Eisnächte
Von Ditte Birkemose
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Buchvorschau
Eisnächte - Ditte Birkemose
Agus
In dem Moment, in dem die Verstorbene aus der Kirche getragen wurde, setzte das Seelenläuten ein, und es dauerte an, bis der Sarg in der Erde war. Die Tote schaute nach Osten, und nun ertönten die drei mal drei Glockenschläge.
Von der Erde bist du gekommen
zur Erde wirst du zurückkehren
aus der Erde wirst du auferstehen.
Kamma.
Dunkle Wolken trieben über den Himmel, ab und zu brach ein Sonnenstrahl hindurch. Der Kies knirschte unter meinen Füßen. Mit einem Gefühl von Unwirklichkeit verließ ich langsam den Friedhof und dachte dabei an sie. An Kamma.
Sie war zweiundsiebzig gewesen, als wir uns vor fast zehn Jahren in dem Krankenhaus kennengelernt hatten, in dem wir beide behandelt wurden. Miriam, meine Ärztin, hatte einen Knoten in meinem Unterleib entdeckt. Ich war damals ganze Krankenschwester und halbe Theologin und hatte beides satt. Kamma war die Gebärmutter entfernt worden, und die Ärzte hatten ihr von Hormonpräparaten abgeraten. »Kann mein Sexualleben darunter leiden, verliere ich jetzt vielleicht die Lust?«, fragte sie bei der Visite. Und der Arzt antwortete behutsam, das könne man noch nicht sagen, sie müsse einfach abwarten. »Ja, ja«, seufzte Kamma, die damals einen Liebhaber hatte, der fünfzig und Philosoph war. »Dann muss ich mich eben mit der Philosophie begnügen.«
Ich lächelte und sah sie vor mir. Kamma war ein liebenswürdiger Mensch gewesen, eine suchende Seele mit dem Lebenshunger einer viel jüngeren Frau. Und nicht zuletzt war sie wohlhabend gewesen, also hatte sie ihren Lebenshunger stillen können. Als sie damals ins Krankenhaus musste, war ihr Mann seit neun Jahren tot, und sie hatte »endlich Lebensfreude gefunden«, wie sie es ausdrückte.
Die Erinnerungen zogen an mir vorbei, und mir fiel ein, dass Kammas guter Freund Carl, der seinerzeit als Chauffeur ihres Mannes gearbeitet hatte, sie oft im Krankenhaus besuchte. In der Regel brachte er einen Korb mit Wein und allerlei Leckerbissen mit, und dann brach in dem Sechsbettzimmer der große Jubel aus. Abends saßen wir in unseren scheußlichen Morgenröcken da und berauschten uns an Schokolade, frechen Witzen und Wein. An einem solchen Abend hatte Kamma plötzlich vorgeschlagen, ich sollte mich als Privatdetektivin etablieren, wie ich es schon oft erwähnt hatte, in leerstehenden Räumen in ihrem Bürohaus in der Smallegade in Frederiksberg. »Über den Preis werden wir uns schon einig«, zwitscherte sie. »Wenn du mir von den spannenden Fällen erzählst, dann kriegst du die Bude für ’nen Apfel und ’n Ei.«
Und so kam es dann auch. Sowie ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, machte ich mich an die Einrichtung meines Büros. Nach zwei hektischen Wochen konnte ich das Schild an der Tür anbringen: Kit Sorel, Privatdetektivin, Mitglied im Verband Dänischer Detekteien.
Die Jahre waren vergangen, viel war geschehen, aber Kamma und ich blieben in Verbindung. In vieler Hinsicht war sie für mich wie eine Mutter gewesen. Deshalb hatte es mich wie ein Schock getroffen, als Carl anrief und von ihrem Tod berichtete. Er hatte sie gefunden, als er ihr im Garten aushelfen sollte. Sie saß im Schlafzimmer ihrer pompösen Villa am Femte Juni Plads, in einem Rüschennachthemd, hatte ihre geliebte Waldkatze Aida auf dem Schoß und war friedlich eingeschlafen.
Ich holte tief Luft und überquerte die Straße. Mein Blick war von Tränen verschleiert, und ich sagte mir, dass beim Tod nur der Körper verschwand, der Geist war ja niemals sichtbar gewesen. Kamma würde immer in meinen Gedanken sein ...
