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Die kühle Blonde. Zweiter Band
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eBook216 Seiten3 Stunden

Die kühle Blonde. Zweiter Band

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Über dieses E-Book

Der Autor führt uns in das Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die parlamentarische Soirée bei Bismarck klingt an, und es prickelt der Champagnergeist darin! Mittelpunkt seiner zweibändigen Erzählung ist eine "kühle Blonde", eine charakterstarke Frau und musterhaften Aristokratin, die an der Ehe mit einem charakterlosen Mann, einem Gesellschaftsblender und geistreichen Schwätzer, zugrunde geht. Von Wolzogen verfolgte in seinem Werk stark das Vorbild Theodor Fontanes. Auch in diesem Roman sah die Kritik Verbindungen, beispielsweise in der Zeichnung des Berliner Spießbürgertums, feierte die "Kühle Blonde" jedoch als ebenbürtiges kleines Meisterwerk. Der Roman vereint humoristische Elemente, zum Beispiel die leise Karikatur der Militärgrade, mit psychologischen Fragestellungen im Bereich der Partnerschaft und Ehe.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum1. Jan. 2017
ISBN9788711487556
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    Buchvorschau

    Die kühle Blonde. Zweiter Band - Ernst von Wolzogen

    Saga

    Zehntes Kapitel.

    Das Gewitter bricht los.

    Seinem Vorsatz getreu, verfügte sich Günther von Schlichting schon am andern Morgen nach der Flemmingstrasse. Er hoffte um diese frühe Stunde seine schöne Base allein zu treffen, da er den Doktor Renard auf der Börse vermuten durfte. Aber das Dienstmädchen, das ihm auf sein Klingeln öffnete — Renards hatten bei ihrem Umzug auch die zierliche, gewandte Zofe entlassen und dafür eine pausbäckige Nymphe frisch vom Lande angenommen — glotzte ihm so verstört ins Gesicht, dass er alsbald Unheil ahnen musste. Ihr pommersches Platt mühsam bekämpfend, erzählte ihm die Magd, dass Walther, Renards kleiner Sohn, an der Diphtheritis erkrankt sei, und dass ihr infolgedessen streng verboten sei, irgend jemanden einzulassen. Günther drückte sein Bedauern aus, liess gute Besserung wünschen und entfernte sich recht missvergnügt. Der Aufschub, den seine Rache nun erleiden musste, ärgerte ihn nicht wenig, und zudem — gefährliche Krankheiten der Kinder tragen oft dazu bei, Ehegatten einander wieder zu nähern, und der Tod besonders pflegt ein gewaltiger Bussprediger zu sein, der selbst verstockte Herzen für die Aufnahme des Evangeliums der Liebe und des Friedens wohl vorzubereiten weiss! —

    Günthers Voraussetzung war in der That zutreffend: Renards bange Sorge um das Leben seines kleinen Lieblings und Loris ernstes Bestreben, dem Gatten bei dieser Gelegenheit einen vollgültigen Beweis ihrer opferfähigen Teilnahme zu geben, hatten gleichmässig dazu beigetragen, den Sturm zu beschwichtigen, der sich trotz der jüngsten Versöhnung bereits wieder auf das schwankende Schifflein ihrer Ehe zu werfen drohte. Loris Hoffnung, dass mit dem Abbruch der zahlreichen allzuvertrauten Beziehungen mit jener Welt der glatten Lüge, des schnöden Mammondienstes, mit der Rückkehr in bescheidenere, aber ihrer wirklichen Lage angemessenere Verhältnisse dem Gatten auch die Einkehr in sich selbst erleichtert und ihr der Weg zu seinem Herzen geebnet werden würde, hatte sich leider nur allzubald als eine Seifenblase erwiesen. Wie ehrlich es Gisbert auch mit seiner Reue gemeint, wie mutig er auch die Schiffe hinter sich verbrannt, mit wie reiner Sehnsucht nach Wahrheit er auch den Dornenweg in das neuenunbekannte Gebiet betreten hatte, in das sein schönes Weib ihm als Engel der Verheissung voranschreiten wollte, so zeigte es sich doch nur allzubald, dass seine schwache Narur dem plötzlichen Wechsel des Klimas nicht stand zu halten vermochte. Er war nun einmal gross geworden in dem feuchtwarmen Treibhausdunst der grossstädtischen Gesellschaft, gewöhnt, im tiefen Schatten des tropischen Sumpfwaldes schmiegsam verschlungene Pfade zu finden, das Gekreisch possierlicher Affen und bunter Papageien, die sich auf den üppigen Lianenranken zu seinen Häupten schaukelten, war ihm ein liebvertrauter Ton — aber das helle Himmelsblau, welches über dieser nördlich gemässigten Zone sich ausspannte, in der seine „kühle Blonde" ihn heimisch machen wollte, die scharfe, dünne Höhenluft beängstigte ihn; es fröstelte ihn bis in das innerste Mark seines Wesens; die ruhige Farbenharmonie grüner Wiesen und dunkler Fichtenwälder langweilte sein verwöhntes Auge, und das Liebeslied der unscheinbaren Nachtigall dünkte ihm eine weichlich sentimentale Musik. Wohl hatte ihm Lori, als Ersatz für alles, was er aufgegeben, einen Schatz wahrer Liebe zu bieten; doch die Art, wie sie sie ihm darbot, enttäuschte wieder seine Erwartungen. Niemals eine Ueberraschung, keine lieblich verwirrende Laune, keine Erfindungskraft — eine stille Flamme, kein Feuerwerk! Er meinte, für seinen Teil doch nun vorläufig genug geleistet zu haben — sie schien die Grösse seines Liebesopfers gar nicht fassen zu können. Hätte sie sonst auch jetzt noch zögern dürfen, auch ihrerseits den Versuch zu machen, ihre Natur nach seinen Wünschen umzuwandeln?! In der lärmenden grossen Welt liess sich mit dieser stillen Frau nicht leben — aber auf der einsamen Insel ebensowenig! Wie konnte ein junges, schönes, hochgebildetes Weib nur so langweilig sein!

