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Der Honigkrug
Der Honigkrug
Der Honigkrug
eBook248 Seiten3 Stunden

Der Honigkrug

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Über dieses E-Book

Ein weiterer Fall für den norwegischen Hobbydetektiv Fredric Drum, den seine Liebe zum Wein dieses Mal nach Frankreich verschlagen hat: Eigentlich wollte der Osloer Feinschmecker und Weinconnaisseur ja nur die edlen Tropfen in Saint-Émilion nahe Bordeaux genießen. Doch ehe er so richtig in die Genusswelt abtauchen kann, erfährt er von den sieben Menschen, die aus dem bekannten Winzerdorf innerhalb von zwei Monaten jeweils nachts verschwanden. Als dann auch noch ein Mordanschlag auf ihn verübt wird, ist er schon wieder mitten drin in den Ermittlungen.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum8. März 2021
ISBN9788726791860
Der Honigkrug

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    Buchvorschau

    Der Honigkrug - Gert Nygårdshaug

    Gert Nygårdshaug

    Der Honigkrug

    Aus dem Norwegischen von

    Andrea Dobrowolski

    Saga

    Der Honigkrug

    Übersezt von

    Coverbild/Illustration: Shutterstock

    Copyright © 1985, 2021 Gert Nygårdshaug und SAGA Egmont

    Alle Rechte vorbehalten

    ISBN: 9788726791860

    1. E-Book-Ausgabe

    Format: EPUB 3.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

    www.sagaegmont.com

    Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

    1.

    Fredric Drum fällt und kriecht, vergreift sich aber dann doch an einer Flasche Château Cheval Blanc 1961

    Da stimmte etwas ganz und gar nicht. Das Unterholz wurde immer dichter, er watete bis zu den Knien im Farnkraut. Der Pfad, er musste den Pfad wiederfinden.

    Plötzlich erblickte er etwas Gelbes, das links von ihm an einem Ast hing und hin und her baumelte. Ein Stofffetzen? Neugierig bahnte Fredric sich einen Weg durch das Gebüsch auf dieses auffallende gelbe Ding zu.

    Da verschwand der Boden unter seinen Füßen.

    Er fiel einfach durch das Farnkraut hindurch, hinab in ein Loch, und spürte einen gewaltigen Druck gegen die Brust. Er saß völlig fest in einem tunnelförmigen Spalt, unter ihm war nur Leere. Er musste da in der Öffnung zu einem unterirdischen Raum hängen, einer Höhle, einem Abgrund. Sein Kopf ragte gerade noch über den Boden, einige Farnwedel kitzelten ihn im Gesicht, und er nieste.

    Durch das Niesen rutschte er noch ein Stück tiefer. Es gelang ihm, einen Arm über den Kopf zu zerren, er versuchte, sich an etwas festzuhalten, fand aber nichts. Er riss einige Farnbüschel mit den Wurzeln aus, wand sich, aber jede Bewegung führte nur dazu, dass er immer tiefer versank, Millimeter für Millimeter.

    Eine Zeit lang hing er ganz bewegungslos. Er hörte sein Herz schneller und schneller schlagen, spürte, wie der Druck gegen die Brust immer stärker wurde. Sein Mund war trocken. Er leckte einige Schweißtropfen auf. Es fehlte nicht mehr viel zu einer Panikattacke. Er öffnete den Mund, um zu rufen, aber es kam nur ein Keuchen und Stöhnen dabei heraus.

    Hier im Wald zu rufen würde sowieso nichts nützen, denn er hatte auf der Wanderung keine Menschenseele gesehen. Niemand würde ihn hören.

    Er zappelte etwas mit den Beinen, aber da war nur leerer Raum, der ihn von unten anzusaugen schien, gnadenlos abwärts. Wie tief war dieses Loch, wie weit war es bis zum Grund? Es konnte sehr, sehr tief sein.

