Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Hadeskinder: Ein Korfu-Krimi
Hadeskinder: Ein Korfu-Krimi
Hadeskinder: Ein Korfu-Krimi
eBook604 Seiten7 Stunden

Hadeskinder: Ein Korfu-Krimi

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

In der Burgruine Angelokastro wird der Leichnam eines Jungen gefunden. Sein Körper in einer bizarren Stellung. Ein ungewöhnlicher Fall für das Ermittler-Duo Stelios Angelis und Stefania Stefanidou, die innerhalb der korfiotischen Polizei eine Einheit für Kapitalverbrechen bilden. Ihre Untersuchungen bringen frühere Todesfälle ans Licht, darunter eine ähnliche Mordinszenierung in München, Ende der 1980er Jahre. Haben es die jungen Beamten hier tatsächlich mit ein und demselben Täter zu tun, der unerkannt über Jahrzehnte hinweg an weit auseinanderliegenden Orten extravagante Morde begeht? Bevor das Puzzlespiel für die Ermittler überhaupt beginnen kann, sorgt eine neue Leiche für noch mehr Verwirrungen. Und eine mysteriöse Figur ist Zeuge des Geschehens: "Ich habe mich zu den Gaffern gesellt ... hinter ein paar großgewachsenen Jugendlichen in Sportkleidung, die eifrig über das spekulieren, was sie in der Ruine vermuten ... weit genug, um sich vor den Augen der Polizisten zu verstecken. Ich genieße diese Perspektive. Das Verborgene ... Oh ja, ich habe ein Recht darauf, es zu genießen. Nur für wenige Augenblicke, bevor ich … Doch das kann warten. Alles hat Zeit. Ich lasse mir diese Zeit. Ich kann es mir leisten. Ich darf das ..."

Ronnith Neuman, die mit ihrem Ehemann seit Jahrzehnten auf Korfu lebt, kennt sich bestens mit den Gegebenheiten der Insel aus. Ihr Korfu-Krimi ist eine Ode an ihre Wahlheimat im ionischen Meer und die Handlung eine Hymne an die griechische Mythologie. Dieser erste Fall ist der Auftakt zur Korfu-Krimi-Reihe beim Größenwahn Verlag. Ein spannender Griechenland-Urlaubskrimi mit unerwartetem Finale.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum5. Apr. 2018
ISBN9783957712134
Hadeskinder: Ein Korfu-Krimi

Ähnlich wie Hadeskinder

Ähnliche E-Books

Polizeiverfahren für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Hadeskinder

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Hadeskinder - Ronnith Neuman

    Prolog

    München, März 1988

    Er konnte kaum glauben, dass er entkommen war.

    Nun stand er inmitten dieser fremden Stadt, auf einem mittelalterlich anmutenden Platz, der sich Viktualienmarkt nannte, und konnte sich nicht sattsehen an all der Heiterkeit, die sogar in dem trüben Licht hell und farbenfroh schillerte. Trotz des Nieselregens reihten sich Verkaufsstände aller Art dicht aneinander, belagert von Menschen aller Hautfarben und Nationalitäten. Händler, die lauthals ihre Waren anpriesen, gewagt dekolletierte Dirndl und stramme Lederhosen. Miniröcke, schrille Frisuren, Visagen, die offenbar einer Farbpalette entwachsen waren. Allerorts schier unüberschaubare Gruppen von Asiaten, die, das festgefrorene Lächeln wie ein Markenzeichen ins Gesicht gepflanzt, alles fotografierten. Er staunte über das Ausmaß an Sorglosigkeit, über die Ausgelassenheit, die ihn wie ein Moloch in sich einsog und zugleich ausgrenzte.

    Er zog den Gürtel seines neuen Trenchcoats enger und biss in eine riesige Bretzel, die er für ein paar Deutsche Mark erstanden hatte. Noch immer war er erfüllt von jener nebulösen Wolke, die vor nicht allzu langer Zeit die selbstzerstörerische Traurigkeit abgelöst hatte, und die nun nichts anderes zuließ als dumpfe Gleichgültigkeit. Das Wort Gewissen machte ihm keine Angst mehr. Gewissen war ein schwammiges, nicht greifbares Etwas, das jenseits seines Denkvermögens lag. In seiner Seele - wenn sie denn überhaupt existierte – fühlte er nur noch Eiseskälte. Die Kälte war gleichermaßen Schutz und Antrieb. Das Fehlen jeglichen Gefühls war zu seiner Stärke geworden. Anstelle von Empathie war eine Form von Dominanz getreten. 

    So war es. So sollte es bleiben. Für alle Zeiten.

    Eine andere Form des Seins war für ihn nicht mehr vorstellbar. 

    Während um ihn her das tobte, was andere als das wahre Leben bezeichneten, schmiedete er bereits die ersten Pläne.

    Er hatte nicht vor, lange mit seinem Vorhaben zu warten. Er wusste, es musste geschehen. Es war unaufhaltsam. Es war die Eintrittskarte zu seinem neuen Leben. Die Weichen hatte er bereits vor langer Zeit gestellt.

    Er hatte hart gekämpft für dieses neue Leben. Warum also sollte er es hinauszögern? Er brauchte einen Anfang. Einen spek-takulären Auftakt.

    Es war Zeit, die Kontrolle zu übernehmen. 

    Sie mussten seine Macht spüren. 

    Um zu überleben brauchte er ihre Angst.

    1

    Korfu, September 2012

    Stefania Stefanidou stülpte die Überzieher über ihre Schuhe, schlüpfte in ihre kühlen Nitrilhandschuhe und betrat hinter Stelios Angelis die Ruine von Angelokastro. Sie musste unwillkürlich den Atem anhalten, und auch jetzt, nachdem sie das Geschehen grob erfasst hatte, entwich die Luft nur sehr langsam aus ihren Lungen. In dem jahrhundertealten verwitterten Gemäuer an der Nordwestspitze der Insel wirkten sie beide wie riesige Schatten, die sich über die kleine Gestalt beugten, die rücklings langgetreckt, mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem lehmigen Steinboden lag.

    Durch ein hohes schmales Seitenfenster brach auf einmal morgendlich frühe Septembersonne. In dem scharfen Lichtstrahl tanzten Staubpartikel und verstärkten auf vielleicht barmherzige Weise das Unwirkliche der Szenerie. Stefania machte einen unachtsamen Schritt nach vorn und prallte gegen Stelios, der im selben Moment zurückwich. Stelios fuhr erschrocken zusammen, Stefania drückte ihre Hand sanft gegen sein Schulterblatt. Die Zeit schien still zu stehen, während sie schweigend auf das hinunter starrten, was da vor ihnen am Boden lag.

    »Mein Gott, was für ein Alptraum …«, flüsterte Stelios.