    Eine kleine Weile ging es ja freilich ganz gut. Sie richteten sich ihre so viel bescheidenere Wohnung recht behaglich ein und Gisbert wurde sehr häuslich. Mehr als sonst beschäftigte er sich mit seinen Kindern und widmete die langen Abende, die er sonst im Theater, in Gesellschaft, im Restaurant zugebracht hatte, dem ernsthaften, fast alle Gebiete der Wissenschaft und Kunst berührenden Gespräche mit seiner Lori. Er besprach auch einige dramatische Entwürfe aus früherer bewegter Zeit mit ihr, ohne freilich dadurch einen besonderen Antrieb zum wirklichen Beginn der Arbeit zu empfangen, denn Lori war ebenso kritisch, wie sie phantasielos war. Sie verleidete ihm durch ihre tausend Bedenklichkeiten die Freude an seinen Plänen und wusste doch nichts Besseres an deren Stelle zu setzen! Er wollte es sie nicht merken lassen, wenn sie seine Autoreneitelkeit verletzte; er zwang sich, momentan manchen kleinen Aerger hinunterzuschlucken — aber aus so verdriesslicher Stimmung heraus wollten sich natürlich keine glücklicheren Ideen entwickeln.

    Schon nach den ersten acht Tagen hatte Gisbert das beängstigende Gefühl, dass sein guter Humor ihn zu verlassen drohe. Was seiner Seele dadurch an Nahrung entging, suchte er durch verdoppelte Zärtlichkeit zu ersetzen, — ein zweiter Honigmond sollte mit seinen verschwiegenen Wonnen den Champagner ersetzen, den ihm bisher das prickelnde Leben in der Gesellschaft kredenzt hatte. Die „kühle Blonde" aber liess sich nach wie vor jede Gunst nur abtrotzen oder heimlich erschleichen: fast niemals konnte er sich der süssen Täuschung hingeben, dass auch sie in seinen Umarmungen sich berausche, dass sie einmal auch die Beglückte sei, nicht nur die liebreich Duldende. Und was diese kennzeichnende Eigenart ihrer Liebe ihm jetzt noch besonders schwer erträglich machte, das war der ewige stille Vorwurf, der nach jener versöhnenden Auseinandersetzung in ihren schönen Augen lag. Ihre Blicke verfolgten ihn mit einem fast zudringlichen Ausdruck christlichen Erbarmens, wie ihn wohl ein eifriger Seelsorger in einer Besserungsanstalt für entlassene Sträflinge oder in einem Magdalenenstift für angebracht halten mag.