    Millimeter für Millimeter. Mit jedem Atemzug glitt er ein Stück tiefer nach unten. Wenn er den Atem anhielt und den Brustkorb anspannte, passierte nichts, aber er konnte ihn nicht lange anhalten. Jetzt ist alles aus, Fredric Drum, du fällst in einen bodenlosen Schacht in Südfrankreich, in der Gironde, weit von zu Hause entfernt, und stürzt dich zu Tode! Niemand wird dich finden, dachte er, du wirst für immer verschwinden. Im wahrsten Sinne des Wortes vom Erdboden verschluckt. Er presste sein Kinn gegen den moosbewachsenen, rutschigen Fels und versuchte verzweifelt, sich hochzustemmen. Dann schloss er die Augen und hielt den Atem an.

    Die Trommelfelle pochten, es fühlte sich so an, als ob das Blut durch seinen Kopf schäumte, und er hörte einen Wirrwarr von Stimmen. Französisch und Norwegisch, Norwegisch und Französisch, durcheinander. Er hörte die Stimme seines Freundes Tob, Torbjørn Tinderdal, der sagte: »Geräucherte Auerhahnbrust mit feingehackter Leber in Cognacsauce. Eine Flasche Château Talbot, Fredric, was hältst du davon?« Er hörte seine Freundin Maya Manuella sagen: »Der Médoc, Fredric, der Médoc ist die allerbeste Weinregion. Denk doch mal an die Städtchen Margaux, Paulliac und St. Estèphe. Alle auf der Médoc-Halbinsel.« Er hörte ein Dutzend Weinhändler und Château-Besitzer, die im Chor riefen:

    »Petite dégustation, ausgezeichneter Wein, der beste von St. Emilion, Grand Cru, Grand Cru Classé, Premier Grand Cru Classé, probieren Sie meinen, probieren Sie diesen Jahrgang!«

    Millimeter für Millimeter. Jetzt schrammte sein Kinn über einen rauen Stein, und er versuchte zu atmen, ohne den Brustkorb zu bewegen. Er verrenkte den Kopf nach hinten, sah die Farnwedel, die in der leichten Brise vibrierten, sah einen Baumstamm, dessen Rinde sich in großen Fetzen ablöste. Er sah Äste und Blätter, rote, grüne und gelbe. Salzige Schweißtropfen liefen ihm in die Augen, und das brannte. Wenn er doch nur einen Halt für seine Füße finden könnte, wenn das Loch unter ihm doch bloß nur einen Meter tief wäre!

    War das die Art, wie er sterben sollte? Sollte Fredric Drum, der von vielen »der Pilger« genannt wurde, sein Leben so beenden? Vom Erdboden verschluckt, endgültig und für immer verschwunden. Viele würden suchen, aber niemand würde finden.

    Sein Hemd wurde ihm vom Leib gekratzt, die Reste hatten sich in seine Schultern und seinen Hals eingeschnitten. Der glatte, etwas unregelmäßige Kalkstein ritzte ihn an mehreren Stellen in die Brust und den Rücken. Er riss ihm die Haut auf, während er gnadenlos immer tiefer versank. Bald würde er durchgerutscht sein, bald würde er in das bodenlose Dunkel fallen und auf scharfen Steinen zerschmettert werden. Sein ganzer Unterkörper vom Bauch abwärts hing jetzt frei. Verzweifelt suchte er nach einem Halt für seine Füße, aber er fand nur Luft. Seine beiden Arme waren in einer unmöglichen Stellung verkeilt, er konnte sie nicht bewegen, nur die Position des Kopfes ließ sich noch verändern, und er schlug seinen Oberkiefer in den Fels. Konnte er sich vielleicht festbeißen? Seine Zähne schrappten mit einem hässlichen Geräusch über den Stein, das Zahnfleisch blutete, er hatte keine Kraft mehr.