    Ich wollte, es wäre einer, dachte Stefania. Nur ein Alptraum. Ich wollte, ich könnte hinaus spazieren, ins Meer springen, mich auf Wellenkämmen davontragen lassen und mich danach zuhause auf meiner Veranda einer Selbstgedrehten und einem süffigen, schweren Wein hingeben, der dieses Bild in meinem Hirn auslöscht. Doch das Bild verspottete ihre Gedanken. Es hinterließ in Stefania ein Echo, das sie verstummen ließ.

    Wie alt mochte der Junge sein? Zwölf, dreizehn? Höchstens vierzehn. Nicht älter. In keinem Fall älter.

    »Er ist doch noch ein Kind … Warum ein Kind?«

    Warum ein Kind … Stelios‘ Flüstern hallte in ihrem Innern wider. Es war eine Frage, auf die es keine Antwort gab. Niemals geben würde. 

    Und so schwieg Stefania. 

    Sie beneidete den Polizeifotografen, der mit seiner Digitalkamera langsam um den Leichnam herumging. Das kühle, glatte Gehäuse gab ihm Schutz, wenngleich einen zweifelhaften Schutz. Sachlichkeit der Technik als Schutzwall vor dem unfassbaren Grauen. Von Kriegsberichterstattern wusste Stefania, dass nicht wenige Fotografen ihren Zorn und ihre Ohnmacht angesichts der unnennbaren Grausamkeiten, die sie für die ahnungslose Außenwelt festhalten mussten, hinter dem kalten, gefühllosen Kameraauge versteckten. 

    Darauf bedacht, die Arbeit des Gerichtsmediziners und des Polizeifotografen nicht zu stören, schritt sie langsam um den toten Jungen herum. Es war nur eine vage Erinnerung. Erinnerungsfetzen, die nicht weichen wollten. Dabei war es nicht nur der von oben einfallende Lichtstrahl, der den Raum zerschnitt. Nein, da war noch etwas anderes. Etwas, das das Bild zerriss, ihm zugleich transparente Einheit verlieh. 

    Stefania zog den Kopf ein und trat durch den niedrigen Ausgang der Ruine ins Freie. Sie kniff die Augenlider zusammen und spähte hinüber zur anderen Seite. Vielleicht stand er dort drüben. Hinter den Büschen. Jenseits der Mauerreste. Das Ungeheuer, dem sie das Schreckensszenario, diesen Alptraum da drinnen verdankten. Vielleicht stand er hinter der polizeilichen Absperrung, zwischen den Gaffern, die in den frühen Morgenstunden nach ihrem Aufstieg zur Ruine von Angelokastro anstelle der erwarteten Aussicht etwas völlig anderes geboten bekamen. 

    Vielleicht steht dieses Ungeheuer dort drüben. 

    Schaut zu uns herüber. Beobachtet uns …

    *

    Ich habe mich zu den Gaffern gesellt. Ein wenig abseits, zwischen die Büsche, hinter ein paar großgewachsene Jugendliche in Sportkleidung, die eifrig über das spekulieren, was sie in der Ruine vermuten. Zu dieser frühen Stunde gibt es nicht viele Gaffer, dennoch genug, um sich vor den Augen der Polizisten zu verstecken. Ich genieße diese Perspektive. Das Verborgene. Verbotene. Es bietet sich mir nicht jeden Tag. Oh ja, ich habe ein Recht darauf, es zu genießen. Nur für wenige Augenblicke, bevor ich …

    Doch das kann warten. Hat noch ein wenig Zeit. Alles hat Zeit. Jetzt. Ich lasse mir diese Zeit. Ich kann es mir leisten. Ich darf das. 

    Zeit …

    Dieser unsinnige Begriff! Diese Leerformel! Manche Wissenschaftler behaupten, es gäbe sie gar nicht. Sie existiere einfach nicht - die Zeit. Betrachten wir zum Beispiel die Tiere. Sie kennen keine Zeit. Hunde besitzen keinerlei Vorstellung von Zeit. Sie spüren nicht, ob eine Minute vergeht oder eine Stunde. Sie leben im Glückszustand des Augenblicks. 

    Verstehen Sie, was ich meine?

    Ich jedenfalls habe Zeit. 

    Wie immer danach habe ich unendlich viel Zeit.

    Erstaunlich, wie einfach es wieder war. Wie üblich hatte ich den Jungen zuvor beobachtet. Ich hatte seine Gewohnheiten studiert, seine Vorlieben, alles, was das sichtbare Leben eines Menschen ausmacht. Währenddessen hatte ich dreimal meine Verkleidungen gewechselt. 

    Oh ja, ich bin ein Meister der Verkleidung!

    Bei der Auswahl der Verkleidungen lege ich Wert darauf, dass ein Detail ins Auge springt. Eine hässliche Narbe, ein besonders geformter Bart, eine Mütze oder ein Hut, eine auffallende Brille. Etwaige Zeugen werden sich später immer nur an dieses eine Detail erinnern. Alles andere wird in ihrer Erinnerung verblassen. Sie werden lediglich diese eine, ins Auge springende Beobachtung beschreiben können. Die Feinheiten einer Person werden dabei untergehen.

    Aber zurück zu dem Jungen.

    Er hatte genau die richtige Größe. Das ist mir besonders wichtig. Die richtige Körpergröße. Auch sonst stimmte alles. Ich hatte ihn sorgfältig ausgewählt. Ihn, ebenso wie die anderen, erwählt. 

    Das bin ich ihnen und mir schuldig. 

    Ich vergewisserte mich, dass keiner uns beobachtete. Trotz sorgsamster Verkleidung, Fensterglasbrille und auffallendem Bart, ist es immer noch am besten, wenn es gar keine Zeugen gibt. Ich folgte dem Jungen, bis ich ihn schließlich auf einem verlassenen Teil der Hafenmole von Paleokastritsa ansprach. Das Übliche, banale Freundlichkeiten über das Wetter, die vergangene Hitzeperiode, den milden Septemberabend, wie man das gemeinhin macht, ein alltäglicher Smalltalk. Wir schlenderten eine Weile wie zwei gute alte Bekannte nebeneinander her, plauderten und scherzten. 

    Es war offensichtlich: Der Junge genoss es. Er besaß keine Freunde. Auch hatte ich ihn nie in Begleitung eines Mädchens gesehen. Er war immer allein. Vielleicht mied er andere Menschen, genau wie ich. Vielleicht mieden sie ihn. Keiner erwartete ihn. Oder hielt nach ihm Ausschau. Weder Freunde noch Geschwister oder Eltern. Der Junge schien einsam. Nicht zufällig oder gewollt allein. Nein, er war einsam. Wirklich einsam! Es war, als hätte er auf mich gewartet. Als wären wir beide füreinander bestimmt.

    Zwei einsame Wölfe.

    Zwei verwandte Seelen.