Ein gealtertes Puppengesicht, so sah ich sie.
»Noch Tee?« Sie hob die Teekanne, schaute mich fragend an.
Ich legte die Hand über die Tasse, schüttelte den Kopf.
»Nein, danke.«
Sie ließ die Teekanne sinken und räusperte sich. Ganz offensichtlich fühlte sie sich peinlich berührt. Meine letzte Frage hing noch immer unbeantwortet in der Luft: »Könnte es eine natürliche Erklärung dafür geben, dass Sie seit über einem Monat nichts von Ihrer Tochter gehört haben?«
»Durchaus nicht«, sagte sie endlich. »Auch, wenn die Polizei das so darzustellen versucht.« Sie wischte sich einen unsichtbaren Fussel vom Jackenärmel. »Wirklich, Julie und ich hatten zwar eine kleine Meinungsverschiedenheit, aber ...«
»Müssen wir das erwähnen?«, fiel er ihr ins Wort und sah sie aus schweren Augen an. Er war blass vor Sorge und Schlafmangel.
»Es ist wichtig, dass Sie mir alles erzählen«, sagte ich in meinem pädagogischsten Tonfall.
»Aber das hatte wirklich keine Bedeutung.« Ein Lächeln huschte ihr über die Lippen und verschwand in einer hilflosen Grimasse. »Es war eigentlich eher so eine Diskussion zwischen Mutter und Tochter.«
»Hör jetzt auf, Kirsten.« Er seufzte. »Du hast ihr wegen der Abtreibung Vorwürfe gemacht ...«
»Abtreibung?« Ich hob die Augenbrauen.
Ein wenig Tee schwappte auf die Untertasse, als sie mit einer heftigen Bewegung die Tasse wegstellte.
»Das war ein andermal«, erklärte sie. »Und ich finde es einfach übel.« Sie ließ sich auf dem Sofa zurücksinken und schaute hinaus in den Garten. »Ich bin zwar für Abtreibungsfreiheit, aber ich finde auch, dass man zu einem gewissen Zeitpunkt Verantwortung übernehmen sollte.« Ihre Stimme war ein wenig unsicher geworden. Sie räusperte sich und schob ihre Haarspange gerade. »Verstehen Sie, was ich meine?« Sie schaute mich an.
Wir saßen im Gartenzimmer des Ehepaars Kirsten und Bo Dam Sørensen in einer Villa in Dalby. Am Vortag hatten sie sich an mich gewandt, da sie sich Sorgen machten, weil sie seit etwas über einen Monat nichts mehr von ihrer Tochter Julie, ihrem einzigen Kind, gesehen oder gehört hatten. Sie war nicht in ihrer Wohnung, und die Eltern hatten nicht die geringste Vorstellung, wo in aller Welt sie stecken könnte. Natürlich waren sie längst bei der Polizei gewesen, die offenbar glaubte, dass Julie sicher ihren Freund, einen gewissen Carel, besuchte, der in Amsterdam wohnte, und wenn nicht, dass sie dann wohl beruflich irgendwo im Ausland unterwegs sei.
Das glaubte das Ehepaar jedoch nicht. Nicht zuletzt, weil Bo vor einer Woche sechzig geworden war, und es sah ihrer Tochter einfach nicht ähnlich, zu diesem Fest nicht zu erscheinen. So war sie nicht. So war sie ganz einfach nicht. Julie war fünfunddreißig und arbeitete als feste freie Fotojournalistin für eine große Kopenhagener Tageszeitung. Und ihren Eltern zufolge war sie eine äußerst pflichtbewusste und verantwortungsvolle Frau. Abgesehen offenbar von der Sache mit der Abtreibung ...
Ich fing Kirstens Blick ein. »Ja, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte ich und streckte die Hand nach meinem Notizblock aus. Es war ein kompliziertes Thema, und ich war nicht hergekommen, um darüber zu diskutieren.
»Ansonsten haben Julie und ich doch miteinander gesprochen«, räumte Kirsten jetzt ein. »Am Telefon meine ich. Wir sind also nicht zerstritten oder so.«
»Ihr wart auch im Café«, warf er ein.
»Ja ...«
»Weißt du noch, wann das war?«
»Nein.« Sie kratzte sich nachdenklich am Arm. »Aber ich glaube, es war an einem Sonntag.«
»Das stimmt«, bestätigte er und streckte die Beine aus. »Es war Sonntag, der Dreizehnte. Ich war nämlich bei einer Versammlung im Golfclub.«
Ich blätterte in meinem Kalender.