    Hatte das Rutschen aufgehört? Glitt er nicht mehr weiter nach unten? Einige Sekunden oder Minuten lang hatte er die Augen geschlossen, und er spürte, dass er ganz ruhig hing. Er atmete vorsichtig. Er lauschte. In der Ferne hörte er einen Hund bellen. Ein Zweig knackte nicht weit entfernt mit einem scharfen Geräusch. Ein Zweig knackte! Kam da jemand? War jemand in der Nähe? Ein heiserer Ruf presste sich über Fredrics Lippen, und als seine Lungen sich entleert hatten, fiel er.

    Das weiße Meereslicht der Médoc-Region weit im Nordwesten von St. Emilion blendete Fredric Drum, als er auf dem mittelalterlichen Marktplatz von St. Emilion saß. Das schöne, kleine Dörfchen auf der Anhöhe nördlich des Flusses Dordogne war das Mekka der Weinkenner. St. Emilion. Der bloße Name hatte alle Zutaten eines guten Weins in sich: weiche Vokale, die durch den Mund rollten und darin wuchsen. Ein langer Nachgeschmack, Nachklang.

    Seit vier Tagen war er jetzt hier. Er wollte guten Wein für das kleine Restaurant kaufen, das sie zu Hause in Norwegen besaßen: die »Kasserolle«. »Die KASSEROLLE, exklusives Restaurant mit intimer Atmosphäre. Nur sechs Tische. Gourmet-Menü. Nur telefonische Vorbestellung.« So hatte es in der Eröffnungsannonce gestanden. Diese sechs Tische waren fast jeden Abend besetzt. Es lief gut, richtig gut.

    St. Emilion. Es war ihm gelungen, mit mehreren Weinhändlern Bekanntschaft zu schließen, kleinen propriétaires und stolzen maîtres de chai, den Wächtern über die Reifung und die Lagerung des Weins. Heute saß er mitten unter ihnen, an den Tischchen rund um die große Eiche mitten auf dem Marktplatz. Das Herbstlicht aus Nordwest war stark, aber wohltuend.

    Diskussionen über die Tische hinweg. Arme, die fuchtelten, gestikulierten. Laute Stimmen. Ernsthafte Gespräche. Es wurde nicht über Wein diskutiert. Und auch nicht über Fußball. Nicht über Politik. Eine tiefe Tragödie hatte das schöne Weinstädtchen St. Emilion in ihren Bann geschlagen.

    Ein unfassbares Mysterium.

    Im Laufe von August und September waren sieben Menschen spurlos verschwunden. Sieben Menschen im Alter zwischen neun und dreiundsechzig Jahren. Alle stammten aus St. Emilion oder der umliegenden Region.

    Der Turm der mittelalterlichen Kirche warf einen langen und düsteren Schatten über den Marktplatz.

    Er rang mit etwas Dunklem. Es war so dunkel um ihn. Und hart. War es nicht hell in St. Emilion? Der Marktplatz, der weiße Marktplatz. Saß er nicht eigentlich gerade dort? Träumte er jetzt? Dann musste er aber wirklich zusehen, dass er aufwachte! Der Marktplatz von St. Emilion; all die Tischchen, Weinkenner, Château-Besitzer und er. In einem Gespräch über Wein? Nein, nicht über Wein, über etwas anderes, etwas Trauriges. Halt, hier stimmte etwas nicht, es war so dunkel hier, so hart, steinig, schmerzhaft! Er hatte Schmerzen, in der Brust, der Hüfte, im Gesicht. Jemand hatte gesagt, dass es einen Pfad durch den Wald hinter dem Château Frigeac zum Château Cheval Blanc gebe; eine Abkürzung, einen sehr guten Pfad. Er hatte eine Verabredung mit dem maître de chai im Château Cheval Blanc. Eine Weinprobe. Du träumst, Fredric, es ist doch hell auf dem Marktplatz von St. Emilion!

    Jetzt war er ganz wach und dachte wieder klar. Er war gefallen. In ein Loch in der Erde gefallen. Er war nicht tot. Wahrscheinlich verkrüppelt, aber nicht tot. Er war bewusstlos gewesen. Jetzt lag er da und starrte zu einem Lichtspalt hoch, der weit über ihm lag. Wie weit? Der Sturz musste zu schweren Verletzungen geführt haben. Wagte er es, diesen nachzuspüren?

