Jung und verliebt im Landschulscheim
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Buchvorschau
Jung und verliebt im Landschulscheim - Marie Louise Fischer
Egmont
Fröhliche Ankunft
Die Weihnachtsferien waren vorüber.
Auf dem weiten, mit Kopfsteinpflaster gepflasterten Hof von Burg Rabenstein herrschte der übliche Wirbel bei der Rückkehr und Ankunft der Schüler und Schülerinnen im Landschulheim. Nicht nur, daß der Omnibus aus München junge Leute ausspie, viele wurden auch von ihren Eltern, einem Vormund, einer Tante, einem Onkel oder einem Elternteil im Personenauto hereingefahren. Einige der älteren Schüler kamen sogar im eigenen Auto.
Fast alle kannten sich, schrien sich Begrüßungsworte zu, oft weit über den Hof, suchten Hilfe, um ihre schweren Koffer zu schleppen, lachten, fluchten und waren außerordentlich vergnügt.
Natürlich war es schön gewesen, Ferien zu haben, Weihnachten zu feiern, zu Hause sein zu können, aber jetzt genossen die meisten die Heimkehr – denn auch dies war eine Heimkehr – nach Rabenstein.
Die alte Burg mit ihren verspielten Türmen und gotischen Spitzbogen war ihnen eine zweite Heimat geworden, und die Freude, die Freundinnen und Freunde wiederzusehen, war riesengroß. Die Eltern oder andere ältere Anverwandte sahen sich so schnell vergessen, daß es sie fast schockierte. Sie trösteten sich damit, daß diese Begeisterung, wieder im Landschulheim zu sein, immerhin besser war, als Tränen, Seufzen und Geschrei beim Abschied,
Nur der jungen Frau Heuer stiegen die Tränen in die Augen, als sie ihre Tochter Leona nach ein paar flüchtigen Küßchen ganz vergnügt und selbstvergessen mit ihrer hübschen Freundin Ute und ihrem Freund Kurt Büsing lachend und plaudernd abziehen sah.
Ihr Mann, Peter Heuer, nur wenig älter als sie, legte ihr den Arm um die Schultern. „Nimm’s nicht tragisch, Irene, versuchte er sie zu trösten, „denk immer daran: wir haben es ja selber gewollt.
Irene Heuer schluckte. „Aber daß es ihr so leichtfällt!"
„Es war ja nicht von Anfang an so. Inzwischen hat sie sich eingewöhnt. Seien wir froh darüber."
Frau Heuer zog ihr Taschentuch. „In ein paar Jahren wird sie erwachsen sein."
„Das ist der Lauf der Welt, Irene. Er zog sie zärtlich an sich. „Wir könnten uns ja noch was Kleines anschaffen. Aber dann müßtest du natürlich deinen Beruf aufgeben.
„Ich weiß nicht, Peter."
„Das ist auch keine Sache, die wir hier und jetzt entscheiden müssen. Steh nicht länger herum wie eine trauernde Niobe, sondern laß uns zurück nach München fahren. Vielleicht halten wir an einem netten Gasthof unterwegs und fügen uns was zu Gemüte. Ist das nicht ein Vorschlag? Er dirigierte seine Frau sanft in das Auto, mahnte noch: „Schnall dich an!
– tat es selber und startete.
Leona winkte ihnen nicht einmal nach.
Sie unterließ das nicht etwa, um ihre Eltern zu kränken, oder weil sie sie nicht liebhatte. Es war nur so, daß ihr gepflegtes Zuhause und das Landschulheim zwei Welten waren, die einander völlig ausschlossen.
Es war wunderbar gewesen, wieder einmal zu Hause zu sein, kleine gepflegte Mahlzeiten einzunehmen, täglich auszuschlafen, ins Theater und in Konzerte gehen zu dürfen. Aber gerade weil ihre Eltern sie so verwöhnten und fast wie eine Erwachsene behandelten, hatte sie gefühlt, wie rasch sie wieder zu der Einzelgängerin werden konnte, die sie gewesen war, bevor sie nach Rabenstein gekommen war. Doch jetzt, als der gutmütige, etwas dickliche Kurt aus Hamburg, der meist „Kuddel" genannt wurde, und die strahlend hübsche Ute aus Berlin, Leonas Zimmergenossin, sich so begeistert auf sie gestürzt hatten, fühlte sie sich wie von einem Bann befreit.
