Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Engel der Stille
Engel der Stille
Engel der Stille
eBook272 Seiten3 Stunden

Engel der Stille

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Kit Sorél, Privatdetektivin und Kettenraucherin aus Leidenschaft, soll ein Auge auf das Anwesen von Hans Ulrik und Simone Berthelsen werfen. Immer wenn die Schwangere junge Frau allein im Haus ist, geschehen merkwürdige Dinge: Die Möbel werden verschoben, Gegenstände werden verlegt, oder Kinderstimmen sind zu hören. Als eines Tages auch noch Simones Kater mit einer Schere im Körper tot aufgefunden wird, sind Kits Fähigkeiten gefragt. Gemeinsam mit Kommissar Carsten Andersen macht sie sich auf die Suche nach dem mysteriösen Unbekannten. Hat vielleicht die Exfrau Hans Ulriks ihre Hände im Spiel? Und wieso verhält sich seine Schwester Vera in letzter so merkwürdig?Erneut ein fesselndes Lesevergnügen mit der smarten Krimiheldin aus Dänemark."Engel der Stille" ist der zweite Band der Kit Sorél-Reihe.IN DIE KIT SORÉL-REIHE AUßERDEM IN SAGA BOOKS LIEFERBARSchwarze MelodieEisnächteAUTORENPORTRÄTDitte Birkemose, studierte Theologie und arbeitete dann mehrere Jahre als Krankenpflegerin und Pädagogin, bevor sie anfing zu schreiben. "Schwarze Melodie" ist ihr erster Krimi, davor hat sie einige Roman und Kinderbücher geschrieben, für die sie auch schon einen Literaturpreis bekommen hat. --- KURZBESCHREIBUNGIm Haus der jungen Familie Berthelsen geht es umheimlich zu: Immer wen die schwangere Simone alleine zu Hause ist, werden wie von Geisterhand Möbel verschoben oder Gegenstände verlegt, sogar Kinderstimmen sind zu hören. Kit Sorél, chaotische Privatdetektivin aus Leidenschaft, ist weder abergläubisch noch sonst leicht einzuschüchtern. Engagiert schreitet sie zur Tat, um den mysteriösen Unbekannten den Garaus zu machen. Dann wird plötzlich Simones Kater ermordet - und Kit Sorél erkennt, dass sie es doch mit gefährlichen Gegnern zu tun hat.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum8. Mai 2015
ISBN9788711451779
Engel der Stille

Mehr von Ditte Birkemose lesen

Ähnlich wie Engel der Stille

Ähnliche E-Books

Krimi-Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Engel der Stille

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Engel der Stille - Ditte Birkemose

    Saga

    »Das kannst du vergessen!« Sie riß ihren Arm zurück. Der junge Mann hinter dem Tresen brachte die Gläser auf einem Tablett zum Klirren und schaute neugierig zu uns herüber.

    »Deine Mutter macht sich Sorgen um dich«, sagte ich. »Sie würde gern mit dir sprechen.«

    »Und was geht dich das an?« Sie starrte mich an. »Wer bist du überhaupt?«

    Sie war klein und ein wenig untersetzt, und ihr ovales Puppengesicht schaute ziemlich mürrisch drein.

    »Ich bin Detektivin«, antwortete ich. »Deine Eltern haben sich an mich gewandt...«

    »Die haben kein Recht, sich in mein Leben einzumischen«, sie warf den Kopf in den Nacken. »Ich bin über achtzehn.«

    »Sie möchten wissen, wo du bist«, mein Blick streifte die blauen Flecken an ihrem Oberarm. »Vielleicht könntest du dich mal mit ihnen treffen und...«

    »Ich wette, daß der Alte dahintersteckt«, fauchte sie und kniff die Augen zusammen.

    »Bestell ihnen einen schönen Gruß und sag, sie brauchten sich keine Sorgen zu machen.« Ihre Freundin zog den Kaugummi aus dem Mund und warf ihn in den Aschenbecher. »Janne kommt sehr gut zurecht.«

    Wir standen im ziemlich dunklen hintersten Raum des Café Bankeråt.

    »Das kann Janne ihren Eltern doch selber sagen«, antwortete ich ruhig.

    »Nie im Leben!« Janne griff nach ihrem Mantel.

    »Warum nicht?«

    »Ich habe ihnen nichts zu sagen«, die beiden Freundinnen wechselten einen Blick. »Deshalb.«

    »Du brauchst doch nicht...«, fing ich an.

