht und Kurs auf mich nimmt. Er kann es nicht ertragen, dass ihn jemand beobachtet bei dem, was er tut. Es ekelt ihn an, dass inmitten des Krieges ein Mensch in aller Ruhe da steht, hinter einem zerborstenen Fenster, mit einem schlafenden Mädchen im Arm.

    Aber das ist nicht passiert. Als die Flieger ihre Leuchtbomben abgeworfen hatten, sind sie nach Süden gedreht, und dann ist auch schon die zweite Welle gekommen. Wie Tiere sind sie über die Stadt hergefallen. Sie hatten den Auftrag, die Sache zu Ende zu bringen. Und das haben sie auch getan.

    Es fiel ihnen nicht schwer. Die erste Welle hatte ganze Arbeit geleistet und das Ziel mit den Leuchtbomben markiert. Sogar aus der Ferne war zu erkennen, was sie sich ausgesucht hatten. Es war der Verladebahnhof im Nordwesten der Stadt.

    Es war nicht ihr erstes Ziel an dem Tag. Ein paar Stunden zuvor hatten sie schon den Rangierbahnhof im Osten attackiert. Nach dem Angriff hing eine große, blaue Rauchwolke über der Stadt. Sie sah aus wie ein himmlisches Kainsmal.

    Als die Bomber dann in der Nacht wiedergekommen sind, war die Wolke verschwunden, und die Flieger haben angefangen, mit ihren Bomben leuchtende Schlieren in den kristallschwarzen Himmel zu zeichnen. Und ich? Ich stand am Fenster und habe ihnen dabei zugeschaut. Mit einem schlafenden Kind im Arm und einem Haufen dicker Pappen zu meinen Füßen. Und neben mir, über dem Tisch, der Leuchtkasten, der stumm vor sich hin brannte.

    Marie, es fällt mir schwer, meinen Worten zu glauben. Es ist, als berichtete ich von einer anderen Zeit, von einer anderen Welt, von einem anderen Menschen. Aber das bin ich, Marie. Ich, der auf dieser Insel hier sitzt und wartet. Auf dich und die Kinder!

    Es gibt nichts zu bereuen, Marie. Was ich getan habe, war richtig, und ich würde es wieder so tun. Ich wäre nur gern ein paar Stunden eher gekommen. Dann lägen wir jetzt zusammen im Bett, und nebenan schliefen die Kinder, und der Krieg würde uns nicht mal im Traume erscheinen.

    Carl und Irmchen und Paul … Ich wünschte, ich hätte ein Bild von ihnen bei mir. Ein Bild von euch allen. Eines, das ich aus der Ferne vor die dunklen Fenster des Pfarrhauses halten kann. Aber da ist nur die Holzstoff-Fabrik, die mich mit ihren stinkenden Augen anfunkelt.

    Marie, ich hatte nicht vor, mich auf den Weg raus zum Verladebahnhof zu machen. Schon gar nicht in dieser Situation. Aber als die Kleine eingeschlafen war, ist etwas passiert, und ich musste plötzlich daran denken, was vor anderthalb Jahren mit den Kindern in der Baracke nebenan geschehen ist, dass sie in ihren Betten verbrannt sind und dass ich diesmal vielleicht jemanden retten konnte. Wenn schon nicht hier, dann auf dem Verladebahnhof. Dort lagen die Menschen auch in Baracken, und vielleicht hatten es ein paar von ihnen geschafft.

    Es war, als hätte ich eine zweite Chance bekommen. Als hingen die Bomben noch immer am Fallschirm, als fielen sie diesmal so langsam vom Himmel, dass ich eingreifen konnte.

    Ich hätte es besser wissen müssen.

