Nachträgliche Erinnerungen: Geschichten mit und ohne G.
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Über dieses E-Book
Neben der geschliffenen Ironie, die Reinhard Dinkelmeyers Texte kennzeichnet, klingt zuweilen eine verhaltene Nachdenklichkeit an, aufgefangen und in der Schwebe gehalten von der Leichtigkeit, die dem Autor persönlich und stilistisch zu eigen ist.
Reinhard Dinkelmeyer
Reinhard Dinkelmeyer wurde am 1. Advent 1937 in Rottenbauer bei Würzburg geboren und ging in Nürnberg in die Schule. Nach dem Studium der Germanistik und Altphilologie führte ihn seine Tätigkeit für das Goethe-Institut zwischen 1967 und 2002 nach Khartoum, New Delhi, Nairoobi, Rotterdam, Los Angeles, Mannheim, Kyoto/Osaka und Neapel. Die Nachträglichen Geschichten beziehen sich auf menschliche Begegnungen und Erlebnisse aus diesen Jahrzehnten. Reinhard Dinkelmeyer hat zwei Söhne aus der Ehe mit seiner verstorbenen Frau Gisela und vier Enkelkinder. Heute lebt er in Rom und Berlin.
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Buchvorschau
Nachträgliche Erinnerungen - Reinhard Dinkelmeyer
Inhaltsverzeichnis
Rottenbauer 1945
Neues Gymnasium Nürnberg 1957
Berlin - Mauer 1961
Sudan - Mutwakhail 1969
New Delhi – Der Wahrsager 1973
Nairobi - Okot p‘Bitek 1975
Nairobi - Leo Pardo 1978
Los Angeles - Abraham Issac, ein Bild für Goethe 1989
Los Angeles - DEFA Orchester 1990
Kyoto - Inamoto-san, die Geisha aus Gion 1996
Kyoto - Wilhelmus 1998
Napoli - „Incurabili" 2001
Die Stadt der Engel
Rottenbauer 1945
Mein Beitrag zum Endsieg hat nichts mehr genützt. Im Herbst 1944 wurde ich in der Volksschule in Rottenbauer eingeschult. Bei unserer Klassenlehrerin, Fräulein Gresser, habe ich Grundkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen erworben. Eine klare Erinnerung, wie mir das gelungen ist, habe ich nicht.
Erst später erfuhr man, dass Fräulein Gresser eine begeisterte Nationalsozialistin war. Deshalb ist sie schon bald nach dem Einmarsch der Amerikaner in Rottenbauer zu einem Umschulungslehrgang in ein Lager gebracht worden.
So endete mein erstes Schuljahr vorzeitig.
Aus der kurzen Zeit meiner nationalsozialistischen Indoktrinierung sind mir zwei Details in Erinnerung geblieben, deren Bedeutung ich erst viel später begriffen habe.
Wir mussten damals offenbar ziemlich häufig ein Lied singen, dessen erste Strophe begann mit: „Wir sind dohoitsche (deutsche) Kinder......und haben auch dohoitsches Blut".
Ich habe mir nichts Böses dabei gedacht. Mit meiner Mutter und ihrer Gitarre haben wir zuhause praktisch alle Lieder des „Zupfgeigenhansl" von vorn bis hinten gelernt, ich habe gern und laut gesungen und das mit den deutschen Kindern kam mir nicht verdächtig vor, schließlich waren wir zuhause auch fünf deutsche Kinder, wie das damals bei einer evangelischen Pfarrersfamilie üblich war. Dass es auch Menschen mit englischem, oder französischem Blut geben könnte, kam mir damals nicht in den Sinn.
Erst viel später, nachdem ich einiges dazugelernt hatte, ist mir irgendwann die Melodie dieses Liedes wieder in den Sinn gekommen und ich stellte mit nachträglicher Empörung fest, dass die Nazis dafür die Melodie von „Brüder zur Sonne zur Freiheit" geklaut hatten.