    Jahne sprang plötzlich auf, schnappte ihre Tasche und stürzte an mir vorbei.

    Ich trat einen Schritt vor.

    Ihre Freundin vertrat mir den Weg. »Laß sie in Ruhe«, sagte sie wütend.

    Wir schauten einander einen Moment lang an. Energisch schob ich sie dann beiseite.

    Ich lief am Tresen vorbei, riß die Tür auf und stieß mit einem jungen Mann zusammen, der gerade das Café betrat.

    »’tschuldigung«, murmelte ich.

    Er fuhr sich mit den Fingern durch seine langen braunen Haare, lächelte mir zu und rief nach seinem Dackel, der inzwischen seine Schnauze in meinen Mantel gebohrt hatte und den Geruch offenbar interessant fand.


    Ich schaute mich auf der Straße um. Janne war verschwunden.

    »Verdammt«, für einen Moment blieb ich ratlos stehen.

    Es nieselte, und in der Luft hing der Geruch von nassem Asphalt und Auspuffgasen.

    Dann ging ich langsam die Nansensgade hinunter.


    »Können Sie nicht versuchen, sie zu überreden?« Randi Nielsen blickte mich flehend an.

    Ich saß bei Jannes Eltern, die in einer Reihenhaussiedlung in Hvidovre wohnten.

    »Dann soll sie doch sehen, wie sie zurechtkommt«, Jan Nielsen erhob sich und stieß dabei so heftig gegen den Couchtisch, daß die Tassen in die Luft hüpften. »Wartet nur«, er stampfte im Zimmer hin und her. »Sobald auch nur das kleinste Problem auftaucht, kommt sie angerannt...«

    Ich sagte nichts dazu, ich dachte nur an die blauen Flecken auf Jannes Arm und blickte ihn an. Sein kariertes Hemd spannte um seinen Bauch, der über seinem Gürtel hervorquoll. Er war Anfang Fünfzig, mittelgroß und hatte schüttere braune Haare.

    »Hör doch auf, Jan«, Randi Nielsen klimperte nervös mit den Augen. »Du wolltest doch selber...«

    »Was sagst du da?!« Wütend starrte er sie an. »Warst du das denn nicht, die mir mit all ihren Horrorgeschichten von Drogen und Christiania in den Ohren gelegen hat? Und außerdem...«, er kratzte sich am Bauch, »wenn wir erst ihre Adresse haben, dann können wir ja selber...«

    »Ich weiß nicht, wo sie wohnt«, log ich. »Ich habe sie in einem Café in einer Gegend aufspüren können, in der einige von ihren Freunden wohnen.«

    Er schnaubte, ließ sich in einen Sessel fallen und streckte die Beine aus.

    »Würden Sie noch einen Versuch machen?« Randi Nielsen beugte sich vor und legte mir die Hand auf den Arm. Ihr Zeigefinger war gelb vom Nikotin. »Wir bezahlen Sie natürlich«, fügte sie mit einem Seitenblick auf ihren Mann hinzu.

    »Natürlich«, ich lächelte.

    Jan Nielsen räusperte sich und wackelte mit dem Fuß. »Was sind wir Ihnen bisher schuldig?«

    Ich gab ihm die Rechnung, die er eingehend studierte. Nach einigen Minuten erhob er sich und ging ins Schlafzimmer, um sein Scheckheft zu holen.

    Ich ließ mich im Sofa zurücksinken, meine Blicke streiften umher. »Aber schien es ihr denn einigermaßen gutzugehen?« fragte Randi Nielsen mit leiser Stimme.

    »Ja«, antwortete ich. »Den Eindruck hatte ich.«

    »Sie haben ja keine Ahnung«, sie verstummte und biß sich auf die Lippen.

    Ich blickte sie abwartend an.

    Randi Nielsen war Ende Vierzig, eine Spur übergewichtig, und sie wirkte müde mit ihrer gebückten Körperhaltung. Ein paar schlaffe Locken in ihren blonden Haaren erzählten von einer alten Dauerwelle.

    Sie öffnete den Mund und wollte gerade etwas sagen, als Jan Nielsen zurückkehrte und einen Scheck auf den Tisch warf.

    Ich hatte das Gefühl, daß dieses Ehepaar ein Spiel spielte, das mich nicht unbedingt etwas anging, und deshalb steckte ich den Scheck ein und stand auf.

    »Ich rufe an, sobald ich etwas Neues weiß«, sagte ich und verabschiedete mich.