    Der Junge folgte mir bis zum Wagen. Ohne Aufforderung, ohne Absprache, keine Fragen. Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, einem Fremden zu dessen Wagen zu folgen. Während ich ihm half, sich auf dem Beifahrersitz anzuschnallen, fragte er mich nach meinem Namen. Ich ignorierte die Frage. Tat, als hätte ich sie nicht gehört und startete den Motor. In der einsetzenden Abenddämmerung fuhren wir Richtung Angelokastro.

    Den Namen des Jungen kannte ich nicht. Wollte ihn nicht kennen.

    Die Vertrautheit eines Namens zerstört alles.

    Solange sie namenlos sind, sind sie anonym. Gesichtslos. Auch dann noch, wenn man das Gesicht kennt, die Sprache der Gebärden. Solange ein Mensch keinen Namen besitzt, der ihm den Stempel einer bestimmten, unverwechselbaren Persönlichkeit aufdrückt, ist er konturlos. Ein verschwommenes Etwas, ein Ding, weit entfernt von einem spezifischen Ich. 

    Nähe zerstört alles!

    Oh nein, ich erwarte nicht, dass Sie meinen Gedanken folgen können. Eigentlich erwarte ich gar nichts von Ihnen. Ganz sicher nicht irgendeine Art von Verständnis. Aber Sie scheinen mir recht neugierig. Sonst würden Sie sich doch spätestens an dieser Stelle von mir abwenden. Mir vielleicht sogar irgendeine obszöne Geste zeigen, oder? Aber Neugier zeugt bekanntlich von Intelligenz. Und nichts anderes erwarte ich von Ihnen. 

    Der Parkplatz war gähnend leer. Weit und breit keine Menschenseele. So war es ein Leichtes, den Wagen ein wenig abseits abzustellen. Das Meer leckte in sanften Wellen den kiesigen Uferstreifen unterhalb der betonierten Fläche, und die Augen des Jungen funkelten mit dem Plankton um die Wette, als ich ihm meinen Plan unterbreitete. Also öffnete ich den Kofferraum und schnappte mir meinen Rucksack, den ich seit dem Morgen für diesen Zweck bereithielt. Wie erwartet, fragte der Junge nach einer Taschenlampe. Ich tat erschrocken, schüttelte bedauernd den Kopf. Der Junge kniff die Augen zusammen, schaute sich unentschlossen um. Ich gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, der Junge lächelte verlegen. Ich schnallte mir schwungvoll den Rucksack auf den Rücken und drückte auf die Zentralverriegelung des Wagens.

    Der steinige Pfad hinauf zur Ruine schlummerte in nächtlicher Unschuld. Stille umgab uns, nur das Zirpen und Zischeln der Grillen und Insekten, die entfernten Rufe der Nachtvögel. Unheilvolle Stimmen der Finsternis. Die Einsamkeit war körperlich spürbar. Wie sich langsam erhebende Dämonen wuchsen aus dem Hügel über uns die Umrisse von Angelokastro, geisterhaft beleuchtet von der aufgehenden Mondsichel. In einem Seitenfach meines Rucksacks lag meine kleine Halogenlampe. Für den Notfall. Ich hoffte, es würde keinen Notfall geben. Wenn alles glatt verlief, würde ich keine Lampe brauchen. Ich brauchte kein Licht. Ich kannte den Weg. Ich kannte das, was uns dort oben erwartete. Ich hatte alles gut vorbereitet: Das Timing. Die Auswahl des Platzes. Die Bühne. Eine Festung, die einst eine der wichtigsten Verteidigungsanlagen Korfus war, und deren strategisch schwer einnehmbare Position jahrhundertelang großen Einfluss über das Schicksal und die Entwicklung der Insel hatte, schien mir genau der passende Ort für mein Vorhaben. Denn schließlich war das, was ich in der Ruine erledigen musste, nichts anderes als eine Art von Selbstverteidigung. 

    Wie immer hatte ich nichts dem Zufall überlassen. Wie immer war alles perfekt. Was ich brauchte, hatte ich dabei: Die mit Käse gefüllten Teigtaschen, Kekse, Saft, Cola und Wein. Das Messer, die Fesseln, Lumpenhose und Pferderiemen, die Injektionsspritze mit dem kleinen Infusionsbeutel und den mausgrauen Plastikvogel mit dem blutroten Schnabel.

    *

    »Fundort ist gleich Tatort.« Der Rechtsmediziner Georgios Katzounis stemmte seinen massigen Körper ächzend aus der Hocke hoch. »Erstaunliche Präzision, mit der hier gearbeitet wurde. Da stimmt jedes Detail.«

    »Deine Begeisterung in Ehren, Georgios. Aber kannst du mir vielleicht sagen, welches kranke Hirn sich sowas ausdenkt?« Stelios Angelis biss die Zähne so kräftig aufeinander, dass ihm die Kiefermuskeln wehtaten. Ein Techniker im weißen Overall der Spurensicherung versuchte sich mit seinem Instrumentenkoffer an ihm vorbeizuschieben. Stelios trat einen Schritt zurück und ließ den Mann durch. Dieser hockte sich neben die Leiche und begann mittels Klebestreifen und einem Kleiderroller nach Faserspuren auf der Kleidung des Toten zu suchen. Die Kleidung bestand aus ein paar grauen Lumpen, die von den Lenden knapp über die Oberschenkel reichten und das Geschlecht des Jungen verdeckten. Lumpenshorts, im Schritt zugenäht. Um den Hals trug er eine runde, im Durchmesser etwa ein Zentimeter dicke Schlinge aus festem, abgegriffenem Leder, die im Nacken locker geknüpft war. Ansonsten war der Junge nackt.

    Der Techniker kämmte die Haare des toten Jungen mit einem kleinen Spezialkamm, entnahm mit einem dünnen Spachtel Proben unter den Fingernägeln und verteilte die gewonnenen Spuren in einzelne Asservatenbeutel. Zwei weitere Techniker vermaßen den Tatort und übertrugen die Maße auf eine Bleistiftskizze. Als Kriminalkommissar auf Korfu waren Stelios Angelis bisher nur wenige Fälle begegnet, die ihn bis ins Mark hinein erschüttert hatten. 

    Dies hier war ein solcher Fall.

    Georgios Katzounis zwirbelte mit düsterer Miene die Spitzen seines imposanten Schnurrbartes und massierte mit der anderen Hand seinen Stiernacken. »Bizarr, was? Schätze, deine Frage könnte uns allenfalls ein Seelenklempner beantworten. Ich für meinen Teil kann nur sagen, was es darstellen soll.« Er ließ von Bart und Nacken ab, zwinkerte Stelios zu. »Obwohl bekanntermaßen Kenntnisse der Mythologie nicht unbedingt in meinen Fachbereich gehören.«

    »Was es darstellen soll, ist wohl ziemlich eindeutig«, murmelte Stelios. »Was sagst du zu der Verletzung?«

    Der Mediziner hob verblüfft die Brauen. »Die passt ins Bild.«

    »Auch das ist mir bekannt«,  seufzte Stelios genervt.