    Ich habe fast zwei Stunden bis raus zum Bahnhof gebraucht. Als ich ankam, hatten sie die Verletzten bereits abtransportiert und nur die Leichen liegen gelassen, und alles, was mir blieb, waren die zerstörten Bahnhofsgebäude und der Zug, der neben den Gleisen lag wie eine Spielzeugeisenbahn, die jemand aus Wut umgekippt hatte. Die Lok war völlig zerstört, und die Waggons waren der Länge nach aufgerissen. Es sah aus, als hätte jemand mit einem riesigen Beil reingeschlagen.

    Einige Waggons brannten noch stumm vor sich hin, andere waren in einen großen Bombenkrater gerutscht und hatten die nachfolgenden mit sich gerissen und andere aus den Gleisen gehoben, und je mehr ich mich umschaute, umso unheimlicher wurde es mir. Eine Druckwelle hatte zwei der Waggons in das Stellwerk katapultiert und es zum Einsturz gebracht. Auch die Baracke mit den Fremdarbeitern hatte Feuer gefangen, und nicht alle waren dem Inferno entkommen.

    Es war, als wollte mich das Schicksal dafür bestrafen, dass ich mich auf den Weg gemacht hatte, als müsste es mir noch einmal vor Augen führen, was damals mit den Kindern passiert war und wie hilflos ich immer noch war.

    Die Arbeiter, die es aus der brennenden Baracke raus geschafft hatten, hockten zwischen den aufgeschlitzten Waggons, und erst da erkannte ich, dass es ein Versorgungszug war. Die Männer hatten die Hände voll Fleisch und fraßen sich satt. Und neben ihnen lagen die Leichen.

    Es sah aus, als hätte der Krieg sein eigenes Gemälde erschaffen. Einer der Toten hing auf dem Ende einer aus dem Boden gerissenen Schiene, und unter ihm türmten sich die Konserven.

    Es gab keine Wachen am Bahnhof, und auch keine Soldaten. Jeder konnte sich nehmen, was immer er wollte. Es war genug da von allem. Die Waggons waren bis unters Dach mit Lebensmitteln gefüllt, und alles quoll heraus, Kartoffeln, Brot, Eier, Speck, zentnerweise Konserven … Als hätte jemand das Schlaraffenland in die Luft gejagt.

    Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte nichts davon nehmen, aber ich konnte auch nicht mit leeren Händen zurückkehren. Es hätte sich wie ein weiterer Verlust angefühlt. Also habe ich mir ein paar Konserven genommen, dazu noch einige Dosen Kondensmilch und ein Brot, das mir einer der Fremdarbeiter in die Hände gedrückt hat.

    Ich habe mich schäbig gefühlt. Ich wollte das Brot nicht haben und noch weniger, dass er es mir gibt. Er roch nach Fleisch und Blut, und aus seinen Mundwinkeln lief Milch. Sein ganzes Gesicht bestand nur noch aus Knochen. Und doch gab er mir, einem Deutschen, einen Laib Brot. Er hat ihn zu mir emporgereckt, als ich an ihm vorbeilief. Als wollte er mir zeigen, dass er keinen Anspruch darauf erhebt. Dass ich das Brot haben kann. Und ich habe es genommen.

    Ob er gespürt hat, dass ich keiner von den Kriegstreibern bin? Dass ich mich auf den Weg gemacht hatte, um zu helfen?

    Aber wie sollte er? Er wusste doch nichts über mich, und ich habe auch kein Wort gesagt. Ich habe einfach nur das Brot genommen und bin gegangen. Und jetzt liegt es hier auf der Insel. Zwischen Weidenbüschen, im Nebel.

    Marie, ich habe alles, was ich an Essen habe, vor mir auf den Koffer gelegt. Das Brot, vier Dosen mit Fleisch, drei mit Wachsbohnen und dazu noch drei mit Kondensmilch. Es sieht aus, als würde ich ein Picknick veranstalten.

    Du kannst jetzt kommen, Marie. Der Tisch ist gedeckt. Du und die Kinder, ihr könnt euch neben mich setzen.