    Randi Nielsen lächelte schwach, ihr Ehemann grunzte.

    Ludmilla schwebte über unseren Häuptern.

    Ich steckte die Hände in die Taschen und schaute in den blaßgrauen Himmel. Es war Anfang November, die Luft war gesättigt mit dem Duft von Erde und feuchtem Holz, und über dem Waldrand hing ein leichter Dunst.

    Ingrid stand mitten auf dem Feld und schwenkte die Falkenfessel. Ihre grüne Jacke wurde in der Taille von einem Ledergürtel zusammengehalten, sie trug ein Paar kurze weiße Gummistiefel.

    Ludmilla zog langsam ihre Kreise, dann ließ sie sich fallen und schlug die Krallen in das Stück Fleisch, das an der mit Federn besetzten Lederschlinge befestigt war.

    »Ist sie nicht wunderschön?« fragte Kamma leise und schob ihren Arm unter meinen.

    Ich nickte. Der Jagdfalke auf Ingrids behandschuhter Hand verzehrte nun seine Beute, ein großes Stück Fleisch von einem der Hühner, die an diesem Morgen geschlachtet worden waren.

    »Ludmilla ist sehr scheu, nur Ingrid darf mit ihr trainieren«, erzählte Kamma. »Wenn ich hier bin, kümmere ich mich immer um Isolde. Das ist ein Zwergfalke, und sie wiegt bei weitem nicht soviel wie Ludmilla. Und das ist mir nur recht«, sie fuhr sich mit den Fingern durch ihre kurzgeschnittenen braunen Locken.

    Ich blickte in ihre himmelblauen Augen und lächelte. Meine Gedanken wanderten um fast ein Jahr zurück. »Nach dem Tode meines Mannes habe ich dann endlich meine Lebensfreude wiedergefunden«, hatte Kamma gesagt und mich mit diesem treuherzigen Blick bedacht. Wir lagen beide im Frederiksberg-Krankenhaus, dort hatten wir uns kennengelernt. Als ich, erfüllt, wie ich damals von meinen Plänen war, ihr erzählte, daß ich meine eigene Detektei eröffnen wolle, war sofort ihr Interesse geweckt. Sie bot mir sofort an, ein kleines Büro in einem Haus in der Smallegade zu mieten, das ihr gehörte. Und so kam es dann auch. Ich richtete das Büro ein, das aus einer Wohnung von zwanzig Quadratmetern, einer Kochnische von der Größe einer Besenkammer und einer Toilette im Treppenhaus bestand, und befestigte ein Schild an der Tür: Kit Sorél, Privatdetektivin.

    Das war der Anfang meiner Freundschaft zu Kamma, einer ausgesprochen wohlhabenden Frau von zweiundsiebzig Jahren, und einer Persönlichkeit mit einer Unzahl von überraschenden Facetten.

    Vor etwas über einer Woche hatte sie mich in meinem Büro angerufen.

    »Liebster Schatz, ich will dich nicht stören«, erklärte sie mit ihrer aristokratischen Nasalstimme. »Aber ich habe mir überlegt...«, sie legte eine Kunstpause ein.

    Ich sah sie in ihrem Schlafzimmer in ihrer pompösen Wohnung am 5. Juni Plads vor mir, in ihrem Spitzennachthemd und mit Aida, ihrer Waldkatze, auf dem Schoß.

    »Ja?« Ich streckte die Hand nach meinen Zigarettenpäckchen auf dem Schreibtisch aus. Schwere Schritte polterten durch das Treppenhaus – der Zeitungsbote, der soeben das Frederiksberg Bladet durch meinen Briefschlitz geworfen hatte.

    »Du mußt unbedingt Ingrid kennenlernen«, sagte Kamma ohne weitere Einleitung. Ihre Stimme klang wirklich eindringlich. Ich runzelte die Stirn, was hatte sie wohl wieder ausgeheckt? »Ingrid?« fragte ich vorsichtig. »Wer ist das?«

    »Sie ist Falknerin«, antwortete Kamma, als ob das alles erklärte.

    »Ach«, ich starrte den Schreibtisch an, und sofort lenkte mich die grausame Realität meines Haushaltsplans ab, den ich gerade aufzustellen versucht hatte, als das Telefon klingelte. Ich schaute ganz schnell in eine andere Richtung.