Kurt hatte ihr den Koffer abgenommen und Ute ihre Skier geschultert, so daß Leona selber nur ihre Reisetasche – helles Leinen mit ledernem Besatz und ledernen Griffen — tragen mußte.
„Menschenkinder! schrie sie. „Schnee! So viel Schnee! Wer hätte das gedacht! In München hat es nur ein bißchen gerieselt!
„In Berlin noch weniger!" rief Ute.
„Und in Hamburg gar nicht!"
Alle drei sprachen viel lauter, als es nötig gewesen wäre. Das kam daher, daß alle anderen rings um sie her schrien, und weil sie alle das Wiedersehen, das Entkommen aus der elterlichen Gewalt und die Rückkehr nach Rabenstein als eine Befreiung empfanden – ohne sich natürlich selber darüber klar zu sein.
Sie hatten das schwere, jetzt weit geöffnete Tor zur Halle schon erreicht, als sie von hinten angerufen wurden.
„He, Leona, altes Mädchen! rief Alma, allgemein Amsi genannt, ihnen zu. „Ute, gutes Stück! Wie geht’s, wie steht’s?
„Wartet auf uns!" rief Sabine.
Alma, ein sehr sportliches Mädchen mit kurzem, fast jungenhaft geschnittenem Haar, und Sabine, zartbesaitet und empfindsam, waren beste Freundinnen und teilten ein Zimmer auf Burg Rabenstein. Leona hatte ein halbes Jahr mit ihnen zusammengewohnt und mochte beide sehr. Da Sabines Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren und ihr Vormund, ein Junggeselle, nichts weiter für sie tun konnte, als ihre Geldangelegenheiten regeln, hatte sie die Weihnachtsferien bei Alma verbracht. Jetzt waren sie gerade aus dem Auto von Almas Vater gestiegen.
„Bleibt, wo ihr seid! rief Leona zurück. „Wir verstauen erst mein Zeug, dann helfen wir euch bei euren Sachen!
Auch in der Halle wimmelte es nicht nur von Mädchen – die Jungen wohnten nicht im Schloß, sondern in einem modernen Anbau – sondern auch von Eltern, die den Abschied nicht so leichtnehmen wollten. Allenthalben wurden Hände geschüttelt, Küsse und gute Ratschläge verteilt.
Am häufigsten drang an das Ohr der drei, die sich unbeirrt einen Weg durch das Gewimmel bahnten, die Mahnung: „Reiß dich um Himmels willen zusammen! Ich möchte es auf keinen Fall erleben, daß du sitzenbleibst!"
„Gott, wie ich das hasse!" Leona schlug die schönen grauen Augen, denen sie mehr Ausdruck gab, indem sie ihre von Natur hellen, aber hübsch geschwungenen Wimpern schwarz tuschte, gen Himmel.
„Na, du bist eben intelligent! spaßte Kurt Büsing. „Deine Eltern brauchen dir bestimmt keinen Tritt in den Allerwertesten zu verpassen.
„Tun sie auch picht. Aber ich finde es trotzdem Wahnsinn. Als wenn irgendwer aus purer Böswilligkeit das Ziel der Klasse, wie es so schön heißt, verfehlen würde."
„Ilse Moll zum Beispiel!" erinnerte Ute.
„Ja, die! Der ist die Schule gänzlich schnuppe. Daran ändert sich aber auch nichts, wenn man auf sie einredet wie auf ein lahmes Pferd. Ach, da ist sie ja! Hei, Ilse!"
Ilse wirkte, zwei Jahre älter als Leona, aber dennoch in der gleichen Klasse, ausgesprochen sexy in einem bunten Skipullover, der sich über ihrem gut entwickelten Busen spannte, eine dazu passende Mütze keck auf ihre blonde Lockenpracht gestülpt. „Grüßt euch!" rief sie vergnügt zurück.