»Also im Juli?«
»Ja.«
Wir schwiegen für einen Moment.
Ich betrachtete das Foto von Julie. Sie hatte lange blonde Haare, blaue Augen und hohe Wangenknochen. Ich hätte sie nicht unbedingt als Schönheit bezeichnet, aber sie war anziehend. An einer Goldkette um ihren Hals hing ein kleines emailliertes Dagmarkreuz.
»Das Bild ist vor einem halben Jahr aufgenommen worden«, schaltete Bo sich ein. »Heute hat sie ganz kurze Haare.«
»Ja?« Kirsten seufzte. »Ich finde das wirklich schade.«
Ich unterdrückte ein Lächeln. Sie hatte selbst lange blonde Haare, die sie zu einer gewollt achtlosen Frisur fast mitten auf dem Kopf zusammengebunden hatte.
»Und welchen Eindruck hatten Sie bei Ihrem letzten Gespräch?«, wollte ich wissen. »Kam sie Ihnen traurig vor oder ...«
»Überhaupt nicht.« Kirsten nahm sich ein Schnittchen und schob die Platte zu mir herüber. »Nun greifen Sie doch endlich zu.«
»In letzter Zeit war sie einfach in ihre Arbeit vertieft. Es war irgendwas mit dieser Umweltorganisation ...« Bo runzelte die Stirn. »Wie heißt die doch noch gleich?«
Kirsten zuckte mit den Schultern.
Er überlegte kurz, fuhr sich gedankenverloren mit den Fingern über den Nasenrücken. »Na, jedenfalls war das so, seit sie aus Grönland zurückgekommen ist.«
»Grönland?« Ich sah ihn aufmerksam an. »Wann war das denn?«
»Das muss jetzt so ungefähr ein halbes Jahr her sein. Sie war mit einem Kollegen dort oben.«
»David.« Kirsten fegte einige Krümel in ihre Hand, und ihr Armband klimperte dabei. »Sie war mit einem Journalisten namens David Ballum da oben. Das weiß ich noch, weil er eines Nachmittags aufgetaucht ist, als ich bei ihr war, um für Vorhänge Maß zu nehmen.« Ihre Augen funkelten ein wenig, und die Andeutung eines Lächelns huschte über ihre Lippen. »Eigentlich ein sehr sympathischer Mann«, fügte sie hinzu. »Das war jedenfalls mein Eindruck.«
Ich machte mir einige Notizen. »Und was wollten sie in Grönland?«, hakte ich nach.
»Sie hat mir nicht sehr viel erzählt, aber ...« Bo, der eine Weile an seiner Packung Cecil herumgespielt hatte, griff jetzt nach dem Feuerzeug, zündete sich eine Zigarette an und machte einen Lungenzug. »Es ging wohl um diese CIA-Flugzeuge, die da oben zwischenlanden.«
Kirsten musterte ihn missbilligend, dann stand sie auf und öffnete ein Fenster. »Es ging um irgendwelche Gefangene«, sagte sie über die Schulter hinweg.
»Terroristen, es waren Terroristen, die in unterschiedliche Gefängnisse gebracht werden sollten.« Er streifte die Asche ab.
»Aber das war doch geheim«, erwiderte sie. »Das stand so in der Zeitung. Und es war doch auch ungesetzlich?« Sie blickte mich fragend an.
»Es waren Terroristen«, wiederholte er und zog wieder an seiner Zigarette.
»Ja, was weiß ich.« Sie schüttelte den Kopf und ließ sich wieder auf das Sofa sinken. »Es passiert ja so viel ...« Sie verstummte abrupt, und ihre Augen wurden blank. »Das Schlimmste ist die Ungewissheit«, fügte sie leise hinzu.
Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und legte seine Hand auf ihre. »Jetzt wollen wir mal den Teufel nicht an die Wand malen. Vielleicht hat die Polizei recht und sie hat irgendeinen Auftrag angenommen, wäre nicht das erste Mal.« Er zögerte. »Oder sie ist in Amsterdam. Ihr Auto ist doch da unten, und das könnte darauf hinweisen ...«
»Aber sie hätte uns etwas gesagt.« Kirsten wurde lauter. »Sie ruft immer an und sagt Bescheid, ehe sie verreist. Immer!« Ihre Lippen zitterten. »Und sie würde nicht im Traum auf die Idee kommen, deinen Geburtstag zu verpassen, Bo.«
Sein Gesicht verdüsterte sich. Er öffnete den Mund, blieb aber stumm.