    »Ich bin ihr vor einigen Jahren in Schottland begegnet«, erzählte Kamma. »In der British School of Falconery.«

    Meine Augenbrauen jagten nach oben. »Was in aller Welt hast du denn da gemacht?«

    »Aber Kitchen«, sie lachte nachsichtig. »Natürlich war ich auf Falkenjagd.«

    »Ach was!« Ich staunte. »Das wußte ich nicht... daß du auf Jagd gehst, meine ich.«

    »Nicht auf Jagd«, korrigierte sie. »Auf Falkenjagd.«

    »Falkenjagd«, wiederholte ich brav. Kamma schien in einer unberechenbaren Stimmung zu sein.

    »Aber hör zu«, sie räusperte sich. »Die Sache ist so, ich will Ingrid am nächsten Donnerstag besuchen. Wir essen dann immer zusammen... Brote und kleine warme Gerichte... möchtest du nicht mitkommen? Monica ist auch dabei«, sie sagte das ganz leichthin.

    Monica, eine Chilenin von Anfang Fünfzig, ist Kammas Haushaltshilfe, Friseuse und Spanischlehrerin.

    »Doch... vielleicht«, antwortete ich zögernd.

    »Ehrlich gesagt, du würdest es nicht bereuen«, sagte Kamma.

    »Und... warte mal... doch, wirklich, jetzt kommt mir eine Idee«, sie unterbrach sich.

    »Ja?« Ich schlug die Beine übereinander, ließ mich im Sessel zurücksinken und wartete. Kamma antwortete nicht gleich.

    »Liebste«, sagte sie dann endlich. »Wenn du mitkommst, kannst du dann nicht auch gleich fahren? Ich meine... dann muß ich Carl nicht behelligen.« Das letzte kam so ganz en passant.

    Ich lächelte schief.


    Kammas guter Freund Carl war seinerzeit der Chauffeur ihres Mannes gewesen. Dieses Dienstverhältnis war zwar schon seit mehreren Jahren beendet, aber noch immer erwies er ihr kleine Dienste, die neben Gartenarbeit oft einen gewissen Bezug zu seinem alten Job als Chauffeur aufwiesen.

    Es kam so, wie Kamma sich das gedacht hatte.

    »God bless you«, sagte sie und legte auf.


    Am Donnerstag früh fuhr ich dann zum 5. Juni Plads, um sie abzuholen.

    Sie wartete schon vor dem Haus, mit einem großen Korb in der Hand und einem munteren Funkeln in den Augen.

    »Guten Morgen, mein Herzchen.«

    Ich gähnte. »Guten Morgen«, murmelte ich und betrachtete sie verschlafen. Sie trug eine praktische, ein wenig abgenutzte blaue Jacke, lange Hosen und bequeme Laufschuhe.

    Sie stellte den Korb auf den Rücksitz. »Lachs, Schinken und Brie«, zählte sie mit breitem Lächeln auf.

    »Das klingt wunderbar, aber...«, ich blickte sie besorgt an. »Ich habe nur Frikadellen...«

    »Kitchen, es gibt von allem genug, mach dir da mal keine Sorgen...«, sie schnürte ihre Jacke zusammen, setzte sich neben mich und zog die Autotür ins Schloß. »Wir müssen zuerst nach Østerbro, Århusgade 22. Da wohnt Monica.«

    »Alles klar«, ich nickte.

    »Es muß phantastisch sein, den Führerschein zu haben«, Kamma steckte sich einen Zigarillo an und streckte die Hand nach dem Aschenbecher aus.

    »Mm«, ich drehte und fuhr den C. F. Richsvej hinunter.

    Ich hatte meinen Wagen, einen roten Renault, zwei Jahre zuvor in einem Waschpulverpreisausschreiben gewonnen und damals dann auch meinen Führerschein gemacht.

    »Aber vielleicht bin ich ja zu alt«, Kamma richtete ihren fragenden Blick auf mich.

    »Ja«, sagte ich ganz schnell. »Es wäre sicher keine gute Idee...«

    Als wir vor der Århusgade 22 hielten, war weit und breit keine Monica zu sehen.

    »Vielleicht verspätet sie sich«, meinte Kamma. »Sie hat ihre Mutter zu Besuch.«

    »Lebt die in Dänemark?«

    »Ja. Nach dem Tod ihres Mannes vor ungefähr einem Jahr ist sie nach Odense übergesiedelt. Dort wohnt Monicas Bruder.«

    »Ach.« Ich legte die Arme auf das Lenkrad.

    »Drück mal auf die Hupe«, schlug Kamma nun vor.