    »Aber wenn es dich beruhigt, bei dem wenigen Blut gehe ich davon aus, dass sie ihm postmortal zugefügt wurde.«

    Stelios verzog das Gesicht. 

    Beruhigte ihn das? Angesichts eines solchen Alptraums?

    »Was denkst du?«, fragte er Stefania, die urplötzlich aus dem Schatten der Ruine neben ihm auftauchte. Sie starrte auf den grauen Plastikvogel, der auf dem nackten Bauch des toten Jungen thronte. Aus dem roten leicht geöffneten Schnabel hing ein Stück schrumpeliges rohes Fleisch. Das Fleisch stammte eindeutig aus der klaffenden Wunde, unterhalb der sich die Leber des Jungen befand.

    »Der Titan Prometheus«, begann Stefania leise. »Zeus befahl, ihn an eine Felsspitze im Kaukasus zu schmieden, wo ein Adler jeden Tag seine Leber heraus hackte, die über Nacht wieder nachwuchs.« 

    Die altgriechische Mythologie faszinierte Stefania und unwillkürlich war das antike Bild vor ihrem geistigen Auge erschienen. Sie wich einem der Techniker aus, der sich neben dem Leichnam hinkniete, den Vogel mit dem Leberstück vorsichtig eintütete und ihn in eine Kühlbox aus Styropor legte. Sie ging um den Mann herum und starrte auf den freigelegten Schnitt: seitlich links, ein kleiner tiefer Einschnitt, etwa drei Zentimeter lang. 

    Stefania nahm den Geruch von Verwesung wahr, diesen morbiden, metallisch süßlichen Geruch des Todes. Ein plötzlicher Schwindel erfasste sie. Stefania verspürte Übelkeit, klaustrophobische Enge schnürte ihr den Hals zu. Als sie rückwärts taumelte, stolperte sie über einen harten, kantigen Gegenstand. Im Straucheln spürte sie eisiges Wasser, das über ihrem Kopf zusammenschlug, und eine Hand unter ihrer Achsel, die sie aus dem Wasser nach oben zog. Kreise und Punkte tanzten vor ihren Augen. Hechelnd wie ein Hund lehnte sie sich gegen die kalten Mauersteine. Doch die Steinmauer in ihrem Rücken gab nach. Schwankend versuchte sie sich von der Mauer abzustoßen. Nein, nicht sie schwankte. Die Mauer schwankte. Die gesamte Ruine schwankte. Die Menschen um sie herum. Stefania stand mit geschlossenen Augen, die Schultern gegen das Gemäuer gelehnt. Ihr Atem ging stoßweise, sie vernahm sich entfernende Stimmen, dann Stille ...

    Als Stefania ihre Augen öffnete, schaute sie in zwei besorgte Gesichter, die gegensätzlicher nicht sein konnten. Während Sie sich fragte, wie viel Zeit wohl vergangen war, wanderte ihr Blick von dem gutmütigen aber grobschlächtigen Gesicht des Rechtsmediziners zu Stelios Angelis‘ schmaler Miene mit den aristokratisch feingeschnittenen Zügen. Erleichtert stellte sie fest, dass sie noch immer auf ihren eigenen zwei Füßen stand, was in ihrem bisherigen Leben nicht immer selbstverständlich gewesen war. 

    Sie spürte eine Hand, die sie behutsam am Ellbogen fasste. 

    »Wie wär’s mit etwas Wasser?«, schlug Stelios mit sanfter Stimme vor. »Ich habe eine Flasche im Auto. Eiskalt und erfrischend.«

    Stefania lächelte matt und löste ihren Arm aus Stelios‘ Griff. Sie musste ihre gesamte Energie aufwenden, sich ihren Zorn nicht anmerken zu lassen. Wie konnte sie sich nur so gehenlassen?

    Verdammt, Mädchen, reiß dich zusammen! Du bist ein Profi!

    Sie bohrte ihren Blick in den gezwirbelten, mächtigen Schnurrbart des Mediziners. »Und du bist sicher, dass diese Inszenierung erst nach dem Tod des Jungen stattfand?«

    »Ja. Ganz sicher.« 

    Seltsam, dachte Georgios Katzounis, der Gedanke kam ihm zum ersten Mal innerhalb seiner langjährigen Tätigkeit als Gerichtsmediziner: So entsetzlich und entwürdigend diese Todesinszenierung war, sie strahlte zugleich auch etwas Sauberes aus. Etwas Reines. »Es mag seltsam klingen«, setzte er seinen Gedanken laut fort, »aber das Ganze wirkt auf mich wie eine Art Reinigungsbad. Als hätte sich der Täter durch sein Ritual gereinigt. Oder als hätte er den toten Jungen gereinigt. Vielleicht auch sie beide.«

    Stefania hob die Brauen. »Ich dachte, du bist kein Profiler?«

    »Das dachte ich auch.«

    »Dann sollte es uns vielleicht trösten, dass der Junge nichts mehr von der Reinigung mitbekommen hat«, meinte Stelios trocken. »Und woran ist er nun gestorben? Kannst du da schon was sagen, Dok?«

    Der Arzt hob die Schultern. »Erwürgt wurde er jedenfalls nicht. Trotz dieser Lederschlinge um seinen Hals.«

    »Die Lederschlinge ist ein Pferderiemen«, schaltete sich einer der Techniker ein. »Ich bin selber Reiter, und das da ist eindeutig ein Stück von einem Zügel.«

    »Aha«, machte Stelios. »Und was hat der Pferdezügel zu bedeuten?«

    Der Techniker, ein hochaufgeschossener, drahtiger Kerl, grinste herablassend. »Die Beantwortung dieser Frage fällt wohl eher in euer Ressort«, meinte er arrogant. Und damit schloss er die Kühlbox, ließ die Schlösser seiner Instrumententasche lautstark zuschnappen und kehrte den dreien seinen langen, asketischen Rücken.

    Sympathischer Mensch, dachte Stelios, dem der Name des Technikers – Napoleon – urplötzlich wieder einfiel. Er begegnete Stefanias Blick, die unverkennbar das gleiche dachte. Er trat einen Schritt von der Leiche zurück. Sein Blick wanderte umher, während er jedes Detail noch einmal auf sich wirken ließ. Dann schaltete er sein Diktaphon ein, um seine Eindrücke über den Tatort und dessen Dynamik festzuhalten.

    Der Arzt klatschte in die Hände. »Ihr Lieben, schafft ihn mir …«

    »… so rasch wie möglich rüber«, brummte Stelios, »danach reden wir weiter.«

    »Ich sehe, Kommissar, du hast deinen Text brav gelernt.«

    »Nun komm schon, Dok, kein klitzekleiner Verdacht?«

    »Woran der Junge gestorben ist?«

    »Ja?«

    »So, wie es sich momentan darstellt, nicht.«

    »Meinst du, er wurde missbraucht?«, fragte Stefania.

