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Kleine Frau auf großem Schiff
Kleine Frau auf großem Schiff
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eBook201 Seiten2 Stunden

Kleine Frau auf großem Schiff

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Über dieses E-Book

Sie hier – er dort, nur wenige Meter voneinander getrennt. Und doch scheinen Welten zwischen dem Ehepaar Doris und Peter zu liegen. Freundliches Schweigen herrscht zwischen den beiden und eine große Leere. Eines Tages tritt das junge Mädchen Grit in ihr Leben, aus der Ferienbekanntschaft entsteht ein loser Kontakt zu ihrer Familie. Besonders Peter findet Gefallen an dem Mädchen. Sogar ziemlich viel Gefallen, findet Doris. Um Abstand zu gewinnen bucht sie heimlich eine Schiffsreise in den Süden. Auf dem Schiff findet sich eine vergnügte Gesellschaft zusammen. Professor Klawitter, der unverbesserliche Romantiker, unterhält den Fünfertisch, der Schiffsarzt Dr. Heubach flirtet charmant mit ihr, die junge Ilse, die mit ihrer Freundin Else unterwegs ist, muss mütterlich getröstet werden. Und besonders der schweigsame Roland Schäfer weckt ihr Interesse. Mehr und mehr erfährt Doris von seinem besonderen Schicksal, während zu Hause Peter sich in eine Liebe ohne Zukunft verstrickt. -
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum15. Jan. 2016
ISBN9788711488539
Kleine Frau auf großem Schiff

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    Buchvorschau

    Kleine Frau auf großem Schiff - Hans-Caspar von Zobeltitz

    www.egmont.com.

    In Berlin hatte es geregnet, als Doris abgefahren war. In Bremen schien die Sonne, eine noch etwas blasse Februarsonne, aber immerhin: sie wärmte.

    Anderthalb Stunden hatte Doris Zeit, bis der Lloydzug nach Bremerhaven weiterfuhr. Sollte sie ein Auto nehmen und zu Mechthild Pörtner fahren? Irgend etwas musste da wohl geschehen, ein Wort gesprochen, ein Dank gesagt werden, denn schliesslich hatte ihr Benno im letzten Augenblick noch die Kabine auf dem „General vermittelt. Aber zu Mechthild fahren, um dreiviertel Stunden auf einem ihrer schrecklich steifen Stühle zu sitzen und sich ausfragen zu lassen? Dreiviertel Stunden bei ihr um die Tatsachen herumreden müssen, halb die Wahrheit sagen, halb lügen? Nein. Ein Anruf würde es auch tun: „Liebe Mechthild, sei nicht böse, dass ich nicht selbst komme. Die Zeit ist so knapp. Ich habe auch noch einige Besorgungen. Haarnetze zum Beispiel. Es wird windig sein an Deck, und du weisst ja, mein Kopf sieht so leicht unordentlich aus. Sind die Kinder gesund? Grüsse Benno recht schön, und ich lasse danken, sehr herzlich danken. Ich will ihn auf seinem Büro nicht stören, er hat ja immer so viel zu tun. Was Peter macht? Danke. Gott, die Männer, immer dasselbe. Ob ich mich freue? Gewiss — sehr. Madeira — Teneriffa — Casablanca. Ja, auch Cadiz und Sevilla. Und dann ins Mittelmeer. Du kennst ja das alles. Mir ist es neu. Also: Nochmals Dank euch beiden und besonders Benno. Und grüsse die Kinder. So etwa sollte das Gespräch ablaufen. Das machte sich am Fernsprecher besser und vor allem leichter als Auge in Auge. Mechthild konnte eine so unangenehme Art haben, direkte Fragen zu stellen.

    Überdies: Haarnetze. Das stimmte. Haarnetze brauchte sie wirklich. Gut, dass sie so daran erinnert wurde.