„Hast du dein Mütterchen schon abgehängt?" fragte Kurt.
Ilses Mutter war eine selbständige Unternehmerin, eine hochintelligente, energische und willensstarke Frau, die ihre Tochter zur Schnecke machen konnte wie sonst niemand.
„Ist gar nicht mit rausgefahren! erwiderte Ilse vergnügt. „Unser Chauffeur hat mich gebracht!
„Euer Chauffeur! rief Kurt beeindruckt. „Dunnerlüttchen! Setz mich auf die Liste deiner Heiratskandidaten!
Ilse verzog die Mundwinkel. „Ich fürchte, du würdest dem Röntgenblick meiner Mutter nicht standhalten. Aber sagt mir mal: Wo soll ich mit den verdammten Skiern hin?"
„Das weißt du nicht?"
„Im vorigen Jahr hatte ich sie immer im Schuppen beim Sessellift. Aber da hat es ja auch nicht gleich nach Weihnachten so viel Schnee gegeben."
Kurt stellte Leonas Koffer ab. „Gib her! Er nahm Ilse die Skier ab und legte sie gekonnt über die Schulter. „Die von Leona auch!
sagte er zu Ute. „Für die Skier haben wir im Keller einen Extra-Abstellraum. Die Stöcke nehmt ihr, bitte, mit auf euer Zimmer. Alte Skifahrerregel: Trennt euch nie von euren Stöcken, dann werden euch die Bretter nicht geklaut."
„Scheint mir ziemlich sinnlos, entgegnete Ute, „man kann doch die Skier …
„Mädchen, Mädchen, hier ist weder Ort noch Zeit für eine Diskussion. Es ist ’ne alte Regel, ich sag’s ja. Ich habe sie nicht erfunden."
Kurt schulterte auch Leonas Skier.
„Wartet auf mich. Es dauert nur ein paar Minuten. Dann helfe ich euch mit den Koffern weiter."
„Absolut nicht nötig! wehrte Ute ab. „Das schaffen wir schon allein. Was meinst du, Leona?
„Aber sicher!"
Mit vereinten Kräften schleiften sie den Koffer durch den langen Gang, an dessen Ende linker Hand der Speisesaal, und rechter Hand der Aufstieg zu den Zimmern der Mädchen lagen. An der einen Seite des Ganges gab es einfache, braun gestrichene Türen, die in verschiedene Schulzimmer und in das Sekretariat führten, auf der anderen Seite Spitzbogenfenster, die den Ausblick auf den Hang hinter der Burg freigaben; er war jetzt dick mit leuchend weißem, pulvrigem Schnee bedeckt.
„So was von Schnee! rief Leona begeistert. „Wo findet man den sonst noch!? In der Stadt bestimmt nicht!
Ute, die sich mit ihr um den Transport des Koffers bemühte, und Ilse Moll, die neben ihnen herstolzierte, stimmten ihr darin unumwunden zu.
„Nirgends!" sagten sie mit einer Gleichzeitigkeit, über die alle drei in helles Gelächter ausbrachen.
Sie hatten das Ende des Ganges noch nicht erreicht, als Kurt sie wieder einholte.
Energisch nahm er Leona und Ute den Koffer aus der Hand. „Laßt das den guten Onkel Kurt machen!"
„Ja, wenn wir dich nicht hätten!" Leona war froh, sich nicht länger abplagen zu müssen, aber sie hatte auch gelernt, daß Jungen für Komplimente genauso empfänglich sind wie Mädchen – vielleicht sogar noch empfänglicher, weil sie Schmeicheleien gegenüber weniger mißtrauisch sind.
Ute blies in das gleiche Horn, wobei sie Leona hinter Kurts Rücken ein Äuglein kniff. „Man sieht dir auf den ersten Blick an, wie stark du bist, Kuddel!"
„Was heißt hier erster Blick? fragte Kurt. „Du solltest inzwischen doch Gelegenheit genug gehabt haben, dich von meinen Bärenkräften zu überzeugen!
Ute ließ sich nicht verwirren. „Zugegeben! erklärte sie. „Aber sie beeindrucken mich eben immer wieder!