»Und die Polizei unternimmt nichts.« Sie rang auf ihrem Schoß die Hände.
»Haben Sie den Schlüssel zu ihrer Wohnung?«, fragte ich vorsichtig.
Sie erhob sich. »Der hängt im Schrank in der Diele. Möchten Sie den haben?«
»Ja, wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern ...«
»Natürlich«, unterbrach sie mich, und beide nickten.
Er setzte sich anders und starrte vor sich hin. »Das ist doch klar«, murmelte er und versank in Gedanken.
»Wann waren Sie zuletzt in der Wohnung?«
Sie schien zu zögern. »Das weiß ich nicht mehr«, sagte sie dann und pustete sich eine Locke aus der Stirn. »Wir waren nur einmal da. Aber in letzter Zeit haben wir jeden Tag telefoniert, morgens, mittags und abends ...«
Um mir einen Eindruck zu verschaffen, wer diese Julie eigentlich war, stellte ich alle möglichen Fragen, die mir gerade in den Sinn kamen. Und die beiden antworteten bereitwillig. Irgendwann holte Kirsten dann auch einige Alben und zeigte mir Fotos von der Konfirmation ihrer Tochter, von ihrer Abiturfeier und ihrer Hochzeit.
»Wie lange war sie verheiratet?«, fragte ich.
»Das hat nur drei Jahre gehalten.« Kirsten seufzte und schüttelte den Kopf. »Aber wir mochten ihn nicht, und da ...« Sie reckte das Kinn.
»Ach, ich weiß nicht.« Bo griff wieder nach den Zigaretten. »Henrik konnte durchaus auch sympathisch sein ...« Er klang nachsichtig.
»Ach, du nun wieder!« Sie kicherte und schaute ihn an. »Ich muss schon sagen, es wurden andere Saiten aufgezogen ...«
Sie wechselten Blicke, und Bo schmunzelte.
Ich spürte zwischen ihnen einen Funken und dachte, dass sie sich trotz der langjährigen Ehe und der Unterschiede, die sofort ins Auge sprangen, noch immer erotisch zueinander hingezogen fühlten. Inzwischen waren sie nicht mehr so angespannt wie zu Beginn meines Besuchs, und ich glaube, sie hatten irgendwie das Gefühl, dass Julie während unseres Gesprächs näher kam, fast so, als sei sie mit uns hier im Wohnzimmer. Deshalb fühlten sie sich sicherer. Aber Angst und Anspannung kehrten in dem Moment zurück, in dem ich mich zum Aufbruch bereitmachte.
»Möchten Sie nicht noch eine Tasse Tee?« Kirsten blickte mich flehend an.
Eine Welle von Mitleid durchflutete mich. Kinder sind immer die Achillessehne der Eltern, egal, wie erwachsen sie auch sein mögen. Trotzdem musste ich ihr Angebot ablehnen. Marie wartete draußen im Auto, es ging auf fünf Uhr zu, und ich musste noch einkaufen.
Neben einem Foto und Julies Wohnungsschlüsseln bekam ich die Telefonnummern von einigen Freunden und Kollegen. Leider wussten die Eltern nicht viel über den Liebhaber Carel. Nur, dass er Jazzmusiker war und am Stadtrand von Amsterdam wohnte.
»Sie kennen sich ja noch nicht mal ein Jahr«, erklärte Kirsten, »und wir sind ihm noch nie begegnet.«
Ein Schatten glitt über Bos Gesicht. »Er hätte zu meinem Geburtstag kommen sollen«, fügte er mit einer vor Sorge gepressten Stimme hinzu.
Ich nickte und sah ihn teilnahmsvoll an. Dann stand ich auf und griff nach meiner Tasche. »Vielleicht weiß jemand von ihren Kollegen, wo er wohnt«, sagte ich und reichte ihnen zum Abschied die Hand.
»Rufen Sie sofort an, wenn Sie etwas herausfinden.« Kirsten sah mich mit unruhigen Augen an.