    Schritt für Schritt war Doris die Strasse hinuntergegangen, die vom Bahnhof zum Rathaus führt, zum Riesen Roland und zum berühmten Bremer Ratskeller. Wie hiess der Dichter doch gleich, der ihn besungen? E. T. A. Hoffmann, Scheffel, Hauff? — Ganz in Gedanken war sie, es tat so wohl, dieses Schlendern in der blassen Sonne. Jetzt blickte sie sich suchend um: fremde Häuser — fremde Läden. In Berlin kannte sie im Westen jedes Schaufenster. Wo war hier ein Friseurgeschäft? Drüben auf der anderen Seite hing ein Schild, breit, einladend. Das schien das richtige.

    Sie kreuzte den Fahrdamm, trat in den Laden, liess sich Haarnetze vorlegen, prüfte die Farben. Es war nicht ganz leicht, Passendes zu finden. Ihr Blond war selten.

    „Haben gnädige Frau noch Wünsche?"

    Doris sah nach der Uhr. Noch keine Viertelstunde war seit der Ankunft des Zuges verflossen. Wie die Zeit schlich. Was sollte sie nun mit dem Rest des Aufenthalts hier anfangen? Sie spürte keinen Hunger, keinen Durst. Es schien ihr sinnlos, sich in ein Café zu setzen, nur um die Zeit totzuschlagen.

    „Sie können mir das Haar etwas schneiden."

    „Bitte sehr." Das Fräulein im weissen Kittel schob einen Vorhang zur Seite.

    Doris zog die Kappe vom Kopf und setzte sich in den grossen Stuhl mit den bequemen Armlehnen. Ein Leinenmantel wurde ihr um die Schultern gelegt.

    „Wie soll ich schneiden, gnädige Frau?"

    „Nur im Nacken etwas kürzen." Doris hob die Arme, um zu zeigen, wie sie den Schnitt wünschte. Sie sah in den Spiegel, sah sich.

    Die Schere klapperte. Sie hörte es kaum. Der Spiegel war ja da.

    „Ein bisschen blass siehst du aus, stellte sie fest. Kein Wunder. Heute zeilig aus dem Bett, viel zeitiger als sonst. Hastig gefrühstückt, hastig zum Bahnhof. Und zwischendrein den Brief an Peter noch einmal gelesen, diesen Brief, über den sie gestern bis tief in die Nacht gesessen und der doch nur wenige Zeilen lang geworden: „Ich verreise, erst einmal auf etwa vier Wochen. Ich muss Abstand gewinnen, und auch für Dich wird es gut sein, eine Weile ohne meine Nähe nachdenken zu können. Ich will Dir nicht im Wege stehen. Ich gebe Dir keine Adresse, denn ich will allein sein mit meinen Gedanken und Entschlüssen. Auch ohne Briefe von Dir. Ich versichere Dir, Du brauchst Dich nicht zu ängstigen. Ich tue mir nichts an oder so. Ich bin immer eine vernünftige Frau gewesen, das hast Du selbst oft genug zugegeben. Ich gebe Dir volle Freiheit. Wenn ich zurückkehre, werden wir ganz in Ruhe über unsere Zukunft sprechen können, eben mit Abstand voneinander. Ich hoffe, Du wirst meinen Schritt verstehen. Erst als die Zeit drängte, als Minna schon mit dem Portier die Koffer an den Wagen trug, war ihr aufgefallen, dass fast alle Sätze mit „Ich" begannen. Nun war nichts mehr zu ändern gewesen. Und warum auch sollte sie das ändern? Schliesslich trug Peter ja allein die Schuld an allem. Er allein.

    „Sollen die Seiten auch etwas kürzer ...?"

    „Ja, bitte, aber wenig."

    Die Schere klapperte weiter.