Ilse Moll beteiligte sich an dem Geplänkel nicht. Sie hatte keinen Koffer zu schleppen, und außerdem war ihr der gleichaltrige Kurt Büsing herzlich gleichgültig; sie interessierte sich nur für erwachsene oder zumindest halberwachsene Männer.
Durch eine Tür erreichten sie eine zweite Halle, ziemlich kahl und auch im gotischen Stil, von der die Treppe zu den Mädchenzimmern hinaufführte.
Kurt stellte den Koffer ab. „Tut mir leid, meine Damen … bis hierher und nicht weiter!"
So freizügig das Leben auf Burg Rabenstein war: das Betreten des Mädchentrakts, der am Fuße dieser Treppe begann, war für Jungen streng verboten.
„Na klar, Kuddel, sagte Leona, „niemand hat erwartet, daß du dich für uns in Ungelegenheiten bringst.
„Wieso, denn nicht? fragte Ilse Moll. „Nur dadurch kann ein Mann beweisen, daß ihm wirklich was an seinem Mädchen liegt.
„Ich mag Kurt, erklärte Leona hitzig, „aber das heißt noch lange nicht, daß ich ,sein Mädchen’ bin, wie du es zu nennen beliebst. Ich gehöre immer noch mir selber, und nichts wäre mir mehr zuwider, als ihn in Schwierigkeiten zu bringen.
„Versteht sich am Rande, stimmte Ute ihr zu, „hör doch gar nicht auf Ilse.
So unauffällig wie möglich tupfte Kurt sich indessen den Schweiß von der Stirn. „Wenn ihr wirklich wollt, daß ich …"
„Spar dir den Unsinn! fuhr Leona ihm über den Mund. „Natürlich wollen wir nicht! Komm, pack bitte mit an, Ute!
Gemeinsam hievten sie das schwere Gepäckstück mit Leonas Wintersachen von Stufe zu Stufe, während Ilse sehr lässig die Skistöcke trug.
Als sie oben angekommen waren, rief Leona dem immer noch schwitzenden Kurt über die Schulter zu: „So sei bedankt, mein lieber Schwan!"
„Wie bitte?" fragte Kurt verdutzt zurück.
Leona, die in den Weihnachtsferien mit ihren Eltern die Oper „Lohengrin" gesehen hatte, in der ein Schwan dem Helden als Transportmittel dient, lachte. Ute wußte als Tochter einer Schauspielerin auch Bescheid und lachte mit.
Nur Ilse blieb ernst und äußerte leicht pikiert: „Ich verstehe immer nur Bahnhof!"
Spaß muß sein
Leona und Ute hielten sich nicht lange auf, sondern schoben nur den Koffer in ihr gemeinsames Zimmer und rannten dann gleich wieder hinunter, um Alma und Sabine zu helfen. Ilse Moll hielt das nicht für nötig, sondern zog sich in ihre eigene Kemenate zurück. Sie gehörte zu den wenigen Jüngeren auf Burg Rabenstein, die ein Zimmer für sich allein hatten. Aber niemand beneidete sie darum, denn erstens fanden es die meisten lustiger, mit einer Freundin zusammen zu hausen, und zweitens verstand es Ilse durchaus nicht, es sich gemütlich zu machen. Bei ihr sah es immer aus, wie die junge, fesche Erzieherin von Leonas Gruppe ziemlich grob, aber treffend zu sagen pflegte, „wie in einem Schweinestall". Das war um so erstaunlicher, als Ilse Moll für ihre eigene Schönheit mehr Zeit verwendete als irgendeine andere Rabensteinerin.
Doch Leona und Ute verschwendeten keinen weiteren Gedanken an Ilse Moll, sondern sausten, so schnell sie konnten, die Treppe wieder hinunter, den Gang entlang und stießen in der Eingangshalle auf die Freundinnen, die ziemlich hilflos zwischen Taschen, Koffern und Skiern standen.
„Gut, daß ihr kommt!" sagte Sabine ganz erleichtert.
„Ehrensache! rief Leona. „Wir hatten es doch versprochen.