    Nur einen Dosenöffner habe ich nicht. Er liegt in der Küche, drüben im Pfarrhaus.

    Im Pfarrhaus. Wo auch ich liegen sollte. Und du, Marie. Und Carl und Irmchen und Paul. Ihr solltet alle da sein. Aber ihr wart nicht da, als ich kam.

    Marie, was ist passiert? Wo bist du? Und wo sind die Kinder?

    Ich kann nicht glauben, dass ihr weg seid. Aber ich muss es tun. Und ich sehe es ja auch. Kein Licht im Pfarrhaus und kein Rauch oben im Schornstein. Überhaupt kein Zeichen von Leben.

    Ihr seid weg. Und ich bin hier auf der Insel. Allein mit meiner Henkersmahlzeit … Erinnerst du dich an die Windmühle neben dem Verladebahnhof, Marie? Es war, als würde sie mir nachschauen, als ich mich mit dem Brot in der Hand zurück auf den Weg zu dem Mädchen gemacht habe. Als wüsste sie noch, wie wir damals unter ihren Flügeln im Gras lagen … Wir hatten uns gerade erst kennengelernt. Ich war unsicher und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, und habe mich an den Grasbüscheln festzuklammern versucht. Ich wollte nichts Falsches sagen und dich auch nicht mit mir selbst überfallen. Aber Schweigen konnte ich auch nicht. Also habe ich angefangen, dir von General Blücher zu erzählen und wie er seine Soldaten an der Mühle versammelt hat, um sie in die Schlacht gegen Napoleon zu schicken, während er selbst hoch in den Mühlturm gestiegen ist, um sich ein Bild von der Lage zu machen und die Bewegungen seiner Truppen zu koordinieren.

    Ich wäre beim Sprechen am liebsten im Boden versunken, so sinnlos und dumm fand ich das, was ich dir da erzählt habe. Zu meinem Glück hast du mich irgendwann unterbrochen und mir gesagt, dass dich diese alten Kamellen nicht interessieren und dass ich dir lieber eines meiner Gedichte vorlesen soll.

    Du wusstest, dass ich ein paar von ihnen eingesteckt hatte, und du hattest nicht vor, mich damit entkommen zu lassen. Also habe ich sie aus der Tasche gezogen und angefangen zu lesen, und du hast mir zugehört, hast an meinen Lippen gehangen, und ich habe immer weitergelesen, so lange, bis ich keine Gedichte mehr hatte, bis all meine Heimlichkeit aufgebraucht war, und da war es plötzlich, als hätte sich eine Welt vor mir aufgetan.

    Das ist fast fünfzehn Jahre her. Ich hätte damals nicht gedacht, dass es eines Tages Krieg geben wird, ich konnte nicht ahnen, dass wir nie wieder an die Mühle zurückkehren werden. Aber selbst wenn, hätte ich nichts anderes tun wollen, als mit dir im Gras zu liegen und Gedichte zu lesen. Die Mühle hat ihren Platz in meiner Erinnerung, und der Krieg kann sie nicht trüben.

    Den Gedichten geht es genauso, auch wenn ich schon lange keine mehr schreibe.

    Im Koffer liegt ein großer Stapel Papier. Es sind die Akten, auf deren Rückseite ich diese Zeilen notiere. In meinem Kopf aber liege ich mit dir unterhalb der Mühle im Gras und spüre, wie uns die Verse verbinden.

    Wer weiß, vielleicht erinnere ich mich nur deshalb an diesen Tag, weil er so einmalig war. Weil er sich nicht wiederholen lässt, was immer wir auch tun. Ein jedes hat seine Zeit, Marie, und dass wir uns kennengelernt haben, ist alles, was zählt. Weil es der Anfang war. Von uns und Carl und Irmchen und Paul … Und was ist schon die Schönheit eines Gedichts gegen das Glück einer Familie!