    Der Arzt wog skeptisch den Kopf. »Nun ja, abgesehen von den Lumpenshorts und dem Riemen um den Hals ist der Leichnam fast unbekleidet. Andererseits deutet der zugenähte Schritt eher auf ein nichtsexuelles Motiv hin.«

    »Und der Todeszeitpunkt?«, hakte Stelios nach.

    »Letzte Nacht. Irgendwann zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens.«

    Die Stimmen über ihm erwachen. 

    Noch ist es dunkel. Nein, es ist bereits hell. Nur hier unten ist es dunkel. Hier unten ist es immer dunkel. Ewige Nacht …

    Oben ist es hell. Es ist Tag und die Sonne scheint. Oben scheint immer die Sonne. Von morgens bis abends. Bis in die Nacht. 

    Oben ist immer Tag. Auch, wenn die Sonne nicht scheint.

    Er lauscht den Stimmen. Die eisernen Fesseln bohren sich tief in sein Fleisch. Er hat sich aufgebissen. Die Wut hat es ihm befohlen. Er hat den Geschmack von Blut auf der Zunge. 

    Blut …

    Es ist der einzige Geschmack, an den er sich noch Jahre später erinnern wird. Und an die Gerüche. Von Früchten und Wasser. Von Moder und Fäulnis. Und er wird sich an die Lumpenhose erinnern. Die Sünderhose. Und an den Pferderiemen um seinen Hals.

    Er kann es nicht mehr einhalten. Er spürt den heißen Urin an seinen Beinen hinunter rinnen. Bald wird der Gestank ihn von unten her einhüllen. Scham und Schmerz verzerren sein Gesicht. Er spürt die Tränen, die ihm über die Wangen rollen. Seine Augen brennen. Er starrt in die Finsternis. Versucht einen Punkt auszumachen. Nur einen winzigen hellen Lichtpunkt. Einen Fixpunkt, an den er sich klammern kann. Etwas, das ihn hoffen lässt.

    Doch er hört nur ihre Stimmen. 

    Weit oben. Weit, weit oben …

    Das Oben und das Unten.

    Im Oben scheint immer die Sonne.

    Im Unten herrscht ewige Nacht.

    2

    Kreta, August 1998

    Da war sie wieder, diese Gestalt. Sie tauchte immer wieder auf. Unvermutet. Immer dann, wenn Sedina am wenigsten damit rechnete. In der Nähe der Stranddusche, im Schatten der hohen Pinien, in der kleinen Fischtaverne, wo sie manchmal zu Abend aßen. Wie eine sphärische Erscheinung im Dunst des nächtlichen Lagerfeuers oder wie jetzt in der Morgendämmerung, wenn Sedina noch ein wenig bekifft und schwankend aus ihrer Felsenhöhle heraustrat. Eine leicht nach vorn gebeugte Gestalt, die sich auf seltsame Weise nah und zugleich fern von ihr hielt. Eine Silhouette auf der Horizontlinie von Tag und Nacht, zu flüchtig, um ein Gesicht zu erkennen.

    Die Gestalt stand ganz still, starrte zu ihr herüber. Sedina rieb sich die Augen, versuchte ihren Blick von den Schlieren der Nacht zu befreien, doch als sie wieder hinsah, war die Gestalt verschwunden. Im Austritt der Nachbarhöhle erschien Moses‘ verschlafenes Gesicht im milchigen Licht des frühen Tages. Er schwankte gähnend heraus, riss die Arme in die Höhe, stieß seinen allmorgendlichen Urschrei aus und stolperte ungelenk und barfüßig über die glatten, runden Felsen auf Sedina zu. Mit wild rudernden Armen bekam er schließlich ihr Handgelenk zu fassen und zog sie im Fallen neben sich, in eine der über die Jahrtausende vom Salzwasser ausgewaschenen Steinwannen. 

    »Er war wieder da«, flüsterte Sedina.

    »Dein Phantom«, grunzte Moses.

    »Kein Phantom, Moses! Der Kerl verfolgt mich.«

    »Warum flüsterst du?« Moses beschattete mit der freien Hand die Augen und spähte aus halbgeschlossenen Lidern über die Felsen zur Bucht hinunter. »Nichts«, stellte er zufrieden fest. »Niemand da. Nur die üblichen Frühsportler mit ihren suizidalen Verrenkungen. Abartig, wenn du mich fragst. Aber du fragst mich ja nicht.«

    Sedina schüttelte seine Hand ab. »Verdammt, Moses, warum glaubst du mir nicht?«, fauchte sie. »Der Kerl taucht wie ein Geist auf, steht plötzlich da und starrt mich an.«

    »Ohgotttohgott«, jaulte Moses theatralisch. »Vielleicht ist er ein Geist. Eine arme verlorene Seele, die den Weg zu Reinheit und Liebe sucht.«

    »Blödsinn!« Wütend rieb sich Sedina das Handgelenk. »Der Mann verfolgt mich. Wenn ich nur wüsste, warum.«

    »Und du bist ganz sicher, dass er ein Mann ist?«

    Sedina rollte mit den Augen. Moses lachte wiehernd. Als abgebrochener Student der Romanistik liebte er seine eigenen Scherze. Er lugte verstohlen in Sedinas versteinerte Miene, und sein Wiehern ging in ein unterdrücktes Glucksen über. »La belle et la bête«, raunte er dicht an ihrem Ohr. »Das ewig alte Spiel, meine Schöne.« Seine Finger krochen über ihren Arm, nahmen zielsicher den Weg zu ihren Brüsten. »Die Schöne und das Biest. Spiel mit mir, Schwesterchen.«

    »Im Moment kein Bedarf, Bruder.« Sedina schlug seine Hand weg und sprang auf die Füße. »Trotzdem, danke. Ich weiß den Rat des Weisen zu schätzen.« Sie hob den Fuß, tätschelte Moses mit nackten staubigen Zehen Stirn und Wangen und lächelte zu ihm herab. »Man sieht sich, Brüderchen.« Damit schritt sie hoch erhobenen Hauptes davon und winkte Moses, der ihr mit albernem Grinsen hinterher glotzte, mit drei Fingern über die Schulter zu.

    »Gewiss, meine Süße«, murmelte Moses. »Mein kleiner Appetithappen, ganz gewiss sieht man sich.« Wie ein schnurrender Kater ringelte er sich in der Felswanne zusammen und schlief augenblicklich ein.

    Mit ihrem Eintritt in die Höhle schlug Rafael die Augen auf. Und wie an jedem Morgen stellte er die einzige Frage, die hier, an diesem Ort des leidenschaftlichen Müßiggangs, außer ihn keinen interessierte: 

    »Wie spät ist es, Mama?«

    Und wie an jedem Morgen antwortete Sedina wahrheitsgetreu: 

    »Ich habe keine Ahnung, mein Engel. Doch die Sonne steht bereits auf ihrem Posten …«

    »… also Zeit für uns, sie zu begrüßen«, vollendete Rafael das Ritual.