Bo legte ihr den Arm um die Schultern.
Es nieselte, und in der Luft hing der Geruch von nasser Erde. Ich schüttelte mich und schob die Hände in die Jackentaschen. Auf der Straße fuhr ein Moped vorüber, und aus einem Garten in der Nachbarschaft war eine Motorsäge zu hören. In Gedanken verloren ging ich über den Plattenweg. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass es ein arbeitsreicher Fall werden würde.
Ein Stück von der Villa entfernt hatte ich mein weißes Wohnmobil abgestellt. Marie schlief auf dem Vordersitz, aber als ich die Tür öffnete, sprang sie auf, wedelte eifrig mit dem Schwanz und leckte mir übers Gesicht.
»Verrückte Töle.« Ich lachte, streichelte sie und griff zur Leine.
Ein Stück weiter entfernt kam eine ältere Frau mit einem Pudel auf uns zu. Sie wurde langsamer und musterte uns besorgt.
Ich war daran gewöhnt, dass Maries Größe auf viele beängstigend wirken konnte, aber sie war der friedlichste Hund der Welt, wie die meisten Broholmer.
»Sie tut nichts«, versicherte ich beruhigend.
Wir blieben einen Moment stehen, damit die beiden Hunde einander beschnüffeln konnten, ehe wir weitergingen.
Kaum hatte Marie ihr Geschäft erledigt, da setzte ich mich hinter das Lenkrad, ließ den Motor an und fuhr zum Nærum Camping, wo ich von März bis Oktober wohnte. Im Winter hieß mein Aufenthaltsort Camping Absalon in Rødovre.
Abgesehen von Marie, war ich wieder allein. Vielleicht war das in Wirklichkeit das, wozu ich mich am besten eignete? Allein zu sein. Ich wusste es nicht. Damals hatte ich voll und fest daran geglaubt, hatte ihm jede Chance und noch mehr gegeben. Wir hatten sogar geheiratet und überhaupt. Irgendwann hatte ich dann auch, aus Notwendigkeit, meine zweifelhafte Karriere als Privatdetektivin an den Nagel gehängt und war in die Welt der weißen Kittel zurückgekehrt, als Nachtwache in einem Pflegeheim. Denn mein damaliger Mann, er hieß Frans, und ich hatten ein Haus in Bagsværd gekauft.
Bagsværd! Meine Güte, man konnte doch schon hören, dass etwas daran nichts Gutes verhieß. Und so war es dann auch gewesen. Trotzdem hatte es fast sieben Jahre gedauert, bis es mir wie Schuppen von den Augen gefallen war. Vielleicht, weil ich die ganze Zeit noch gehofft hatte, dass es irgendwann besser werden würde. Dass hinter der nächsten Straßenecke Friede, Freude, Eierkuchen warteten. Deshalb gab ich mir solche Mühe, dass ich mich unterwegs selbst verloren hatte. Was immer es gewesen sein mag, was ich so unbedingt beweisen wollte, weiß ich wirklich nicht. Aber jedenfalls hatte ich feststellen können, dass ich eine gute Köchin bin, und das kann mir niemand wegnehmen.
So sieht es jedenfalls aus, wenn ich es mal positiv betrachten will.
Denn die Wahrheit klingt nicht gut, vor allem nicht, wenn sie uns selbst trifft. Ich musste dennoch der Tatsache in die Augen schauen, dass ich auf eine seltsame Weise von Gefallsucht überwältigt werde, wenn ich mit einem Mann zusammen bin. Ein Leiden, das weit zurückreichende Wurzeln hat, aber so ist es ja meistens. Jedenfalls werde ich so hellhörig, was noch seine geringsten Bedürfnisse angeht, so dass ich meine ganz vergesse. Und das ist nicht gut, weder für ihn noch für mich. Denn es geht so natürlich nicht weiter, und der arme Mann erleidet einen Schock, wenn das brave Mädchen gefühlsmäßig so ausgehungert ist, von der Arbeit am Projekt Liebe, dass die Hexe plötzlich erwacht und ihre Forderungen geltend macht. Natürlich ging es schief. Es ging sogar zum Teufel, und eines Abends war ich allein und verweint in einem Hotel mit Blick auf eine Optikerwerbung, »Ihr Alter als Rabatt«, und eine unmittelbar bevorstehende Scheidung.