    Ich kann nicht glauben, dass ihr weg seid, Marie. Du und die Kinder. Etwas muss passiert sein. Aber ich weiß nicht, was.

    Ich werde es herausfinden, aber ich muss vorsichtig sein. Die Menschheit taumelt durch einen nicht enden wollenden Strudel aus Schlachten, und nichts bleibt sich gleich. Sogar die Mühle hat ihr Antlitz verändert. Sie ist schwarz angestrichen worden, selbst ihre Flügel hat man gefärbt, damit die Flieger sie vom Himmel aus nicht erkennen. Aber es hätte nichts genützt. Am Ende war es einfach nur Glück, dass der Bombenteppich an dieser Stelle ein Loch hatte, durch das die Mühle gerutscht ist. Sie hat den Angriff auf den Verladebahnhof unversehrt überstanden. Aber die Wiese, auf der wir einst lagen, war mit Bombenkratern übersät.

    Warum schreibe ich das alles auf? Du wirst diese Zeilen nie lesen, Marie. Und falls doch, so wird es mich nicht mehr geben.

    Dann ist das hier also mein Abschiedsbrief. Vielleicht ist es aber auch bloß ein Bündel Papier, das ich bei mir trage und das ich heimlich vernichten werde, wenn ich diese Insel verlasse und zurückkehre zu dir und den Kindern.

    Ich weiß, Marie, du wolltest nicht, dass ich gehe, du wolltest, dass ich bei euch bleibe und nicht noch mal zurück nach L. fahre. Aber ich musste es tun. Ich konnte dir nicht sagen, warum. Du hättest es nicht verstanden. Und ich wollte dich auch nicht in Gefahr bringen, Marie.

    Es waren nur fünf Tage. Fünf Tage, die ich nicht bei euch war. Und doch ist so viel passiert. Inzwischen sind sämtliche Bahnhöfe in Leipzig zerbombt, und ich musste gestern Abend stundenlang laufen, um einen Zug zu finden, der mich zu euch bringt.

    Er stand draußen in den Feldern, irgendwo vor der Stadt, als hätte er nur auf mich gewartet. Ich bin eingestiegen, als könne man einfach so aus dem Krieg rausmarschieren, und der Schaffner hat das Signal zur Abfahrt gegeben.

    Aber wir sind nicht weit gekommen. Nach der Hälfte der Strecke waren die Gleise zerstört, und wir waren gezwungen, den Zug zu verlassen. Der Lokführer hat uns dann zu einem Bahnwärterhäuschen geführt, dort sollten wir warten. Aber ich wollte nicht. Also bin ich weitergelaufen, die ganze Nacht durch, immer an den Schienen entlang. Ich wollte zu dir und den Kindern. Aber ihr wart nicht da.

    Warum schreibe ich, als sei das alles längst vergangen? Es ist doch noch keine zwei Stunden her, dass ich die Wohnung betreten habe! Was sind denn zwei Stunden in einem Krieg, der nun schon fast sechs Jahre dauert?!

    Es ist alles so sinnlos, Marie, so grausam und sinnlos! Anderthalb Jahre lang war ich ohne dich und die Kinder allein in der Stadt. Anderthalb Jahre lang bin ich jeden Samstagabend mit dem Zug zu euch gefahren, um die restlichen Stunden des Wochenendes mit euch zu verbringen, bevor mich am frühen Montagmorgen die Pflicht zurück nach Leipzig gerufen hat. Nur diesmal war es anders, diesmal bin ich schon am Freitag in den Zug gestiegen, und diesmal wollte ich bleiben. Ich hatte meine Pflichten alle erfüllt und wollte nur noch eines: bei euch sein und diesen Krieg zusammen mit euch überstehen. Aber jetzt sitze ich auf einer Insel im Fluss, keine zweihundert Meter von unserem Zuhause entfernt, sitze unter Weidenbüschen im Dreck, während mein Kopf unter einer Windmühle im Gras liegt und alte Verse aus meinem Mund sprudeln.