    Ich schaute verstohlen auf die Uhr. Es war halb acht.

    »Vielleicht sollten wir...«, setzte ich an. Aber in diesem Moment öffnete sich die Haustür, und Monicas verschlafenes Gesicht kam zum Vorschein.

    »Guten Morgen, Liebste«, Kamma warf ihr eine Kußhand zu.

    »Ach... ich habe verschlafen«, Monica seufzte und setzte sich auf den Rücksitz.

    »Wirklich?« Kamma drückte ihren Zigarillo im Aschenbecher aus. »Das passiert dir doch sonst nie.«

    »Mein Wecker braucht eine neue Batterie«, erklärte Monica, »und deshalb wollte ich mich telefonisch wecken lassen...«

    Ich warf einen Blick in den Rückspiegel. Monica hatte einen Kamm aus der Tasche gezogen und fuhr sich nun damit durch die Haare.

    »Aber was ist dann passiert?« Kamma zog am Sicherheitsgurt und wandte den Kopf. »Hat der Telefondienst nicht angerufen?«

    »Doch, aber...« Monica zuckte mit den Schultern. »Als ich dann eine halbe Stunde zu spät aufwachte, saß meine Mutter schon in der Küche und trank Kaffee...«

    Der Wagen vor uns bewegte sich keinen Zentimeter, obwohl die Ampel inzwischen auf Grün umgesprungen war. Ich hupte.

    »Hatte deine Mutter den Hörer abgenommen?« fragte ich.

    »Sieht so aus.«

    »Vielleicht kann sie kein Dänisch?« Ich schloß den Aschenbecher und kurbelte das Fenster hoch.

    »Doch, ein bißchen.«

    Kamma hob die Augenbrauen. »Aber sie hat nicht verstanden, daß es ein Weckruf war?«

    »Nein«, Monica lachte. »Sie war ein wenig verwirrt. ›Monica‹, sagte sie, ›das ist alles so seltsam. In diesem Land ruft die Uhr an und sagt, wie spät es ist...‹«


    Ludmilla hatte ihre Beute verzehrt und schwebte nun abermals über unseren Häuptern.

    Zwischen den Bäumen schrie eine Elster.

    Ingrid öffnete ihre Tasche, fischte noch ein Stück hervor, band es auf die Fessel und stieß einen Pfiff aus.

    Der blaue Himmel öffnete sich, und ein bleicher Sonnenstrahl traf die Strohdächer der weißgekalkten Gebäude. Der Falknerhof, der am Rand des Waldes Gribskov nicht weit vom Dorf Kirke Esbønderup liegt, ist mindestens hundertfünfzig Jahre alt. Ingrid hatte ihn vor zwölf Jahren gekauft und, sagt Kamma, Zeit und Geld in eine umfassende Sanierung gesteckt. Im einen Flügel hatte sie ihre Unterrichtslokale eingerichtet. Hier gab sie Kurse in Raubtierkunde und Falknerei. Seit einigen Jahren verkaufte sie keine Falken mehr, sondern verdiente ihr Geld nur noch durch Unterricht und Training.

    Ludmilla ließ sich fallen, schlug die Krallen ins Zieget und landete dann im Gras.

    Aus einem Hofflügel erklangen glasklare Flötentöne.

    »Das ist bestimmt Isolde, die an die frische Luft will«, meinte Kamma. Und eine Viertelstunde später schwenkte sie dann die Fessel, während Isolde in der Luft kreiste.

    »Manchmal«, Ingrids Blick ging jetzt ins Leere, »komme ich mir fast so vor wie meine Falken. Dann habe ich das Gefühl zu fliegen... ganz hoch«, sie schaute in den Himmel. »Und dann plötzlich...« Seufzend verstummte sie und schüttelte den Kopf.


    Isolde verschwand im Gleitflug zwischen einigen hohen Tannen.

    Ich lächelte Kamma zu. Von ihrer schmächtigen Gestalt gingen Freude und Autorität aus, ihr Gesicht strahlte.

    Ingrid war mit Ludmilla ins Haus gegangen, Monica war ihr gefolgt, um den Tisch zu decken.

    »Hat sich übrigens Berthelsen bei dir gemeldet?« rief Kamma, als ich gerade beschlossen hatte, ebenfalls ins Haus zu gehen, um Monica zu helfen.