    Im vorigen Sommer hatte es angefangen in dem kleinen Ostseebad. Kaum zwanzig war das Mädel. Aber gerade dieses Alter ist gefährlich für Männer, die eben die Vierzig hinter sich haben. Zuerst hatte Doris gelächelt, wenn die beiden — die Strandkörbe standen nebeneinander — gemeinsam hinausschwammen. Dann hatte sie gelacht, dass Peter plötzlich eine Vorliebe für das kleine Tanzcafé zeigte. Aber das Lachen war doch etwas schmerzlich geworden, als er immer wieder mit diesem Mädel tanzte; gewiss: im schuldigen Wechsel mit ihr selbst; aber mit dem Mädel die Tangos, mit ihr die Steps. Es gibt da Unterschiede. Und im Herbst war seine Frage gekommen: „Wollen wir nicht einmal bei Schleusings anrufen und fragen, ob sie zum Tee zu uns kommen wollen? — „Wer sind denn Schleusings? Sie hatte wirklich vergessen, wie die Eltern dieses Mädchens hiessen. „Bitte rufe du an, wenn du es für richtig hältst, hatte sie schliesslich erwidert. Es war zu einem losen Verkehr gekommen. Eine Villa draussen in Dahlem hatten Schleusings, er war Direktor irgendeines Industriewerkes. Und die Tochter hiess Grit. Zwei- oder dreimal hatte Doris sie wieder gesehen, schmal, schlank, sportlich war sie, wie die Mädels heute sind. Und sehr sicher. Sie wirkte in Abendkleidern überdies lange nicht so gut wie in ihren knappen Strandanzügen. Das schien auch Peter zu empfinden. Anfangs. Aber dann hatte Doris erfahren, dass sie sich doch des öfteren trafen, und vor zehn Tagen hatte sie ihn fragen müssen: „Liebst du sie? — „Rede doch keinen Unsinn, Doris! — „Ich glaube, es ist kein Unsinn. Kurz darauf, ehe er diese Reise, diese Geschäftsreise nach Düsseldorf antrat, sah sie ihn mit ihr auf der Strasse. Sie hatte Blumen in der Hand. Abschiedsblumen natürlich. Sie hätte darüber lächeln können. Aber wie lange war es her, dass er ihr die letzten Blumen mitgebracht hatte?

    „Ist es so recht, gnädige Frau?"

    Doris sah auf — wieder in den Spiegel. Blass, dachte sie von neuem, sehr blass. Und ein paar Falten um die Mundwinkel sind auch schon da. Ein bisschen früh für sechsunddreissig.

    „Ja, danke."

    „Bitte sehr, gnädige Frau. Der weisse Mantel wurde ihr von den Schultern genommen, der Vorhang wieder zur Seite geschoben. „Wenn Sie bitte an der Kasse zahlen wollen ...

    Neben der Kasse stand der Fernsprecher. Der Besitzer des Geschäfts stellte die Verbindung mit dem Hause Pörtner her. Es dauerte eine Weile, bis Mechthild an den Apparat kam. Dann aber lief das Gespräch so ab, wie Doris es sich vorgenommen hatte, nur dass es immer wieder von Mechthild unterbrochen wurde: „Wie schade, dass ich dich nun nicht sehe. Ihr kommt doch nie nach Bremen und wir kaum nach Berlin. Und dann: „Vor fünf Jahren waren wir das letztemal zusammen. Und endlich: „Nun wird es sicher wieder Jahre dauern."

    Darum ja gerade, dachte Doris, darum ja gerade konnte ich Benno bitten, mir bei Besorgung der Karte zu helfen. Er fährt ja eher nach Amerika hinüber als nach Berlin. Er wird Peter nicht treffen. Und Mechthild schreibt nie. Von dieser Seite wird Peter nichts erfahren. Mechthilds Stimme war noch genau so spröde wie damals, als sie in Jungmädeljahren Freundschaft schlossen, und das „sp" sprach sie immer noch getrennt.

    „Dank euch beiden und besonders Benno. Und grüsse die Kinder. Das wurde der Schlusssatz, wie sie es geplant. Sie hörte noch, wie Mechthild sagte: „Also dann, Doris: Meeresstille und glückliche Fahrt. Das war wohl der übliche Abschiedsgruss hier an der Küste.

    Doris legte den Hörer in die Gabel.

    „Gnädige Frau fahren mit dem ‚General‘? fragte der Herr an der Kasse, als sie bezahlte. Sie nickte. Er öffnete ihr die Tür. „Der ‚General‘ ist ein herrliches Schiff. Das Wetter wird wundervoll werden. Doris ging an ihm vorüber. „Glückliche Fahrt", sagte auch er als Beschluss.