Die zweite Erinnerung an mein erstes Grundschuljahr ist mir auch erst im Rückblick bedeutsam erschienen. Bei schönem Wetter bestellte Fräulein Gresser uns oft auch nachmittags in die Schule und wir machten mit ihr Spaziergänge über die Wiesen und Äcker rund um Rottenbauer. Wir sollten Heilkräuter sammeln für unsere verwundeten Soldaten. Bisher hatten wir in der Schule immer nur von unseren siegreichen Soldaten gehört. Wir lernten vier Kräuter kennen: Schafgarbe, Johanniskraut, Minze und Löwenzahn.
Sie wuchsen damals reichlich auf reinem, deutschem Boden, denn Kunstdünger gab es im letzten Kriegsjahr nicht. Kunsthonig gab es auf Marken.
Ob unsere Heilkräuter wirklich noch einem verwundeten Soldaten geholfen haben, weiss ich nicht.
Dann kamen die Amerikaner. Wir fünf Pfarrerskinder kletterten eilig auf den Kirchturm, dem Pfarrhaus gegenüber. Noch oberhalb der Glocken gab es eine schmale, halsbrecherische Plattform, von dort konnte man den Verlauf der Strasse ein paar Kilometer weit überblicken. Wir sahen zum ersten Mal die Jeeps mit dem Stern auf der Kühlerhaube, dann viele Lastwagen und am Ende noch vier Panzer in einer langen Kolonne auf unser Dorf zukommen. Wir waren sehr aufgeregt, denn die Erwachsenen waren es auch. Aber Angst hatte ich keine. Für mich war das, was da gerade stattfand, ein aufregendes Abenteuer. Meine sechs Jahre ältere Schwester Erika war eher persönlich betroffen. Die Amerikaner hatten sich für die Einnahme von Rottenbauer nämlich ausgerechnet den Palmsonntag ausgesucht, an dem sie konfirmiert werden sollte.
Aufgrund der Lage musste der Palmsonntagsgottesdient samt Konfirmation abgeblasen werden. Das fanden wir aus zwei recht weltlichen Gründen sehr bedauerlich: Trotz der schlechten Zeiten war es meiner Mutter gelungen, für das Festessen eine Gans zu ergattern, die im Ofenrohr schon recht vielversprechend vor sich hin brutzelte, außerdem standen im Klavierzimmer mindestens vier Kuchen bereit, die äußerst verführerisch durch das ganze Haus dufteten. Leider haben die Amerikaner nach einem kurzen Rundgang beschlossen, unser Pfarrhaus mitten im Dorf am Kirchplatz vorübergehend als Hauptquartier zu benutzen. Schuld war wohl der verführerische Geruch von Gans und Kuchen. Wir mussten binnen 15 Minuten das Haus verlassen und konnten vom gegenüber liegenden Schulhaus, wo wir kurzfristig unterkamen, zusehen, wie die hungrigen US Krieger mit gebratenen Gansschlegeln in der Hand vor der Pfarrhaustüre das Dorf betrachteten. Diese Episode wurde natürlich in der Familie tausendmal erzählt, bis allen das Wasser im Munde zusammenlief.
Wirklich unvergesslich ist mir eine kurze Szene von diesem ereignisreichen Tag in Erinnerung geblieben, deren Symbolwert mir auch erst in meinen nachträglichen Erinnerungen klar wurde.
Während der ansonsten ganz friedlich verlaufenen Einnahme von Rottenbauer muss irgendwo im Dorf ein Schuss gefallen sein. Wie man später erfuhr, hatten sich drei versprengte Volkssturmmänner in einem Keller versteckt, es müssen die ungeschicktesten Volksstürmer des Reiches gewesen sein. Sie hatten sich weder von ihrer Uniform, noch von ihren Gewehren rechtzeitig getrennt. Offenbar hat einer von ihnen, aufgeregt und verängstigt wie er war, an seinem Gewehr herumhantiert und aus Versehen einen Schuss abgegeben, der zum Glück keinen Schaden anrichtete. Man machte die drei Männer schnell dingfest und brachte sie zum Kirchplatz. Dort mussten sie mit erhobenen Händen an der Kirchhofmauer stehen. Die GI‘s hatten ihnen die Gewehre abgenommen und zertrümmerten die alten Schießprügel Stück für Stück an der Ecke der Kirchhofmauer. Es war ein wortlos überzeugendes Bild für einen Sechsjährigen: Sieger und Besiegte, vor meinen Augen an der Kirchhofmauer.