    Ja, wenn Gisbert wenigstens tüchtig zu arbeiten gehabt hätte und erst gegen Abend ruhebedürftig zu seinem jungen Weibe zurückgekehrt wäre, dann hätte sich vielleicht ein freundlicheres Verhältnis zwischen ihnen herausgebildet. Aber sie litt ja nicht, dass er, wie bisher, die Börse besuche. Er hatte ihr feierlichst versprochen, der entwürdigenden Spekulation zu entsagen, — und für den Beginn der neuen Arbeit war, wie gesagt, die Stimmung noch nicht gekommen. Die erzwungene Unthätigkeit machte ihn schlaff — er begann sich mit seinen vierzig Jahren alt zu fühlen.

    Von seinen alten Freunden waren es hauptsächlich Sanitätsrat Magnus und der grosse Werner Grey, welche nach wie vor treu zu ihm hielten; doch auch ihre Besuche waren für Gisbert bald keine Freude mehr, da er sowohl aus den Blicken der beiden gescheiten Männer und noch mehr aus denen ihrer Frauen ein gewisses ironisches Mitleid herauszulesen glaubte. „Mann, Mann! Wie kann man sich so von seiner kleinen Frau ins Bockshorn jagen lassen! Das lag so ungefähr darin. So kam er sich denn auch diesen wirklich guten Freunden gegenüber — der wohlhabende Sanitätsrat hatte ihm aus freien Stücken Geld zur Verfügung gestellt, für den Fall, dass er etwas Neues unternehmen wollte! — als ein Gegenstand beleidigenden Mitleids vor. Und als eines Abends die beiden Familien bei ihm zum Thee waren und durch die Unterhaltung seiner Frau, das kalte Abendbrot und den leichten Wein, den es dazu gab, ausserordentlich befriedigt zu sein erklärten, ihm immer wieder mit warmem Dank für den reizenden Abend die Hand drückten, da war es heiss in ihm emporgewallt und er hatte nach ihrem Weggang der froh und zufrieden dreinschauenden Lori das harte Wort entgegengeschleudert: „Da siehst du nun, was wir erreicht haben mit unsrer blödsinnigen Ueberstürzung! Wie sie mich mit Glacéhandschuhen anfassten und sich verständnisinnig zublinzelten — haha! Für einen Narren sehen sie mich an, den man mit äusserster Schonung behandeln muss! Nächstens werden sie mir, nach dem bewährten Rezept, einen eigens hierzu mitgebrachten Vogel vorweisen und mir einreden wollen, den hätten sie eben aus meinem Köpfchen fliegen sehen!

    Gisbert kannte keine ärgere Demütigung als die, von seinesgleichen belächelt und bemitleidet zu werden. Als er daher wenige Tage nach jenem kleinen Einweihungsschmause für die neue Wohnung seinem Freunde Werner Grey Unter den Linden begegnete, nahm er die Gelegenheit wahr, ihn gerade heraus zu fragen, ob er ihn für verrückt halte? Und da antwortete Grey ebenso gerade heraus: „Ja!"

    „Na, das ist ja recht erfreulich! knirschte Renard erbost. „Also wenn einer meinesgleichen endlich ’mal den moralischen Mut findet, sich von dieser Welt des Schwindels abzukehren, seinen wirklichen Verhältnissen entsprechend zu leben und es mit der ehrlichen Arbeit zu versuchen, anstatt wie bisher so raubtiermässig der menschlichen Dummheit aufzulauern oder ein stumpfsinniges und dabei nervenaufzehrendes Glücksspiel zu treiben — wenn ein sonst anständiger Mann endlich ’mal sein bisschen Grips zusammennimmt, um einzusehen, dass diese niederträchtige Jobberei eines Mannes von feineren Empfindungen und Geist unwürdig sei, dann schreit ihr alle wie aus einem Munde: ‚Der arme Kerl! Hihi! Er ist verrückt!‘