    Im Fenster eines Reisebüros hing eine Uhr. Doris erschrak: Jetzt wurde es Zeit, sie musste sich beeilen. Aber unter der Uhr sah sie noch das Bild, das grosse farbige Plakat: Palmen, blauer Himmel, blaues Meer mit weissen Schaumkronen an den Spitzen milder Wellen und davor ein junges Mädel in hellem, wehendem Kleid: „Frühlingsfahrten in den Süden." Es war das gleiche Plakat, das sie verführt hatte zu fliehen, das gelockt hatte, damals in Berlin, nachdem ihr Peter mit Grit begegnet war. Wann war das doch gewesen? Vor vier Tagen. Ihr schien es eine Ewigkeit.


    Fast zwei Stunden dauerte die Fahrt von Bremen nach Bremerhaven. Doris war in ihrem Abteil nicht allein geblieben. Sie war in Bremen, nachdem der Träger ihr Handgepäck über ihrem Eckplatz ins Netz verstaut und sie ihn abgelohnt hatte, noch einmal auf den Gang des D-Wagens getreten und hatte sich zum Fenster hinausgelehnt. Vor dem Lloyd-Sonderzug drängten sich die Menschen, frohe Menschen, Ferienmenschen. Sie riefen, sie lachten. Sie waren laut, und dieses Lautsein gehörte wohl zu ihrer Stimmung. Doris aber tat es weh. Leichte Angst befiel sie: So viele Fremde, ein ganzer langer Zug voll, hunderte, und alle würden auf dem Dampfer sein, würden sich dort drängen und schieben, würden auch dort rufen und lachen, immer in ihrer Nähe, immer um sie und bei ihr. Sie versuchte, aus der Masse einzelne herauszuheben, sich Gestalten oder Gesichter einzuprägen. Unmöglich. Es stand ja niemand auch nur für einen Augenblick still, jeder hatte anscheinend noch irgend etwas zu tun, was unbedingt Hast und Eile verlangte: Ein Wirbel ging über den Bahnsteig, ein Wirrwarr füllte ihn.

    Einmal stutzte Doris. Sie glaubte, ein Gesicht zu erkennen. Kurz vor Abgang des Zuges war es, der Mann in der roten Mütze mahnte schon zum Einsteigen, und die ersten Türen klappten; da kam noch, ruhig und gelassenen Schrittes, ein Herr auf den Bahnsteig. Er trug einen weiten Kamelhaarmantel, sehr breit in den Schultern, sehr gut gearbeitet; das fiel Doris zuerst auf. Mittelgross war er, die kamelhaarbraune Reisemütze hatte er tief in die Stirn gezogen, etwas zu tief, schien es ihr. Sehr sicher ging er durch die lauten drängenden Menschen, wirklich anders als alle, nicht einmal blickte er sich nach dem Träger um, der ihm folgte und nur zwei Gepäckstücke trug: einen kleinen hellen Toilettenkoffer und eine schweinslederne Tasche erheblichen Ausmasses, sehr sachliches, aber auch sehr teures Gepäck. Als er in der Höhe von Doris’ Fenster war, wandte er den Kopf, sah zu ihr herüber, nur für einen Augenblick, und da schien es ihr wieder, als ob sie diesem Mann schon einmal begegnet sei. Sie sah ihm nach; etwas müde war sein Gang, etwas geneigt seine Haltung. Nein, sie hatte sich geirrt, sie kannte ihn nicht, bestimmt nicht, denn diese Art zu gehen, war ihr fremd, und sie hatte gerade für solche Äusserlichkeiten ein sehr gutes Gedächtnis.

    Der Bahnsteig wurde leerer, der Zug schluckte fast alles, was sich auf ihm befand. Nur ganz wenige blieben zum Abschiedwinken da.

    Doris trat zurück in ihr Abteil. Ein Platz war inzwischen beseht worden, der Fensterplatz, dem ihren gegenüber. Aus ihm erhob sich ein Mann, ein Hüne. „Wir sind wohl Fahrtgenossen, gnädige Frau, Fahrtgenossen in den Frühling. Er sagte es dröhnend, pathetisch, in einem sonoren Bass. „Gestatten Sie, gnädige Frau, Klawitter, Professor Klawitter.