    Sedina beugte sich über ihren Sohn, wuschelte ihm lachend durchs Haar. Er verzog das Gesicht, sie biss ihm zärtlich in die Nasenspitze, krabbelte mit den Händen in seinen Schlafsack und kitzelte ihn, bis er prustend ›aufhören, aufhören‹ schrie. Dann ging sie zu ihrer eigenen Felsnische hinüber, schlug mit wenigen geübten Griffen ihren Schlafsack zusammen und hockte sich daneben. Sie strich das hüftlange Haar zurück und lehnte den Kopf gegen die Felswand. Mit heimlicher Freude beobachtete sie Rafael, der sich auf der Steinliege gegenüber aus seinem Schlafsack kämpfte. Sein drahtiger, für sein Alter ein wenig zu klein geratener, von der Sonne tief gebräunter Körper rührte sie jedes Mal von Neuem. Und während Rafael die Schlafanzughose gegen Badehose und ausgefranste Jeans-Shorts tauschte, sich mit ernster Miene und kindlich schlaksigen Bewegungen die halblangen, von Salz und Sonne gebleichten Haarzotteln aus dem Gesicht bürstete, tauchte sie hinein in jenen wohlig warmen, vertrauten Strom. 

    Rafael. 

    Was oder wen auch immer die Zukunft für sie bereithielt, ihr Sohn würde das Wichtigste in ihrem Leben bleiben. Seit knapp drei Wochen lebten sie beide nun in einer der Steinhöhlen von Matala. Die während der Jungsteinzeit in das poröse, weiche Gestein gegrabenen Wohnhöhlen dienten zur Zeit der römischen Belagerung Kretas als Grabstätten. Vom Strand aus gesehen, wirkten die runden und ovalen Eingänge, die in willkürlichen Abständen in den hoch aus dem Meer aufragenden weißen Felsenberg geschlagen waren, wie überdimensionale Einschusslöcher eines vergangenen Krieges. Eine dieser neolithischen Wohnhöhlen, in denen nach den römischen Toten die internationale Hippieszene der sechziger Jahre neben jungen Amerikanern, die ihre Teilnahme am Vietnamkrieg verweigerten, in Kommunen ihren Sex-no-war bis zum Exzess kultivierten, und wo heute die blasse Enkelgeneration jener Sixties in den Fußstapfen ihrer AIDS-freien, von jeglichen Konventionen und Hemmungen befreiten Vorfahren hinterher zu hinken versucht - eine dieser Wohnhöhlen diente nun Sedina und Rafael als Urlaubsdomizil. Für drei Sommermonate hatten Mutter und Sohn die enge, muffige Stadtwohnung im hektischen Zentrum von Heraklion gegen die noch engere Steinhöhle ohne Küche und Bad getauscht. Die Luxusausstattung der Höhle bestand aus zwei gegenüberliegenden, in den Fels geschlagenen Steinbänken, in salz- und sonnendurchfluteter Freiheit.

    »Was gibt’s zum Frühstück, Mama?«

    Sedina fuhr erschrocken zusammen. Sie blinzelte ins Licht. War sie eingeschlafen?

    »Ich hab Hunger, Mama. Hast du was zu essen?«

    Die Hände in die Hüften gestemmt, baute sich ihr Sohn vor ihr auf. »ICH – HABE – HUN – GER!«

    »ICH – HABE – ES – VERSTANDEN! – Hier …« Sedina kramte einen Schein aus den Falten ihres Miniwickelrocks. »Hol dir was vom Kiosk.«

    Rafael schnappte sich den Schein und stopfte ihn in die Gesäßtasche seiner Shorts. 

    »Aber hol dir was Vernünftiges, hörst du?«

    Rafael blinzelte schelmisch. »Was ist was Vernünftiges?«

    »Was einigermaßen Gesundes. Zum Sattwerden, du weißt schon. Ach ja … Und vergiss nicht, dich zu waschen.«

    »Ich geh doch gleich schwimmen«, maulte er.

    »Und die Zähne, junger Mann?«

    »Zuviel Zähneputzen ist gar nicht gesund«, stellte Rafael sachlich fest.

    Die allmorgendliche Diskussion, dachte Sedina. Ein Überbleibsel der Zivilisation. Sie lächelte in sich hinein.

    »Hör mal, mein Sohn, ein Mindestmaß …«

    »… an Sauberkeit muss sein! Ich weiß, Mama.«

    Rafael zog eine Grimasse, Sedina schnellte kichernd nach vorn, doch der Junge war schneller und entglitt ihrem Griff.

    »Hast du eigentlich den komischen Mann wiedergesehen, Mama?«

    »Ja, mein Herz.«

    »Wo?«, fragte Rafael aufgeregt. »Wo ist er?«

    »Fort. Er ist fort.«

    »Und wenn er wiederkommt?«

    »Dann sagen wir den anderen Bescheid.«

    »Und dann?«

    »Dann sehen wir weiter.«

    »Vielleicht ist er ja ganz okay«, meinte der Junge zögerlich. »Vielleicht ist er allein und sucht nur jemanden zum Reden oder Spielen.«

    »Vielleicht … Ich weiß nicht … Wir werden sehen.«

    Sedina blinzelte zu ihrem Sohn hinüber, derweil die Müdigkeit sie sanft wie eine weiche Meereswoge umhüllte. Die Silhouette von Rafaels Gestalt füllte den Ausgang der Höhle. Das Licht schlang sich wie eine helle Aura um seinen zarten Jungenkörper. Wie erwachsen er schon war, ihr Sohn. Wie er sich bemühte, den Part des männlichen Beschützers zu übernehmen. Doch so sehr sie sein Bemühen anrührte, Sedina brauchte keinen Beschützer. Keinen männlichen Partner. Sie brauchte nur ihren Sohn. Rafael. Ihr Kind. Ihr Baby. Die Liebe zu ihrem Sohn war das Einzige, was für sie zählte. 

    Sedinas Augen brannten, unmöglich sie länger offenzuhalten. Zu viel Wein letzte Nacht. Zu viel Koks. Zu viel Liebe. Sofern man das, was zwischen ihr und Moses und auch einigen anderen hier ablief, als Liebe bezeichnen konnte. Aber es machte Spaß. Verdammt viel Spaß! Und nur darauf kam es an: auf diese spezielle Art sexueller Freiheit, die sie hier lebten. Auslebten! Wenngleich es eine zweifelhafte Freiheit war. Das war Sedina von Anfang an klar gewesen, als sie die Skrupel ihres bürgerlichen Gewissens ausradiert und mit dem Kopf voran ins Selfservice-Tauchbecken des Fisch-dir-raus-was-immer-du-willst hineingesprungen war.

