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Der graue Reiter
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eBook174 Seiten2 Stunden

Der graue Reiter

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Über dieses E-Book

"Auch der Herr legt die Hand an den Stamm und schaut zur Krone hinauf. Und wie sie so dastehen, den Baum zwischen sich, ihn betrachtend und an ihn gelehnt, liegt in Blick und Haltung der beiden etwas Verbindendes, von Mensch zu Mensch ein Verstehen. Nicht wie von gleich zu gleich. Herr und Knecht, dabei bleibt es. Aber sie wissen beide, und eben darin verstehen sie sich, daß vor Gott alle Menschen gleich sind. Sie sind es auch vor diesem Baume." Begleitet wird der Majoratsherr bei seiner Fahrt durch den Wald von seinem Enkel, dem fünfjährigen Alexander. Als nun der Schneesturm an Kraft gewinnt, geschieht es, dass der übermütige kleine Junge, dem das Versteckspielen im Schneegestöber Spaß macht, sich verirrt und im Sturm verloren geht. Die Suche nach ihm bleibt erfolglos. Wie soll er nur eine ganze Nacht alleine dort draußen im Toben der Elemente überleben? Doch Alexander ist nicht völlig allein: Der große Baum und die führende Hand seiner alten Kinderfrau Mining scheinen den kleinen Jungherrn zu beschützen. Nur, dass sich Mining währenddessen noch zu einer Beerdigung auf einem Nachbargut befindet ... Das Schneesturmdrama um das im nächtlichen Wald sich verlaufende Kind wird unter Hoerners plastisch gestaltender Hand zum Monumentalgemälde eines gewaltigen Naturereignisses, in dem zugleich eine tiefe menschliche Wahrheit aufscheint.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum22. Juli 2019
ISBN9788711593097
Der graue Reiter

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    Buchvorschau

    Der graue Reiter - Herbert von Hoerner

    www.egmont.com

    Der Wirbelwind

    Es sing damit an, dass auf dem Wasser ein Wirbel entstand, der offenbar nicht von der Strömung herrührte, sondern von einer drehenden Bewegung der Luft. Es sah fast so aus, wie wenn die Bauersfrau mit einem Löffel in der Milch rumrührt. Nur hätte es freilich müssen ein riesenhafter Löffel sein und eine riesenhafte Hand, die ihn führte. Die drehende Bewegung setzte sich von der Mitte des Flusses, wo sie zuerst sichtbar geworden war, fort bis zum Ufer, an welchem der Bauer und die Bäuerin standen, das seltsame Naturspiel anstaunend. Ans Land springend; verwandelte sich die Bewegung in einen Wirbel von Staub und Stroh und was sonst noch sich vom Boden hochfegen liess. Der Wirbel fuhr gegen eine Weide an, deren hängende Zweige nach oben reissend und verdrehend, stieg, um abgerissene Blätter bereichert, als ein toller Tanz in die Höhe, zerflatterte, liess alles Mitgenommene fallen und war vershwunden.

    „Ein Wirbelwind", sagte der Mann, indem er sich mit dem Handrücken über die von Schweiss feuchte Stirn strich. Die Luft war drückend. Das Wasser, wieder beruhigt, glänzte bleiern. Von drüben leuchtete weisslich die Ruine. Hinter ihr hervor stieg in den schon getrübten Himmel eine Wolke auf, grau, von geballter, nach oben seitlich verbreiterter Form.

    „Wie ein Pferdekopf", meinte die Frau, auf die Wolke deutend.

    „Unsinn, antwortete der Mann. „Wolken haben keine Köpfe, weder die von Pferden noch andere.

    „Der graue Reiter", sagte die Frau.

    Der Mann wurde ärgerlich. „Denkst du wieder an deine Märchen? Erzählst sie wohl den Kindern?"

    „Du hast es mir verboten", sagte die Frau.

    „Und daran tat ich recht, erwiderte der Mann ernsthaft. „Es gibt im Leben Gefährlichkeiten genug, wirkliche, vor denen soll man die Kinder warnen. Übrigens — er lachte kurz auf — „erzähl es ihnen, wenn du Freude daran hast, dich von den Kindern auslachen zu lassen. Sie sind gross und verständig genug. Ich habe ja auch die Grossmutter dafür ausgelacht, und da war ich noch nicht so alt wie Maris. Die Grossmutter glaubte daran."

    Ich sage ja nicht, dass ich daran glaube, antwortete die Frau. „Aber es ist eine Sage. Warum soll man sie nicht erzählen?