    Er wagte es. Volle Beweglichkeit aller Glieder. Nicht schlecht. Kein Knochenbruch? Kein Knochenbruch. Innere Verletzungen? Er räusperte sich und spuckte, schmeckte aber kein Blut. Trotzdem hatte er starke Schmerzen in Hüfte, Brust und Kopf.

    Er lag auf einem Haufen von Ästen und verwelktem Laub. Wie ein richtiger Heuhaufen. Durch den war auch sein Sturz gedämpft worden. Um ihn herum tropfte es: Plopp, plopp.

    Mühsam setzte er sich auf, und erstaunlicherweise nahmen seine Kopfschmerzen ab. Die Hüfte war schlimmer dran, sie war wund und steif. Aber er konnte hocherfreut feststellen, dass er lebte und auch nicht verkrüppelt war. Aber er war tief, tief ins Dunkel gefallen.

    Irgendetwas passte hier nicht zusammen, er verstand es nicht, aber es schwirrte ihm im Kopf herum: Waren die anderen sieben Menschen in den letzten Monaten auch auf diese Weise verschwunden? Waren sie einfach wie er in Erdspalten gefallen? Das konnte nicht sein, sie waren alle aus dieser Gegend und kannten sich mit all diesen merkwürdigen unterirdischen Grotten aus. Denn St. Emilion war noch für etwas anderes als seinen Wein berühmt: Unzählige sogenannte monolithische Grotten durchzogen kreuz und quer das Gelände, fast jedes Château hatte seine eigene Grotte, wo der Wein gelagert wurde.

    Verschwunden. Sieben Menschen. Und jetzt auch noch ein Norweger.

    Er stand auf und stieß sich den Kopf an einem Vorsprung. Funken sprühten vor seinen Augen, aber er konnte sich aufrecht halten. Finster, es war fast stockfinster um ihn herum. Das Licht von dem kleinen Spalt über ihm konnte nicht bis zum Grund, auf dem er sich befand, durchdringen. Sieben, acht Meter mussten es bis dort oben sein. Er tastete sich an den Wänden entlang. Gab es einen Weg nach draußen, nach oben? Es war kein Lichtschimmer von irgendwo anders als von dem kleinen Spalt zu sehen.

    Er stolperte über Zweige und rutschte auf nassen Steinen aus. Er trat gegen etwas, das hohl klang und davonrollte. Hohl? Ein hohler Stein? Ein hässlicher Verdacht beschlich Fredric, und er bekam eine Gänsehaut. Er ging auf die Knie und tastete herum. Da, da war das, was er weggetreten hatte. Einige Sekunden hielt er es in der Hand, bis er es fallen ließ, als ob er sich daran verbrannt hätte.

    Es war ein Schädel, ein Menschenkopf. Er war also nicht der Erste. Ein lang gezogenes, schmerzerfülltes Heulen brach aus Fredric Drums Brust hervor.

    »Nein, fahr in den Médoc. Nach Margaux oder St. Julien. Da gibt es vielleicht auch besseren Wein«, beharrte Maya Manuella in ihrem mit starkem Akzent gesprochenen Norwegisch.

    »Es hat keinen Zweck, mit mir darüber zu reden«, antwortete Fredric. »Ich habe mich für St. Emilion entschieden. Das liegt nicht nur an dem Wein. Dort soll es so schön sein. Ein mittelalterliches Dorf. Nächstes Mal bist du ja an der Reihe, Maya, und dann kannst du ja in den Médoc fahren. Dann hast du mal eine Abwechslung von all deinen Madeira-Reisen.«

    Maya Manuella Gardilleiro stammte von Madeira, aus einem kleinen Walfängerdorf, das Canical hieß. Dort wohnten ihre Mutter und ihr Bruder, erzählte sie. Der Vater lebte in Norwegen, aber sie hatte keinen Kontakt zu ihm. Fredric und Tob fragten sie nie nach dem Grund. Offensichtlich gab es feindliche Lager in der Familie. Maya war schon seit vielen Jahren in Norwegen und sprach recht gut Norwegisch.