    Dass es wieder anders werden musste. Dass es aufhören musste, das Lotterleben, war ihr klar. So konnte sie nicht weitermachen. Nicht mit einem Kind im Schlepptau. Spätestens nach diesem Urlaub, der so etwas wie ein Befreiungsschlag für sie beide sein sollte, eine Scheidungsnachlese, würde sie auf den Pfad der Tugend zurückkehren. Schläfrig schaute Sedina ihrem Sohn hinterher, dessen Silhouette sich im Weißlicht des Einschussloches auflöste. 

    Als sie erwachte, hatte sich das Licht verändert. 

    Von draußen drangen Stimmen an ihr Ohr. Kinderstimmen. Erwachsenenstimmen. Satzfetzen. Gelächter. Ein Schrei. Von plötzlicher Unruhe getrieben, sprang Sedina auf, stürzte ins Freie. Alles so wie immer. Felsen. Strand. Wasser. Schattenplätze unter Pinien. Die Sonne war ein gutes Stück weiter gewandert. Über den Sand flimmerte die Hitze. Menschen aalten sich in der Sonne, hockten unter Sonnenschirmen, spielten Beach- und Volleyball und schwammen durch seichte Wellen. Von hier oben ließ sich die Bucht fast vollständig einsehen. Sedina stolperte über die Felsen, kletterte weiter hinauf, weiter und immer weiter, höher hinauf. Die heißen, glatten Steine glühten unter ihren nackten Fußsohlen, doch Sedina spürte keinen Schmerz. Sie rief seinen Namen. Sie rief Rafael … Rafael … Rafael … Sie rannte hinunter zum Strand und rief und rief, während Menschen sie mit neugierigen Blicken anstarrten und dunkle Angst sich wie eine Faust um ihren Nacken schloss.

    *

    Sie waren immer schneller die Felsen hinauf geklettert. Immer schneller, schneller, schneller. Bis die Stimmen aus der Bucht unter ihnen leiser geworden waren, bis sie sich nur noch wie das geheimnisvolle Wispern eines Baches anhörten. Dann war auch das Wispern verstummt, und der Fremde hatte ihn weiter zur Eile angetrieben. Denn ganz oben, in der höchsten Höhle, dort würde er ihn sehen: den Königsadler. Unvorstellbar riesig mit einer Flügelspannweite von drei Metern und mit einem gewaltigen Schnabel, mit dem er sein Federkleid putzte. Ein Adler, so majestätisch, wie nur ein König es war. Der Fremde hatte dem Adler einen Namen gegeben: Zeus. Er behauptete, jener Zeus sei einst in Stiergestalt mit einer von ihm entführten phönizischen Prinzessin namens Europa in dieser Bucht an Land gegangen, wo er sich in einen Adler verwandelte.

    Rafael hatte noch nie einen Königsadler gesehen. Er hatte überhaupt noch keinen Adler gesehen. Keinen lebendigen. Schon gar nicht aus solcher Nähe, wie der Mann ihm versprach. So war sein Wunsch, jenem Tier zu begegnen, überwältigend. Der Wunsch hatte sich auf unwiderstehliche Weise in ihm ausgebreitet und das Bild des prachtvollen Vogels in seine Phantasie gezeichnet. Wäre da nur nicht die Stimme in seinem Kopf, die Stimme seiner Mutter, die er zu ignorieren versuchte:

    Folge keinem Fremden! Steige nie in ein fremdes Auto! Nimm nichts von einem Fremden an, kein Geschenk, nichts Süßes, kein Versprechen!

    Und nun tat er genau das:

    Er folgte einem Fremden. Nahm sein Versprechen an.

    Rafael zögerte. Schließlich warf er die Warnungen seiner Mutter und das Versprechen des Fremden in die Waagschalen seiner Neugier und traf eine Entscheidung: Er musste den Adler sehen. Außerdem war der Mann eigentlich gar kein Fremder. Zumindest nicht für seine Mutter und ein paar andere aus der Clique. Zwar hatte keiner von ihnen je mit dem Mann gesprochen, dennoch verging kaum ein Tag, an dem Sedina und die anderen nicht über ihn lästerten: Wie der Kerl auftaucht und verschwindet. Wie er schweigend dasteht, zu ihnen herüber starrt.

    Er erscheint und verschwindet wie eine Geistererscheinung, sagte Sedina. Und Moses lachte und nannte den Mann einen Spanner oder so ähnlich. Auf Rafaels Frage, was das sei, ein Spanner, lachte Moses noch lauter. Er kniff Rafael in die Wange und zwinkerte Sedina zu. Dann krümmten sich beide vor Lachen, fielen übereinander her und wälzten sich unter wilden Gebärden im Sand, während er mit hochrotem Kopf dabeistand und zuschaute. Als sich das Knäuel von Armen und Beinen endlich auflöste und Moses sich von Sedina herunter stemmte, blinzelte er grinsend zu ihm hoch und brummte: Jetzt weißt du, Kleiner, was ein Spanner ist. Was definitiv nicht zutraf. Rafael wusste es immer noch nicht. Was aber letztendlich egal war.

    Weniger egal war ihm der Adler, dem er in wenigen Minuten von Angesicht zu Angesicht, wie der Fremde ihm versprach, begegnen würde.

    EIN KÖNIGSADLER! 

    Rafael zitterte vor Aufregung, konnte es kaum erwarten. Konnte sein Glück nicht fassen, dass ein solches Geschenk für ihn bereithielt. Offenbar erging es seinem Begleiter nicht anders. Er trieb Rafael zur Eile an, und Rafael hörte den schweren Atem des Mannes hinter sich, seine aufmunternden Worte und verstand immer weniger, warum die anderen über den Fremden, der kein Fremder war, lachten. Warum sie ihn mieden, ihn einen Spanner oder schlimmer noch nannten. Wo er doch nur - wie Rafael ihn getauft hatte - ein einsamer Mauerblümchenmann war, der jemanden zum Reden suchte oder einfach nur einen, der etwas mit ihm gemeinsam unternahm. 

    Wie Rafael es jetzt tat.

    Als er zurückschaute, lag der Strand schon weit unter ihm. Die Menschen auf dem Sand und im Wasser bewegten sich wie die Figuren seines Playmobil. Rafael lauschte den sich entfernenden Stimmen, dem Kreischen der Mädchen im Wasser. Er nahm Rufe wahr, die sich zu wiederholen schienen. Er spitzte die Ohren, hielt die Luft an, um besser hören zu können. Doch so weit oben auf den Felsen war es unmöglich, die Stimme zu erkennen oder etwas zu verstehen. Und als er auf Anweisung des Mauerblümchenmanns vorsichtig um einen der Felsen herum kletterte, verschwand der Strand unter ihm und mit ihm die Stimmen und die Rufe. Er blieb stehen, hielt sich an einem Felsvorsprung fest und starrte hinab. 