    »Berthelsen?« Fröstelnd trat ich im feuchten Gras von einem Fuß auf den anderen. »Wer ist Berthelsen?«

    »Ach... dann hat er das nicht getan. Ich erzähl es dir später.« Sie reckte den Hals und stieß einen Pfiff aus. Gleich darauf tauchte Isolde wieder auf und setzte sich auf Kammas Handschuh. Kamma lächelte triumphierend und plauderte mit dem Vogel.


    Das Tor zum Hof hing schief, und die Angeln quietschten, als wir hindurchgingen.

    »Jetzt wird es uns bestimmt gut schmecken«, Kamma rieb sich die Hände.

    Ich nickte und schüttelte mich. Meine Schuhe waren naß, meine Füße kalt.

    Im Wohnzimmer setzte ich mich an den weißgescheuerten Holztisch und schaute mich neugierig um. Die Wand zur Küche war herausgebrochen worden, und deshalb war der Raum trotz der kleinen Fenster recht hell. In der ehemaligen Küche befand sich ausgetretener Steinboden, ansonsten war der Boden von abgehobelten Brettern bedeckt. Der Raum war spartanisch, aber gemütlich eingerichtet. An den Deckenbalken hingen Kräuter und allerlei Küchengeräte.

    Ich setzte mich auf einen Stuhl, streckte die Beine aus und genoß die Wärme des Holzofens, der mitten im Zimmer stand. In einem der beiden ramponierten Ledersessel, die neben dem Ofen standen, schlief eine dicke graugetigerte Katze.

    »Hier ist es wirklich gemütlich«, Monica setzte sich neben mich.

    »Sehr«, stimmte ich zu. Mein Blick fiel auf die vielen Fotos von Raubvögeln, die die ganze Wand neben dem Eßtisch bedeckten.

    »Die sind sehr gut«, sagte ich.

    »Ja, nicht wahr.« Kamma entfernte die Folie von der Lachsschüssel. »Die hat Ingrid gemacht. Sie ist ausgebildete Fotografin.«

    Ingrid wirkte ein wenig verlegen. »Vor fast zwanzig Jahren sollte ich die Bilder zu einem Buch über Raubvögel liefern«, sagte sie und stellte eine Schüssel auf den Tisch. »Und so hat dann alles angefangen...«

    »Die Wege des Schicksals sind unergründlich«, Kamma lächelte verschmitzt.

    »Hast du nie Angst, wenn du hier allein bist?« Monica ging zum Fenster und schaute hinaus. »Abends, wenn es dunkel wird?«

    »Nein«, antwortete Ingrid. »Das ist wirklich nicht an meinen schlaflosen Nächten schuld. Wer um Himmels willen sollte denn den ganzen Weg hier heraus kommen, nur um mich zu belästigen?«

    »Aber trotzdem...«, Monica setzte sich wieder. Sie kratzte sich am Oberarm und blickte Ingrid an.

    »Mmm«, ich beugte mich vor. »Das riecht ja wunderbar.«

    »Hasenragout«, Ingrid steckte einen Löffel in die Schüssel.

    »Beute von der Falkenjagd?« fragte ich.

    »Nein, bist du verrückt?« Ingrid warf einen raschen Blick zu Kamma hinüber. »Falkenjagd ist in Dänemark verboten.«

    »Streng verboten«, bestätigte Kamma.

    »Aber warum denn?« Ich blickte die beiden überrascht an.

    »Ja, das ist wirklich eine gute Frage.« Kamma schnaubte. »Es ist schließlich eine uralte Jagdmethode. Im Mittelalter haben sich auch die Frauen daran beteiligt«, sie legte den Kopf leicht schräg und zeigte auf ein großes Plakat an der Wand gegenüber. »Da siehst du eine Falknerin mit einem Zwergfalken auf der Hand. Schön, nicht wahr?«

    Ich betrachtete das Plakat und nickte.

    »Wenn die Falkenjagd in Dänemark erlaubt wäre, würden auf diese Weise höchstens zwei bis dreihundert Stück Wild erlegt werden«, teilte Ingrid gelassen mit. »Das ist so gut wie nichts, verglichen mit den Tausenden, die von Jägern geschossen werden.«

    »Aber warum genau ist es denn verboten?« fragte ich.

    »Aus Ignoranz«, antwortete Ingrid ganz offen und zündete die Kerzen auf dem Tisch an. »Den Politikern tut offenbar die Beute leid.«

    »Aber so ist es doch auch in der Natur«, warf Monica ein. »Überall da, wo es Raubvögel gibt.«

    »Sag denen das mal«, Ingrid

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1