    Es ist eine unnütze Sage, erwiderte der Mann, „und ich mag davon nichts hören. Aber die Wolke wächst. — Heh, Attis! Lauf, sieh dich um, wo das Vieh weidet. Mikelis und Maris sollen es in den Stall zurücktreiben. — Und Grieting die Hühner! rief er ihm noch nach.

    Das Gewitter kam. Grieting, das zarte Gemüt, das vor allen gewalttätigen Äusserungen der Natur zitterte, verkroch sich unter das Bett der Eltern und wurde dafür von Attis verhöhnt. — „Hörst du, Gott schilt, spottete er, während des Donners tiefe Stimme die Fenster klirren machte. Die Mutter wies ihn zurecht. — „Ich glaube, sagte sie, „das Schelten gilt eher dir als Grieting, die immer gottesfürchtig ist."

    „Gottesfürchtig sind wir alle", sagte der Mann.

    „Freilich, meinte die Frau, „wenn du ein Gewitter über dem Kopf hast, bist du es auch.

    Milda lachte über die Bemerkung der Mutter. Immer fand Milda etwas zum Lachen. Ansis sass schweigend da. Er blickte in das Gesicht des Vaters und las darin dieselbe Besorgnis, die auch ihn erfüllte: Wenn das Wetter nur nicht Hagel brachte! Die Wolken hatten danach ausgesehen. Das Korn stand grün und hoffnungsvoll auf dem Halm. Die Ernte war in Gefahr. Es blitzte und donnerte, ohne dass es beginnen wollte zu regnen. Als wäre eine Unentschlossenheit in dem Wetter, schien es reglos über dem Hause zu stehen. Aber die Reglosigkeit war wie eine Drohung. Die acht Menschen in der Stube fühlten sich darunter klein wie unter dem finsteren Blick eines Riesen, der mit grollender Stimme sprach und einen blitzenden Hammer schwang. Er schien aber noch irgendetwas Gefährliches unter feinem Mantel zu bergen. Sollte es Hagel sein? — Wenn es nur erst anfangen wollte zu regnen!

    Der Bauer blickte zum Fenster hinaus und bemerkte, dass die Tür vom Schuppen offen stand und im Winde schlug. Er ging hinaus, sie zu schliessen. Als er zurückam, berichtete er, am Himmel drehten sich die Wolken so ähnlich, wie es vorhin im Wasser angefangen habe. — „Ein tolles Wetter, sagte er. „Da wird man zweiundvierzig Jahre alt und hat so etwas noch nicht erlebt. Wenn’s nur nicht Hagel wird!

    Endlich begann es, gegen die Scheiben zu prasseln. Aber das waren nicht Regentropfen und auch nicht Schlossen. Sand, kleine Steine, Staub und Mist wurden wie von unsichtbarer Hand gegen die Fenster geworfen. Und dazu begann ein fürchterliches Geheul, als raste ein wildes Tier schreiend auf dem Hofe umher. Das wilde Tier sprang mit stampfenden Hufen über das Dach des Hauses. Es schlug gegen die Tür. Es hatte Mähne und Schweif und peitschte damit die Wände, dass die Stube bebte. — Brüllte nicht auch das Vieh im Stall? — Irgendetwas krachte. Dabei war in dem Lärm nicht zu unterscheiden, was Wind, was Donner, was brüllendes Vieh, was Krachen war.

    „Gnädiger Gott, stöhnte die Bäuerin. „Die Welt geht unter. Sie zog ihr Grieting unter dem Bett hervor und nahm es schützend in die Arme. Welche Mutter würde bei Weltuntergang nicht zuerst das schwächste ihrer Kinder zu retten suchen? Selbst Attis machte ein ängstliches Gesicht.

    Aber das wilde Tier hatte sich an der Stelle ausgetobt. Man hörte es davongaloppieren. Sein Wiehern verklang in der Ferne. Gleich darauf fielen schwer die ersten Tropfen. Sie mehrten sich, überdeckten den Boden mit Nässe. Der Regen rauschte. Es war kein Hagel dabei.

    „Gott sei Dank!" sagte der Bauer. Aber da wusste er noch nicht, was ihm das Wetter gebracht oder vielmehr genommen hatte. Dem kleinen Wirbelwinde am Vormittage war ein grosser Bruder gefolgt. Er war an dem Hof nicht spurlos vorübergegangen.

    Mikelis und Maris waren die ersten, die es bemerkten. Sie waren noch im Regen hinausgelaufen, um in den Pfützen zu patschen. — „Das Dach, riefen sie, einander überschreiend, „das Dach vom Stall ist weg!