    Was tun? dachte Doris. Sie brauchte Sekunden, um sich zurechtzufinden. Richtig: Fahrtgenossen — nicht nur für einige Eisenbahnstunden, sondern für drei Wochen Leben auf dem Schiff. Das war ja etwas anderes. So streckte sie dem Fremden die Hand entgegen. „Es freut mich, Herr Professor."

    Doris setzte sich, und der Professor setzte sich auch; die Polster schienen zu ächzen.

    Wenn ich jetzt nur nicht sprechen muss, wünschte sich Doris. Sie stand wieder auf, um sich ihre Handtasche aus dem Netz zu nehmen. In ihr lagen Bücher, lag auch eine Zeitung, vielleicht, dass sie sich hinter ihren Seiten verbergen konnte.

    „Darf ich Ihnen behilflich sein?" fragte der Bass und wuchtete sich gleichfalls wieder empor.

    „Nein, danke." Doris beeilte sich. Die Tasche war leicht, sie hatte sie mit einem Griff neben sich gestellt und geöffnet.

    „Sie machen zum erstenmal eine solche Fahrt?"

    Doris faltete die Zeitung auseinander. „Ja", antwortete sie.

    „Es wird wieder wundervoll werden. Ich kenne die Route bereits — nur Teneriffa ist mir neu. Man kann diese Stätten des Südens nicht oft genug besuchen."

    Er ist Lehrer, er ist bestimmt Lehrer. Es gab für Doris keinen Zweifel mehr. Sie blickte über den Rand ihrer Zeitung, sah in dies Gesicht, das von einem grossen Vollbart umrahmt war. Ein unmöglicher Haarwulst, dachte sie, wie kann ein Mann nur so etwas tragen. Und plötzlich fiel ihr Hans ein, ihr Junge. Der hatte während seiner Ferien von einem Lehrer mit einem Vollbart erzählt, einem Lehrer, den er gar nicht mochte.

    Hans — hatte sie ihn denn ganz vergessen in den letzten Tagen? Ihm hätte sie doch auch eine Abschiedszeile senden müssen, ihn darauf vorbereiten, dass er nun drei Wochen lang in seinem Internat nicht den üblichen Sonntagsbrief erhalten würde; sie durfte ihm ja jetzt nicht schreiben, wenn sie geheimhalten wollte, wo sie war.

    Der Professor redete weiter, er verlangte anscheinend keine Antwort, ihm genügte, wenn sie dann und wann ein „Ach so oder ein „So einwarf. Das war eigentlich sehr bequem; die Gedanken konnten ruhig weiterwandern, ganz andere Wege.

    Ja, wenn Hans noch zu Hause gewesen wäre, sässe sie wohl jetzt nicht hier; von ihrem Kind wäre sie nicht weggegangen. Aber das war auch so ein plötzlicher Einfall von Peter gewesen, dass der Junge nach Waldhausen musste. „Ein richtiges Muttersöhnchen wird er hier, du verweichlichst ihn. Kameraden braucht er." Es war der Ausklang eines alten Kampfes.

    Peter war mit acht Geschwistern aufgewachsen und wollte, als sie heirateten, damals, gleich nach dem Kriege, auch ein Haus voller Kinder haben — vier oder fünf. Sie hatte sich gesträubt, die Zeiten waren so schwer gewesen, Nachkriegsmangel, Inflation; sie war froh, wenn sie genug Milch und Obst für den einen Jungen bekam, man musste ja um alles vor den Ladentüren anstehen. Und dann, als das Schlimmste vorbei war, als Peters Einkünfte stiegen, als die Geselligkeit wieder anfing aufzuleben, als es wieder Bälle gab, wollte sie erst einmal tanzen, wollte erst einmal ihr Leben geniessen, wollte nicht ans Haus und ein neues Säuglingsbett gefesselt sein. Sie hatte doch noch nichts von ihrer Jugend gehabt. „Alleinkinder sind Sorgenkinder", hatte Peter gesagt. Sie hatte ihn vertröstet: später. Das war ein Fehler gewesen. Nun ging Hans ins vierzehnte Lebensjahr. Kein Sorgenkind — nein, forsch, frisch, sportbegeistert. Peter hatte

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