    „Sie ereifern sich ganz unnötig, lieber Freund! versetzte Grey mit ruhigem Lächeln. „Es wäre doch sehr merkwürdig, wenn ich Ihnen einen Vorwurf machen wollte aus etwas, was ich selbst gethan habe! Ich hatte tatsächlich alles verloren durch die verunglückte Geschichte mit der Gründung — Sie wissen ja. Ich bin ein reicher Mann gewesen, meine Frau und meine Kinder waren an Luxus gewöhnt, mir selbst war eine gewisse Ueppigkeit im Essen, Trinken und Rauchen Bedürfnis geworden — da kam der grosse Krach; und dann gab ich mein erstes lustiges Buch heraus und liess mich als Schriftsteller entdecken — und da tauchten mir gute Freunde von allen Seiten auf und stürzten mich auf die liebenswürdigste Weise in Schulden. Weil ich ein ehrlicher Mann bleiben wollte, ihnen gegenüber, musste ich arbeiten, schreiben, ich könnte beinahe sagen Tag und Nacht. Ich habe ja viel gesehen und erlebt, der Stoff fliesst mir reichlich zu, aber doch begreife ich es manchmal selbst nicht, wie alle diese Romane, manchmal drei bis vier Stück im Jahre, und dann noch all der novellistische Kleinkram zu stande kommt! Ich muss sagen, dass ich jetzt erst weiss, was arbeiten heisst, obschon ich als Kaufmann auch nicht auf der Bärenhaut gelegen habe. Und dann die Betriebskosten, das Gehirnschmalz, das man verbraucht, der Gedanke, dass es nun kein Aufhören mehr gibt, solange noch Schulden zu tilgen und Kinder zu ernähren sind — die Furcht, dass meine Bücher matter und öder werden könnten, je mehr dieser Krater hier ausbrennt — (er deutete auf sein Herz) — ich sage Ihnen, lieber Renard, da gibt es schlaflose Nächte, — Aufregungen, die vielleicht schlimmer sind als die eines Börsenspekulanten, ja — hören und staunen Sie! — es gibt sogar litterarische Gewissensbisse! Glauben Sie mir, ich renommiere nicht!

    „Wollen Sie mich damit abschrecken von meinem Vorhaben?" unterbrach ihn Gisbert.

    „Nein, im Gegenteil, ich wollte vielmehr mit allem Nachdruck erklären, dass ich trotz alledem und alledem dem Schicksale dankbar bin, das mich so gewaltsam aus dem Kaufmannsstande hinauswarf. Es liegt nun einmal in der produktiven Arbeit eine reinigende, erhebende Kraft, die ... Ja, aber was ich sagen wollte: Ihr Fall ist ein ganz andrer."

    „Ich möchte wissen, wieso?"

    „Nach allem, was Sie mir da erzählt haben über Ihre kleine Kalamität, haben Sie wirklich — nehmen Sie mir es nicht übel! — einen Narrenstreich damit begangen, dass Sie darum so mutwillig sich selber den Kredit abschneiden. Ich bitte Sie, wenn man ein so glänzendes Geschäft in Aussicht hat, wie Sie mit dem Verkauf des bewussten Terrains — und ich kann Ihnen sagen, die Sache ist faktisch vollkommen sicher; in ein paar Wochen schon kann die Entscheidung kommen — dann ist es doch geradezu unverantwortlich gehandelt, besonders gegen die Kinder, wenn Sie so mir nichts dir nichts die Flinte ins Korn werfen, anstatt Ihren Kredit in Anspruch zu nehmen! Wenn das Geschäft zu stande gekommen ist, dann können Sie ja nicht nur ihre Verbindlichkeiten mit Leichtigkeit einlösen, sondern Sie bleiben dann immer noch ein recht wohlhabender Mann. Dann wäre es Zeit gewesen, sich von den Geschäften zurückzuziehen und sich der Muse in die Arme zu werfen. Glauben Sie mir, ein Schriftsteller, der es nicht nötig hat, dem wird es auch unendlich viel leichter, ein Künstler zu bleiben, als unsereinem! Und Sie ziehen sich ohne alle zwingende Notwendigkeit von der Gesellschaft zurück, die Sie auf Händen trägt, verkaufen Ihre Kostbarkeiten, verkriechen sich in die Flemmingstrasse ..."

    „Mit einem Wort: ich bin verrückt geworden! warf Gisbert voll Bitterkeit dazwischen. „Nun, Sie werden wohl recht haben, lieber Freund, obschon. ... Wenn Sie wüssten. ... Man kann das nicht so sagen, was alles ... Er brach ab und ging schweigend, nervös die Unterlippe nagend, neben seinem grossen Freunde her. Er hatte ihm in Bezug auf die Ursache seines Verlustes nicht die Wahrheit gesagt; er hatte ihm vor allen Dingen verschwiegen, ein wie schlechtes Gewissen er in seiner Eigenschaft als angeblicher Eigentümer jenes grossen Grundstückes hatte, das ihm voraussichtlich bald ein neues Vermögen einbringen sollte; verschwiegen hatte er ihm auch, eine wie furchtbare Zuchtrute die Mitwisserschaft des edlen Agenten Feilchenfeld für ihn geworden war, und dass er die Rache dieses Menschen erst jüngst von neuem heraufbeschworen hatte durch seine Weigerung, das Grundstück jetzt zu verkaufen, wozu gerade Grey die Veranlassung gewesen war. Renard wirbelte der Kopf, sein Herz schlug laut vor Erregung und auf seine bebenden Lippen wollten sich Worte legen, die seine schwere Schuld verrieten und des erfahrenen Freundes Mitleid und guten Rat anriefen.