    Das ganze Dach war es nicht, doch fast das halbe. Grad über dem Abteil des Pferdes stand es noch. Aber die Seite über den Kühen, den Schafen, den Schweinen war wie mit der Faust weggeschlagen. Es musste eine grosse Faust gewesen sein. Auch von der Deckenlage, wo unter dem Dach noch ein Rest von altem Heu lag, waren Bretter herausgerissen, so dass der freie Himmel zu den verängsteten Tieren hereinsah. Die Hühner fehlten. Sie waren durch ihren Notausgang geflüchtet. Mit einer einzigen sehr traurigen Ausnahme: Die alte Gans, die schon vierzehn Bruten hinter sich hatte, lag, durch ein herabgefallenes Brett erschlagen, mit ausgebreiteten Flügeln, als habe sie zum letztenmal ihre Gössel beschützen wollen. Und es kam auch wirklich eines unversehrt unter ihr hervorgewatschelt und piepste.

    Sparren, Latten und Stroh fanden sich weit auseinandergerissen und etliche hundert Schritt weit über Garten und Feld verstreut. Einer der Bienenstöcke war umgefallen. Sonst hatte der grosse Bruder Wirbelwind keinen nennenswerten Schaden angerichtet. Die Scheune stand nicht schiefer da als vorher. Das kleine Vordach der Kleete hinkte ein wenig nach der einen von seinen zwei Säulen hin, liess sich aber mit Leichtigkeit wieder grade richten. Nur noch das Strohdach des Wohnhauses sah aus, als hätte man die Katze gegen den Strich gebürstet. Die Moospolster hatten es zusammengehalten. Und sonst war nichts geschehen. Wirbelwinde sind launisch.

    Aber das halbe Dach vom Stall, das war Schaden genug, und noch nicht der schlimmste. Denn der schlimmere wurde durch ihn erst aufgedeckt.

    Wie sahen die Holzwände innen aus! Atem und Dampf der Tiere hatten sie Jahrzehnte lang nass erhalten. Das Holz fasste sich an wie Schwamm. Man konnte die Finger hineindrücken. — Hatte der Bauer das nicht gewusst? Jetzt, da in den sonst nur mangelhaft erhellten Raum durch das Loch in der Decke der Himmel hereinleuchtete, war es nicht möglich, zu übersehen, dass der Stall baufällig war, der ganze Stall. Ein neues Dach auf solche Wände zu setzen, erschien nutzlos.

    Der Bauer murrte: „Wäre nur gleich der ganze Stall davongeflogen!"

    „Aber die Tiere, wandte die Bäuerin ein. „Welch ein Glück, dass uns kein Tier dabei umgekommen ist! Bis auf die alte Gans, nun ja, es ist schade um sie. Aber sogar das weisse Hühnchen, um welches Grieting geweint hat, weil wir es vermissten, ist wieder da.

    „Wenn man ein Bein bricht, erwiderte darauf der Bauer, „so kann man es wohl ein Glück nennen, dass man nicht beide Beine gebrochen hat. Ich nenne es aber ein Unglück, wenn ich sehen muss, wie der ganze Stall nichts mehr taugt. Wo soll denn ein neuer herkommen? Kannst du mir das sagen?

    Das kann ich dir sagen, antwortete die Bäuerin. Sie legte ihm den Arm tröstend um die Schultern. „Hast du nicht selber schon davon gesprochen, dass der Stall einmal neu gebaut werden müsste?

    „Aber doch nicht in diesem Jahr. Es ist zu spät, damit anzufangen." — Er griff sich ratlos ins Haar und kratzte sich den Kopf.

    „Mann, sagte die Frau, „du bist klug, du bist stark, du bist fleissig. Und du hast Ansis zum Gehilfen. Ich sehe euch beide schon, wie ihr zusammen den neuen Stall baut. Der wird schöner werden als der alte.

    Mit Ansis zusammen — das war ein Gedanke, dem sich Freude abgewinnen liess. — „Ich will mir’s in Ruhe überlegen", sagte der Bauer.

    Ansis als der älteste Sohn war dem Vater das wichtigste seiner Kinder. Zählte er sie an den Fingern her, so brauchte er für fünf von ihnen, mit Milda angefangen, die linke Hand. Aber für Ansis hielt er den Daumen der rechten hoch. Die anderen waren am Baum der Familie die Asttriebe. Ansis war der Stammtrieb.