    Ich möchte schreien, Marie. Ich möchte deinen Namen rufen, aber ich darf nicht. Ich habe Angst, dass andere mich hören. Andere als du und die Kinder. Menschen, von denen ich nicht möchte, dass sie hinter den Nebelwänden auf mich warten. Und man schreit nicht, wenn man nicht gehört werden will.

    Jetzt, wo ich die Worte vor mir auf dem Papier sehe, wird mir klar, dass zwischen schreien und schreiben nur ein einziger Buchstabe liegt. Er ist eine Insel. Eine Insel in mir. Es ist der Ort, von dem aus ich zu dir und den Kindern reise. Der Ort, von dem aus ich nach euch suchen kann.

    Marie, ich weiß nicht, warum ihr gegangen seid und wohin. Ich weiß nur, dass ihr weg seid. Und dass gestern Abend etwas passiert sein muss. Als ich heute Morgen kurz vor fünf in die Wohnung kam, stand euer Abendessen noch auf dem Tisch. In den Gläsern war Tee, und auf den Tellern lag Brot. Eines war sogar mit Butter bestrichen, und der Rest klebte noch am Messer. Aber niemand hatte etwas gegessen. Alles war unberührt.

    Warum bin ich nicht geblieben? Es ist doch unser Zuhause! Seit anderthalb Jahren schon. Ein Neuanfang, nach allem, was mit uns passiert ist.

    Ich hätte auf euch warten müssen, Marie. Länger, als ich es getan habe. Aber ich konnte nicht. Der Krieg liegt in seinen letzten Zügen, und je enger sich die Schlinge zieht, umso geringer sind die Abweichungen, die die Kriegstreiber dulden. Als ich Leipzig gestern verlassen habe, hatten sie gerade zwei „Verräter" gerichtet. Sie brauchten nicht mal ihr eigenes Grab zu schaufeln. Sie haben sie einfach zu einem der Bombenkrater am Exerzierplatz geführt und sie nach dem Genickschuss über den Rand kippen lassen.

    In mir ist alles ganz klar, und doch kann ich nicht sagen, was hier gerade passiert. Der Fluss hat seine nasskalten Arme um die Insel geschlungen, und ich weiß nicht, ob er mich umarmen oder von der Welt fernhalten will.

    Ich hätte nie gedacht, dass ihr in Gefahr seid, Marie. Aber selbst wenn, was hätte ich denn tun sollen? Ich konnte Leipzig nicht früher verlassen. Ich musste noch dieses Kind begleiten. Ich war bei ihm bis zum Schluss, und danach habe ich mich sofort auf den Weg zu euch gemacht. Aber ihr wart nicht mehr da. Und jetzt, jetzt hocke ich hier auf der Insel, in eine Decke geschlagen, zitternd und frierend, und um mich herum tritt langsam die Welt aus dem Nebel.

    Was, wenn du mit den Kindern inzwischen zurückgekehrt bist? Wenn ihr drüben im Pfarrhaus in der Küche sitzt und die Brote vom Vorabend esst? Jetzt, in diesem Moment, wo ich diese Worte hier schreibe. Vielleicht seid ihr über den Hof gelaufen, während ich aufs Papier gestarrt habe. Oder der Nebel hat euch vor mir verborgen. Er zieht in dicken Schwaden über den Fluss und lässt das Pfarrhaus immer wieder vor meinen Augen verschwinden. Vielleicht seid ihr also längst wieder zu Hause?

    Aber warum solltet ihr die Wohnung verlassen, wenn das Essen noch auf dem Tisch steht? Und wo hättest du über Nacht sein können, noch dazu mit den Kindern?