    Zum Glück für den Unbesonnenen nahm da Grey selbst wieder das Wort: „Nehmen Sie mir es sehr übel, lieber Renard, begann er, „wenn ich Ihnen ganz offen sage, was Sie meiner Meinung nach zu diesem unglücklichen Schritt getrieben hat?

    „Bitte sehr, ich nehme Ihnen nichts übel."

    „Nun denn, offen heraus: Ich halte Ihre entzückende Madonna für die Hauptschuldige! — Habe ich recht?"

    Gisbert zuckte die Achseln und seufzte statt aller Antwort.

    „Ja, lieber Freund, dass ich Ihnen noch eine Vorlesung über die Weiber würde halten müssen, das hätte ich mir auch nicht träumen lassen! Sie wissen ja, wie sehr gerade ich das Geschlecht verehre — und nun gar, seit ich Dichter bin — entschuldigen Sie das harte Wort! — Schon aus Geschäftsrücksichten verehre ich sie alle, ohne Unterschied des Temperaments, der Komplexion und der Konfession! Aber noch nie bin ich meinem Grundsatze untreu geworden, erstens ’mal: eine Frau nie um Verzeihung zu bitten — denn dann bleibt man sein ganzes Leben lang im Unrecht! — Und zweitens: einer Frau nie Einblick in und Einfluss auf Geschäftsangelegenheiten zu gestatten, denn sonst ist man ein für allemal drunter durch! O weh mir Armen, wenn das die Madonna wüsste, dass ich Sie so gegen sie aufhetze! Ich kann mich freilich auch so ihrer Gunst nicht eben rühmen, aber dann ... Sie sind mir doch wohl böse, Renard, was? Sie haben auch recht — es ist so schön, verliebt zu sein! — Wozu einem glückseligen Blinden den Star stechen wollen?"

    „Nein, nein, ich bin Ihnen durchaus nicht böse, versetzte Gisbert matt lächelnd. „Sie haben es mir ja vorhergesagt, wie es kommen würde mit der ‚kühlen Blonden‘! Erhalten Sie mir nur Ihre Teilnahme. Es könnte kommen, dass ich einmal gute Freunde noch nötiger habe als jetzt!

    Die beiden Männer waren unterdes am Brandenburger Thor angelangt. Hier schieden sich ihre Wege, denn Grey wollte durch den Tiergarten nach Hause spazieren und Gisbert die Pferdebahn nach Moabit besteigen. — —

    Kaum eine halbe Stunde früher hatte auch Lori mit ihren beiden Stiefkindern dieselbe Linie benutzt. Sie war mit ihnen im Tiergarten spazieren gegangen; der kleine Walther, der ein wenig kränkelte, sollte sich in der frischen Luft des ersten sonnenhellen Apriltages wieder rote Backen holen. Aber das Kind war verdrossen und unlustig zum Spielen. Der kleine Wildfang, der sonst so unermüdlich seinen Reifen schlug oder sich mit Schwester Evchen jagte, hängte sich heute schwer an das Kleid seiner Stiefmama; er klagte über Schmerzen im Halse, über Schwäche in allen Gliedern und erklärte bald, dass er nicht mehr laufen möge.

    Als Lori den Pferdebahnwagen am Brandenburger Thor bestieg, wurde sie von zwei auf der hinteren Plattform stehenden jungen Männern sehr höflich begrüsst. Sie dankte, wie das ihre Art war, mit kaum merklichem Kopfnicken. Das Gesicht des einen kam ihr bekannt vor, doch wusste sie nicht, wo sie es gesehen habe. Sobald Plätze im Wagen frei wurden, setzten sich die jungen Leute hinein und Lori bemerkte, dass sie von ihnen aufmerksam betrachtet, ja augenscheinlich bewundert wurde. Doch der Zustand des kleinen Walther begann sie derart zu ängstigen, dass sie darauf nicht mehr sonderlich acht gab. Stirn und Wangen des Kleinen glühten bereits im Fieber — sie konnte es durch den Handschuh hindurch fühlen; er atmete rasch und schmiegte sich eng an ihre Seite.

    Als sie an der Werftstrasse mit den Kindern aussteigen wollte, taumelte Walther so sehr, dass sie

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