    Außerhalb der Bucht war die See wesentlich rauer. Kämme hoher Wellen brandeten um die nackten Felsen, die aus dem wü-tend schäumenden Wasser emporwuchsen. Rafael, dem es nun etwas unheimlich zumute war, suchte den Blickkontakt zum Mauerblümchenmann, der etwas tiefer auf einem kleinen Felspla-teau stand. Er sah, wie die Lippen des anderen sich zu Worten formten, doch das Krachen und Tosen des Wassers schluckte jeden anderen Laut. Sein neuer Freund lächelte aufmunternd und deutete mit der Hand nach oben. Rafael klammerte sich mit bei-den Händen an den Fels und hob vorsichtig den Blick. Direkt über sich erkannte er den Eingang einer größeren Höhle. Wäh-rend er fasziniert nach oben starrte, war der Mauerblümchen-mann zu ihm hinaufgeklettert. Er stand nun unmittelbar neben ihm. 

    »Siehst du«, der Mann legte eine Hand auf Rafaels Schulter und wies mit der anderen nach oben. »Dort oben ist die Höhle des Königsadlers. Dort oben erwartet dich Zeus. Wie ich es dir versprochen habe. Jetzt sind es nur noch wenige Meter, die uns von ihm trennen.«

    Mit weltmännischer Gebärde schob Rafael die Hand seines neuen Freundes von seiner Schulter. »Also los, worauf warten wir dann noch?«

    »Genau das frage ich mich auch«, grinste der Mann und klemmte die Daumen unter die Riemen seines geschulterten Rucksacks.

    Feuernacht. 

    So nennt er den Tag, der sein Leben von Grund auf veränderte. Obwohl die Veränderung weder mit einem Feuer noch mit der Dunkelheit etwas zu tun hatte. Niemand ist verbrannt. Es war helllichter Tag, als es geschah. Dennoch hat sich das Bild von Feuer und Finsternis in ihm festgesetzt. 

    Feuernacht. 

    Es brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, ihn von der Kante einer glücklichen Kindheit in die Hölle hinabzustoßen. Fortan befand er sich auf der Kehrseite des Lichts. 

    Er starrt in die Finsternis. 

    Wieder ist es Nacht. Oder noch immer? Wie lange schon? 

    Manchmal verliert er die Zeit, kann Tage und Nächte nicht mehr unterscheiden. Die Stimmen scheinen ihm jetzt weiter entfernt als sonst. Vielleicht verliert er auch langsam sein Gehör. Vielleicht auch den Verstand. Die Stimmen sind nun wie ein langgezogener Klang. Ein Stakkato, ein verzerrter, nicht berechenbarer Rhythmus. Er versteht kein einziges Wort, kann ihren Sinn nicht deuten. Doch der Klang genügt, um ihm ein wenig von der Einsamkeit zu nehmen. Eine Illusion nur. Er weiß es. Allein der Nachhall des Klangs hilft ihm, sich weniger einsam zu fühlen. 

    In dem Klang gibt es viele Stimmen. Stimmen unterschiedlicher Tonarten. Metallene, gurgelnde Untertöne. Grelle, quietschende Obertöne. Und die Musik. Stimmen und Musik. Sie kommen aus dem Fernseher. Dieser leuchtende Kasten… Wie gern würde er jetzt dort hineinschauen. Sich von den flirrenden, bunten Bildern über das Meer tragen lassen. Bilder, auf dreißig mal fünfzig Zentimeter begrenzt. Zusammengeschrumpfte Realität. Eine andere Welt. Die Illusion einer schöneren Welt. 

    Er schließt die Augen. Er will fliegen. 

    Ein Vogel sein … So frei …

    Er lauscht dem fernen Klang der Stimmen, dem Hämmern der Musik.

    Flieg, Vogel, flieg …

    Flieg weit, weit fort …

    Er breitet die Arme zur Seite. Spreizt die Finger. Winkelt die Ellbogen ein wenig an. Bewegt die Arme auf und nieder, die Hände im Rhythmus des Fluges. Auf und nieder, auf und nieder. Arme und Hände, die zu Schwingen werden. Zu den Schwingen einer Möwe. 

    Eines Adlers. 

    Er denkt an den Greifvogel, der manchmal über dem Tal schwebt. Er folgt dem Adler über die ölbaumbewaldeten Hügelkuppen, über die nackten Felsen, umrahmt von Pinien und Zypressen. Er fliegt höher hinauf über Hügel, Felsen und Bäume, folgt dem Adler höher und höher hinauf, in die unendlichen Weiten des Himmels…

    Er spürt den harten Sitz unter sich, über sich riecht er die Freiheit.

    Er will ein Greifvogel sein. Ein Adler. Über der Welt schweben. 

    Er will Herr sein über Welten und Meere.

    Seine Träume verselbständigen sich, folgen eigenen Wegen. Er durchstreift eine Miniaturwelt. Eine Spielzeugwelt, bevölkert von leblosen Menschenhüllen. Plastikmenschen in Häusern und Städten aus Pappmaché. Eine Welt, deren jämmerliches Leben allein aus Organismen, Mikroben, Pflanzen und Insekten besteht.

    Er stellt sich vor, wie er sich aus der Luft herablässt, die Ad-lerschwingen an den Körper gelegt. Er stellt sich vor, in ei-ner solchen Miniaturwelt zu leben. Lautlos. Nicht greifbar. Unantastbar. In einer Welt aus Pflanzen und kleinzelligen Wesen, aus willenlosen Plastikmenschen in Pappmaché-Häusern. In einer Welt, die auf Knopfdruck funktioniert. Auf die Umdrehung eines Schlüssels. Eines einzigen Schlüssels, der sich allein in seinem Kopf befindet. In seinem zur All-macht mutierten Hirn.

    3

    Korfu, September 2012

    Das wenigstens hatten sie geschafft. Nach dreijährigem Kampf gegen die Windmühlen der Bürokratie hatte man in den höheren Etagen des Polizeiapparates endlich entschieden, Stelios Angelis und Stefania Stefanidou im Gebäude der Astynomia am San Rocco ein eigenes Büro zuzuteilen. Einen kleinen Eckraum mit einem offenen, mit Aktenordnern vollgestellten Wandregal, einer Computerecke und einem betagten, mehrfach abgeschliffenen, im Gegensatz zum bescheidenen Ambiente des Raumes gigantisch wirkenden Holzschreibtisch, an dem sie nun in Pseudoledersesseln, zwei Becher Kaffee vor sich, einander gegenüber saßen.

    Stefania schlug die Beine übereinander und steckte sich eine Selbstgedrehte zwischen die Lippen. »Die Inszenierung passt nicht zu Prometheus.«

    »Sondern?« Stelios lehnte sich in seinem nagelneuen Drehsessel, der so gar nicht zu dem alten Schreibtisch passen wollte, zurück und fächelte diskret Rauch von sich fort.

    Stefania zog nachdenklich an ihrer Zigarette, hob das Kinn und entließ den Rauch gemächlich gegen die Decke. »Zu Tityos. Ein euböischer Riese. Sohn des Zeus und

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1