    Irgendwas muss gestern Abend passiert sein. Aber was? Als ich heute Morgen um kurz vor fünf ankam, war das Haus bereits leer, nur habe ich es nicht gleich bemerkt. Ich bin direkt von den Gleisen gekommen und nicht, wie sonst, über den Hof gelaufen, an der Kirche und der Schule vorbei. Stattdessen habe ich den Weg über die Rückseite genommen, bin durch das Gartentor gehuscht und über die Wiese gelaufen, und fast wäre ich über das Ende der Wippe gestolpert.

    Warum erzähle ich dir das alles? Du weißt es ja selbst. Du hast die Wippe schließlich selbst aufgebaut und auch die Reifen darunter vergraben, damit die Kinder nicht so hart aufschlagen. Du, für die keine Arbeit zu schwer ist. Du, die Leichtigkeit in Person.

    Als ich die Treppe zu unserer Wohnung hochgestiegen bin, fiel mir auf, dass die Schuhe der Kinder nicht da sind. Und deine auch nicht. Sie stehen sonst immer in der kleinen Nische rechts vor der Tür. Und darüber hängen die Jacken. Aber auch die waren weg. Ich habe mir nichts weiter dabei gedacht und die Tür leise geöffnet. Ich wollte euch nicht wecken.

    Als ich reinkam, war alles ganz still. Als würdet ihr schlafen. Aber die Türen der Zimmer standen alle offen, und die Betten waren leer. Ich habe eure Namen gerufen, ich dachte, ihr hättet euch vielleicht nur versteckt. Aber ihr wusstet nicht, dass ich komme. Und man kann sich nicht verstecken, wenn man nicht weiß, dass es jemanden gibt, der nach einem sucht.

    Ich habe mir einzureden versucht, dass ihr in der Stadt seid und nach Lebensmitteln ansteht. Aber dafür war es viel zu früh, und als ich in die Küche gekommen bin, war der Tisch noch vom Vorabend gedeckt und das Holz im Ofen heruntergebrannt, und da wurde mir klar, dass ihr schon vor Stunden gegangen sein müsst. Die Stühle waren zurückgezogen. Als hättet ihr euch gerade an den Tisch setzen wollen. Als hätte euch jemand direkt vom Tisch weggeholt …

    Das würde zu den fehlenden Schuhen und Jacken passen!

    Marie, es geht alles durcheinander in mir. Als ich in der Wohnung stand und nach Hinweisen auf euren Verbleib gesucht habe, überkam mich plötzlich die Angst, ich könnte eine Spur hinterlassen. Als wäre nicht ich derjenige, der nach euch sucht, sondern derjenige, nach dem gesucht wird. Aber vielleicht bin ich das ja auch. Dann hätte mich mein Gefühl nicht getäuscht.

    Meine innere Stimme hat mir gesagt, dass ich nichts verändern oder anfassen darf. Mich nicht auf den Stuhl setzen, nichts von dem Brot nehmen, nicht mit der Hand unter das Kopfkissen fahren, über die Bettdecke streichen, sie hochschlagen gar. Alles, was ich durfte und was ich getan habe, war, mit den Augen nach Hinweisen zu suchen. Und trotzdem habe ich eine Spur hinterlassen. Es waren nur ein paar Grashalme. Sie haben an meinen Schuhen geklebt und sind abgefallen, als ich über die Dielen geschlichen bin. Aber das hätte gereicht, um zu erkennen, dass jemand die Wohnung betreten hat. Dass ich in der Wohnung war.

    Ich wusste, dass ich die Spur beseitigen muss. Dass nicht der kleinste Krümel zurückbleiben darf. Dass ich verschwinden muss. Also habe ich das Gras mit den Händen zusammengekehrt und bin auf diese Weise rückwärts aus der Wohnung gekrochen. Ganz langsam und vorsichtig, damit ich auch ja keinen Halm übersehe und kein neuer Dreck von den Schuhen abfällt. Und dabei ist die Angst immer tiefer in mich gedrungen. Angst, jemand könnte hinter mir stehen und nur darauf warten, dass ich meine Arbeit beende.