    Sie hatten ausgelost, wer die erste Weinreise machen würde, und Fredric hatte gewonnen. Einmal im Jahr wollten sie in die Weinregionen fahren, um Wein für ihr kleines Restaurant zu probieren und zu kaufen. Natürlich über das staatliche Weinmonopol. Sie waren sich einig, dass zu gutem Essen auch guter Wein gehörte. Ganz besonders guter Wein.

    »Ich finde das dumm, das wirst du bereuen«, sagte Maya und trank einen kleinen Schluck Wein. Alle drei, Tob, Maya und Fredric, saßen an ihrem privaten Tischchen in der »Kasserolle«. Sie hatten die schöne Angewohnheit, eine halbe Flasche guten Wein zu teilen, wenn alle Gäste gegangen waren.

    »Fredric entscheidet selbst«, beendete Tob die Diskussion und putzte die runden Gläser seiner Apothekerbrille. »Und warum auch nicht St. Emilion? Einer meiner Lieblingsweine kommt von dort, Château Pavie.«

    Er hätte auf Maya Manuella hören sollen. Er hätte den Médoc wählen sollen. Aber wer hätte ahnen können, dass so etwas passieren würde.

    Fredric Drum lehnte sich gegen einen feuchten Stein und blinzelte zur Decke und dem Spalt weit da oben. Dann murmelte er etwas vor sich hin und zog einen Gegenstand aus der Tasche; einen Gegenstand, den er überall mit sich trug, egal, wo auf der Welt er war. Es war ein Kristall. Geformt wie ein fünfzackiger Stern, so groß wie ein Fünfkronenstück, aber viel dicker, vielleicht einen Zentimeter. Eine Spezialanfertigung des Hadeland-Glaswerks nach einer Idee, die er vor einigen Jahren gehabt hatte, nachdem er ein Buch über die mystischen Eigenschaften und die Bedeutungsgeschichte der Kristalle gelesen hatte. Abergläubisch war Fredric Drum durchaus nicht, aber es war eine Tatsache, dass dieser fünfzackige Kristallstern mit ihm kommunizieren konnte. Irgendwie. Er musste nur die Farben deuten, die durch die fünf Prismen der Zacken gebrochen wurden.

    Er hielt den Kristallstern hoch über seinen Kopf. Er leuchtete in schwachem Gelb; eine unbedeutende Farbe.

    Jetzt unternahm Fredric eine Reihe merkwürdige Manöver: Indem er in der Grotte herumkroch, hielt er immer wieder den Kristallstern dicht vor sein rechtes Auge, während er das linke schloss. Er murmelte vor sich hin, sprach mit sich selbst:

    »Gelb – fast weiß, ein bisschen blau? Nein, vielleicht hier – wieder gelb – gelb – verdammt! Hier, hier ein bisschen rot? Leicht rötlich – ja tatsächlich, leicht rötlich – näher an dieser Wand – vorsichtig mit dem Kopf – kräftiger rot – ja, genau, genau – rot, richtiges Rot! Da, ruhig, ruhig jetzt.«

    Er lag jetzt unten am Boden der Grotte an die Wand gedrückt, tastete mit den Händen die unregelmäßige Kalksteinwand ab, drückte und klopfte mit den Knöcheln. Und plötzlich löste sich ein größerer Stein und fiel aus der Wand. Ein kleiner Erdrutsch aus Steinchen und Sand löste sich.

    »Voilà!«, rief er aus, nieste und rieb sich den Sandstaub aus den Augen.