    Auch sollte ja Ansis einmal den Hof erben, also derjenige sein, der den Namen des Hofes wie der Familie zusammenhielt. Ob der Hof nach der Familie oder die Familie nach dem Hof, den sie besass, hiess, hätte niemand zu sagen gewusst. Die Sippe war über das Land verbreitet. Man wusste von einander nicht mehr, als sich aus nächster Verwandtschaft ergab. Mochte zu einer Zeit, da die Familiennamen verteilt wurden, ein Erzvater des Geschlechts den seinen sonstwoher bekommen oder sich nach der Scholle, auf der es sass, genannt haben, in jedem Falle gehörten sie, soweit sich zurückdenken liess, zusammen: die Wezrumbas und ihr Hof. — Wezrumba — mit einem solchen Namen konnten sie wohl zufrieden sein, und sie waren es.

    Es hätten sich in ihrer Familiengeschichte, wenn jemand ihr hätte nachforschen wollen, unter Glück und Unglück, die ja beide nicht ausbleiben können, von letzterem sicherlich auch solche Fälle nachweisen lassen, die dem von dem Wirbelwinde angerichteten Schaden mehr oder weniger ähnlich gesehen hätten. Und wahrscheinlich haben sich bei solchen Gelegenheiten die davon betroffenen Männer genau in derselben Weise den Kopf gekratzt, wie es Karlis Wezrumba, Träger der Stammlinie, angesichts seines zerfledderten Stalldaches tat. Und wenn die Frauen dabei waren, haben sie ihnen Mut zugesprochen, genau wie Frau Anne. Wie denn überhaupt anzunehmen ist, dass die Wezrumbas von Urzeiten her ihre Abstammungsähnlichkeit nicht verleugnet haben.

    Hinter der Stirnlocke aber des Urahns muss ein Gedanke gewohnt haben, wie ihn nicht jeder Stammvater gedacht hat: Ur-Wezrumba hat etwas im Geiste erschaut, das hat er wie einen Segen und eine Verheissung für das ganze Geschlecht vorausgesehen, gedacht und vielleicht auch ausgesprochen: Es soll einmal zu irgendeiner Zeit, in der es schon sehr viele Wezrumbas geben wird, unter ihnen einer sein, der soll in sich vereinigen alle Tugenden seiner Vorfahren unter Weglassung aller ihrer Untugenden.

    Das war Ansis, wie der Vater ihn sah: Der leibhaft Wirklichkeit gewordene Gedanke Ur-Wezrumbas.

    „Du verziehst ihn", sagte zuweilen die Mutter.

    „Was ist an Ansis zu erziehen?" pflegte darauf der Vater zu erwidern.

    Siebenmal schon hatte die Bäuerin dem Manne zu dem Glück verholfen, Vater zu werden. Nur leider war das Jüngste — ein Mädchen war es und sollte Welta heissen — noch im zarten Säuglingsalter gestorben. Der liebe Gott hatte das Engelchen wieder zu sich genommen. Aber wenn er wollte, so konnte er ja die Zahl sieben wieder herstellen, indem er den heranwachsenden Geschwistern noch einmal so ein Kleines zugesellte. Mit dem Heranwachsen ging es ja sonst zu schnell. Milda mit ihren achtzehn Jahren war ohne Zweifel schon heiratsfähig. Das konnte man freilich von Ansis, der erst im siebzehnten stand, noch nicht sagen. Aber wie Milda die Magd, so ersetzte er, kräftig entwickelt, vollauf schon den Knecht. Gerwiss, es war vorteilhaft, schon so grosse Kinder zu haben, die in der Wirtschaft tüchtig halfen. Auch Attis, der Vierzehnjährige, obwohl noch ein rechter Lümmel, war schon zu vielem zu gebrauchen. Tischler wollte er werden. Den Verstand und das Geschick hatte er dazu, und die Lehre würde ihm gut tun. Von Grieting, dem schmächtigen Ding, war nicht viel zu verlangen. Sie fütterte die Hühner. Man musste ja die Kinder so nehmen, wie Gott sie gab, und weniger geliebt war darum Grieting auch beim Vater nicht. Blieben als die beiden Jüngsten noch Mikelis und Maris, von Fremderen stets für Zwillinge gehalten, obwohl sie mit neun und zehn ein ordentliches Jahr auseinander waren. Auch sie assen schon ihr Brot am Tische der Eltern nicht umsonst: sie hatten das Vieh auf die Weide zu treiben und zu hüten, dass es nicht hinginge, wo es nicht sollte. Im Winter freilich

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