Ich war vierundvierzig und kam mir vor wie ein Fiasko. In einer Zeit, wo viele meiner Altersgenossinnen so etabliert waren, dass sie in luxuriöse Häuser in den warmen Ländern investierten, war ich unbehauster denn je, und Frans und ich mussten bald begreifen, dass ein Haus im Tusindfrydvej in Bagsværd nicht die allerattraktivste Adresse ist, die man sich wünschen kann. Trotz des neuen Daches und allerlei anderer kostspieliger Verbesserungen machten wir beim Hausverkauf keinerlei Gewinn.
Aber in der Not frisst der Teufel Fliegen, und das Wohnmobil wurde meine Rettung.
Nachdem ich rasch im Supermarkt eingekauft hatte, fuhr ich weiter, bog in Skodsberg ab und nahm die Straße durch den Wald. Es regnete nicht mehr. Ab und zu kam die Spätnachmittagssonne hinter einer Wolke hervor und warf ihr rotgoldenes Licht über die Landschaft.
Ich fuhr durch das Tor auf den Campingplatz. Zwar war es erst Mitte August, aber der Vogelgesang war fast verstummt, und viele Sommergäste hatten die Gegend bereits verlassen. Harry, ein pensionierter Volksschullehrer von Ende sechzig, saß vor seinem Wohnwagen und genoss ein Bier. So wie ich war er seit dem März hier, und wenn der Campingplatz Ende Oktober für den Winter dichtmachte, würde auch er zum Absalon Camping in Rødovre übersiedeln. Ich winkte ihm zu, fuhr weiter zu meinem festen Platz und hielt an. Dann öffnete ich die Tür, streckte mich und ließ Marie herausspringen. Sie lief umher und schnupperte am Gras, blieb aber wie immer in der Nähe des Wohnmobils.
Ich blieb eine Weile sitzen und entspannte mich, während ich dem Specht zuhörte, der in der Nähe an einem Baum herumhämmerte. Als Notlösung war der Campingplatz wirklich nicht die schlechteste, die man sich vorstellen konnte. Ich war gern in der Natur unterwegs, und von meinem Platz in einer ein wenig abgelegenen Ecke am Zaun konnte ich jeden Morgen eine kleine Rehfamilie zwischen den Bäumen äsen sehen.
Offiziell wohnte ich bei meinem Sohn Benjamin, der verheiratet war und eine große Wohnung in Frederiksberg besaß. Anfangs hatte er sich übergroße Sorgen gemacht. »Du kannst doch nicht in einem Wohnwagen leben«, hatte er mir vorgehalten, als ich ihm nach der Scheidung meine Pläne offenbart hatte.
»Ich rede nicht von einem Wohnwagen, sondern von einem Wohnmobil«, erklärte ich.
Er machte eine Handbewegung und verdrehte die Augen. »Ist ja wohl dasselbe«, meinte er.
Egal, welche guten Argumente ich ihm auch vortrug, er ließ sich nicht überzeugen. Anders als sein sechs Jahre alter Sohn Sigge. »Spitze, Oma«, jubelte er und sah mich mit strahlenden Augen an.
»Ja, das ist super«, stimmte seine vierjährige Schwester Ursula zu. Sie lächelte selig und strich ihr Kleid glatt. Und meine Schwiegertochter Joan nickte nachdenklich. »Klingt gar nicht so blöd«, gab sie zu.
Mein Magen knurrte vor Hunger. Ich ging in die Küche, leerte meine Einkaufstüten aus und packte alles in den Kühlschrank. Dann verquirlte ich Eier für ein Omelett, zerschnitt einen Salatkopf und öffnete eine Flasche Rotwein.
Beim Essen kreisten meine Gedanken um Julie. Ich legte ihr Bild vor mich auf den Tisch, betrachtete sie eingehend und nippte am Rotwein. Ihr Blick und ihr Lächeln ließen sie selbstsicher wirken. Oder vielleicht eher kompetent? Jedenfalls sah sie aus wie eine Frau, die ihren Wert kennt und mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht. Sie brauchte sicher auch eine gute Portion Selbstbewusstsein, um als Freie arbeiten zu können, und wenn ich ihre Eltern richtig verstanden hatte, fehlte es auch nicht an Aufträgen, also leistete sie sicher gute Arbeit. Vielleicht war sie sogar eine