    Ein schwerer, muffiger Geruch drang aus dem Loch in der Wand. Denn ein Loch war daraus geworden, ein richtiges Loch, und es führte weiter nach innen. Fredric steckte den Kristallstern in seine Tasche und kroch in das Loch. Es war eng, unangenehm eng, aber er schlängelte sich vorwärts, Meter für Meter. Nach einiger Zeit weitete sich der Tunnel, und er konnte ein gutes Stück krabbeln. Aber dann wurde er wieder schmaler und schließlich sehr eng. Fredric verschnaufte einen Augenblick.

    Wo führte das hin? Hinab ins Innere der Erde? Folgte er einem uralten Lavatunnel? Konnte er sich Erlebnisse wie Ludvig Holbergs Untergrundreisender Niels Klim erhoffen?

    Er kroch weiter und hatte das Gefühl, dass der Tunnel immer schmaler wurde. An manchen Stellen war es so eng, dass es ihm nur mit Mühe gelang, sich hindurchzupressen. Mehrmals war er auf der Kippe zu einem schweren Klaustrophobieanfall. Es war warm, er schwitzte und fühlte sich ziemlich erschöpft. Weiter, weiter! Er zwang sich dazu, an angenehme Dinge zu denken; an die »Kasserolle«, das beste und kleinste Restaurant Oslos, mit einer Speisekarte, die in Nordeuropa ihresgleichen suchte. Bald würde er dort wieder mit seinen beiden Freunden und Mitbesitzern, Tob und Maya Manuella, zusammensitzen, er würde von seiner Weinreise nach St. Emilion berichten, sie würden an einem guten Wein nippen und mit der Gästezahl des Abends zufrieden sein! Sie würden das Menü des nächsten Abends planen: vielleicht dünne, knusprig gebratene Rentiernierenscheiben, mariniert in Cognac, serviert mit Mandelkartoffelbrei, abgeschmeckt mit etwas Dijon-Senf?

    Denk nach, Fredric, denk nach!

    Der Tunnel fing an, sich dramatisch nach vorne zu neigen, an manchen Stellen fast senkrecht. Fredric glitt mit dem Kopf voran weiter, und es wurde ihm klar, dass es unmöglich sein würde, sich wieder zurückzubewegen. Wenn sich der Tunnel nur bald ein bisschen weiten würde! Wenn er sich bloß nicht noch mehr verengte. Er krallte sich vorwärts, Stück für Stück.

    Denk, denk an etwas ganz anderes! Kriech, Fredric, kriech!

    Wie weit war er schon gekrochen? Hundert Meter, fünfhundert, einen ganzen Kilometer? Welche Tageszeit war jetzt, wie lange war er schon unterwegs? Würde dieser Albtraum nicht bald enden? Seine Kräfte würden nicht mehr lange reichen.

    Er stieß gegen einen Stein – zum hundertsten Mal? – und blieb still liegen. Es war so eng, eng, enger, am engsten. Keine Luft mehr. Jetzt erstickst du, Fredric!

    Er hakte sich mit den Händen vor seinem Kopf ein, stieß sich mit den Füßen ab, zog sich einige Meter vorwärts. Müsste es nicht bald mal wieder aufwärtsgehen?

    Rote Punkte tanzten vor ihm in der Dunkelheit, direkt vor seinen Augen, ein Schwarm roter Insekten in seinem Kopf, sie tanzten, flimmerten, stachen. Er lag ganz still und spürte, wie tausend Tonnen Fels sich in seinen Rücken pressten.

    Die farbenfrohen Gebäude um den Marktplatz herum. Charcuterie, Boucherie, Boulangerie. Und heute waren so viele auf dem Platz versammelt, an den Tischchen unter der Eiche, vin de maison, kleine Becher. Und alle redeten und diskutierten. Drei Tage war der siebzehnjährige Jean-Marie Lascombe jetzt schon verschwunden. Jean-Marie, Lehrling im Château Beauséjour Bécot. Er hatte Ampelographie, Rebsortenkunde, studiert. Er wohnte bei seinen Eltern in St. Emilion. Aber vor drei Tagen war er abends nicht wie üblich gegen acht nach Hause gekommen. Keiner seiner Freunde hatte ihn gesehen. Der

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