    Ich habe alle Spuren beseitigt, Marie. Aber es war, als entfernte ich mich damit auch selbst. Als stimmte ich dem, was passiert war, zu. Als beseitigte ich mit meinen Spuren auch mein Recht auf ein Leben mit euch.

    Aber dieses Recht kann mir niemand nehmen. Nur du, Marie, du bist die Einzige, die das kann. Aber du würdest das niemals tun. Du hast all die Jahre zu mir gestanden und mir selbst dann, als ich nicht mehr jeden Tag bei euch sein konnte, das Gefühl einer Familie gegeben.

    Es ist, als müsste ich eine Prüfung bestehen. Nur dass ich nicht weiß, wer sie mir auferlegt hat. Ich weiß nur, dass ihr weg seid und dass ich auf mich allein gestellt bin. Aber vielleicht ist das Teil dieser Prüfung. Dass ich sie vor mir selbst ablegen muss. Dass ich sie nur vor mir selbst ablegen kann.

    Mir ist kurz der Gedanke gekommen, die Insel hier könnte eine Falle sein. Aber wer hätte wissen können, dass ich hier lande? Wer hätte einen Plan aufstellen können, in dem der Zufall die Richtung bestimmt? Dass ich hier sitze, Marie, ist mein Schicksal. Ich wollte nicht, dass es so kommt. Aber ich werde mich fügen. Es wäre zu gefährlich, jetzt blindlings nach vorn zu stürmen und überall nach euch zu suchen. Ich habe nicht all die Jahre Vorsicht walten lassen, um jetzt noch draufzugehen.

    Marie, ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich eure Anwesenheit noch gespürt habe, als ich in die Wohnung gekommen bin, dass eure Seelen noch im Raum standen und nur die Körper entwichen waren. Aber dieses Gefühl hatte ich nicht.

    Ich habe im ganzen Haus nach euch gesucht. Sogar unten, in der Kammer, in der Pfarrer Adam gewohnt hat, bin ich gewesen, und auch in dem Zimmer, in dem Adam den Religionsunterricht gegeben hat. Aber auch da war niemand, und ich wollte schon wieder gehen, als ich auf dem Tisch ein Flugblatt entdeckt habe. Ich habe es nicht angerührt. Ich habe nur einen kurzen Blick drauf geworfen. Ich kannte die Worte. Ich wusste, dass sie mir galten.

    In diesem Moment ist mir endgültig klar geworden, dass es um mich geht. Dass ich es bin, den sie suchen. Und dass sie euch geholt haben, um mich zu bekommen.

    Ich bilde mir das doch nicht alles ein, Marie!

    Für einen Augenblick habe ich mich nicht getraut, mich zu bewegen. Dann bin ich zur Haustür gegangen und habe durch die kleine Scheibe auf den Hof rausgespäht. Aber da war niemand zu sehen. Nur die Schule und auf der anderen Seite des Hofes die Kirche. Und über ihnen der Mond. Als wollte er mir zeigen, dass ich nichts zu befürchten habe. Aber dann habe ich gesehen, dass die Tür der Kirche offen steht. Als wollte jemand, dass ich reingehe. Und ich habe es ja auch getan. Aber in der Kirche war keiner, und hätte der Mond nicht durch die Fenster geschienen, wäre ich auch gleich wieder gegangen. So aber fiel sein Licht ins Innere und strich wie zum Hohn über das Chorgestühl unter der Orgelempore. Es hat fünf Plätze. Einen für jeden von uns.

    Die Stühle waren leer. Als wären wir schon gar nicht mehr da. Als sei ich nur noch in die Kirche gekommen, um Abschied zu nehmen. Von dir und den Kindern. Und auch von mir.

    Ich bin dann in die Sakristei gegangen, aber auch da war niemand, nur der Tisch, auf dem der Pfarrer das Abendmahl vorbereitet – und darauf lag der Rest einer Bombe.

    In diesem Moment habe ich mir gewünscht, dass jemand aus dem Dunkel tritt und mit kalter Stimme meinen Namen ruft. Es hätte sich für mich wie eine Erlösung angefühlt.

    Aber es ist niemand gekommen, und ich wollte nur noch verschwinden. Ich bin durch die kleine Tür hinter den Betstuben raus aus der Kirche. Ich wusste nicht wohin – und in diesem Augenblick habe ich die Insel im Mondlicht gesehen. Wie sie sich vor mir aus der Strömung erhob. Direkt unterhalb des Wehrs. Es war, als würde mir das Schicksal die Richtung weisen. Als habe es die Insel nur für mich aus den Fluten gehoben.

    Und jetzt hocke ich auf ihr, zwischen Brombeerranken und Weidengebüsch, umgeben von altem Laub, Steinen und Dreck, und nichts weiß ich, nichts.

    Nur dass ich zittre und friere. Aber das ist meine eigene Schuld. Ich hätte besser aufpassen müssen …

    Ich habe mich unterhalb der Kirche die Böschung hinabgeschlichen und mich immer wieder umgedreht. Aber da war niemand. Nur der Mond, der hoch über dem Kirchdach stand. Er hatte alles in ein weißgelbes Licht getaucht, und vor meinen Füßen haben die Steine des Wehrs im Wasser geglitzert. Es sah aus, als hätte mir jemand eine Brücke gebaut.

    Im Grunde war es ja auch so. Das Wehr ist mit großen Steinen ausgemauert. Es ist nicht schwer, darauf zu laufen. Zumal nur wenig Wasser darübergeflossen ist. Ich habe nicht gezögert und bin losgegangen, und nur einmal habe ich innegehalten und mich umgedreht, um zu schauen, ob da jemand ist, ob jemand am Ufer steht und mir dabei zusieht, wie mich die Angst übers Wehr treibt. Aber es war keine Menschenseele zu sehen. Also bin ich weiter, bis zur Mitte vom Fluss. Von da aus wollte ich die restlichen Meter zur Insel waten. Das Wasser ist dort nicht tief und die Strömung durch den niedrigen Pegel auch nicht so stark. Ich habe mir trotzdem die Schuhe ausgezogen und die Hose gleich mit. Ich wollte nicht, dass sie nass werden, wenn ich in den Fluss steige. Aber die Steine waren glitschig, und ich habe einen Moment nicht aufgepasst und bin ausgerutscht.

    Ich bin hart aufgeschlagen und das Wehr runtergestürzt, und dabei hat es mir den Koffer aus den Händen gerissen. Ich hatte Glück, dass der Verschluss nicht aufgesprungen ist, sonst wäre der Koffer voll Wasser gelaufen und untergegangen. Wie ein U-Boot, das auf Tauchstation geht. So aber ist er nur ein paar Meter den Fluss hinabgetrieben, und die Strömung hat ihn sacht gegen die Insel gespült.

    Im Koffer ist alles heil geblieben. Sogar das Opernglas hat den Sturz unbeschadet überstanden. Nur meine Uhr ist kaputt. Das Glas ist gesprungen. Es muss passiert sein, als ich auf die Steine geknallt bin. Um Punkt fünf Uhr zweiunddreißig haben die Zeiger aufgehört, sich zu drehen. Seitdem stehen sie still und künden vom Beginn meines Exils.

    Durch den Riss ist Wasser gesickert. Das ganze Ziffernblatt scheint zu schwimmen. Nur die Zeiger hängen fest. Sie sehen aus wie zwei spitzköpfige Aale, die unter Glas gepresst worden sind. Aber sie können nicht weg. Sie sind an ihren Schwänzen zusammengebunden. Jemand hat ihnen einen kleinen Stiftnagel durch die Flossen geschlagen. Sie dürfen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1