Murru, das Murmeltier
Von Lothar Streblow
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Buchvorschau
Murru, das Murmeltier - Lothar Streblow
Dröscher
Murrus erster Ausflug
Es war still hier oben, dicht über der Waldgrenze, ein stiller heller Morgen im Bergsommer. Über schroffen Felsgraten stand ein hoher blauer Himmel, wolkenlos und klar. Weiß glitzerte Schnee auf den Gipfeln, flirrend im grellen Licht. Am steilen Südhang glühte die Sonne das nackte Gestein, ließ die sprühenden Kaskaden des Gletscherbachs aufschimmern. Darunter leuchtete es bunt von zahllosen Blüten in den saftgrünen Bergmatten. Und das Rauschen des zu Tal strömenden Wildwassers störte die Stille nicht.
Der alte Murmelbär auf seinem Felsbrocken am Rand der Matte verharrte bewegungslos, wirkte mit seiner plumpen Gestalt von weitem fast wie ein abgebrochener Baumstumpf. Doch er blieb wachsam, nichts entging ihm. Die samtschwarzen Dohlen auf der Suche nach Kerbtieren und Würmern bildeten keine Gefahr, auch die Alpenbraunelle nicht und der Tannenhäher, der von den von Arven und Lärchen umstandenen Steilufern unten vom Bergbach herüberstrich.
Nur zwischen den Auswurfhügeln der Murmelkolonie rührte sich etwas. Die Jährlinge tollten spielerisch mit den Halbwüchsigen über den Hang. Sie verließen sich auf die Wachsamkeit ihres Vaters.
Auch ihre Mutter nutzte den Frieden des warmen Bergmorgens. Tief drinnen im Erdbau drängte sie ihre diesjährigen Jungen durch die Röhre nach draußen. Es wurde Zeit für den ersten Ausflug ins Freie. Und das Wetter war günstig. Doch nur zögernd folgten die Kleinen, ein wenig ängstlich noch, die vertraute Geborgenheit zu verlassen.
Vorsichtig schob Murru seine kleine Nase in den Ausgang. Die unverhoffte Helligkeit schmerzte in seinen nur das Dunkel der Höhle gewohnten Augen. Erschrocken krabbelte er rückwärts. Doch er kam nicht weit, die anderen drängten nach. Er mußte hinaus, ob er wollte oder nicht. Trockenes Gras vom Schlafkessel haftete in seinem grauen Kinderpelz. Und als Mangi, seine Schwester, ihn ungestüm von hinten stupste, setzte er zögernd seine winzigen Pfoten auf den erdigen Rand.
Hier draußen roch es so ganz anders als drinnen im Bau. Und sein Blick verlor sich in der Weite. Sehr fremdartig wirkte diese Welt. Doch dann entdeckte er seine älteren Geschwister. Und hoch oben auf dem Fels die aufrechte Gestalt seines Vaters. Das beruhigte ihn. Und er probierte ein paar unbeholfene Schritte durch das duftende Gras.
Das war ein seltsames Gefühl an den Pfoten. Zwischen den Halmen haftete noch die Feuchtigkeit. Und auch Murrus Nase wurde naß. Doch das störte ihn nicht, er leckte das Wasser einfach ab. Nur schmeckte es nicht so gut wie die Milch seiner Mutter. Langsam tappelte er weiter, näherte sich einer Blüte. Neugierig schnupperte er daran, stieß mit seiner kleinen Nase davor.
Plötzlich ertönte ein tiefes Gebrumm. Im Blütenkelch wurde es lebendig. Ein gelbgestreiftes Etwas stieg auf, surrte aufdringlich um Murrus Ohren. Entsetzt stob Murru davon. Bienen kannte er ja noch nicht. Und verzweifelt suchte er den Weg zur Höhle.
In diesem Augenblick hob seine Mutter ihren pelzigen Kopf über den Erdwall. So schnell er konnte, rannte Murru auf sie zu, purzelte vor Aufregung über einen losen Stein, der kollernd unter ihm fortrollte. Das machte Murru noch ängstlicher. Ein schwacher Klagelaut drang aus seiner Kehle. Endlich erreichte er die schützende Nähe seiner Mutter. Und aufatmend barg er sich an ihrem weichen Fell.
Das Murmelweibchen sah Murrus Angst. Fürsorglich beugte sie sich zu ihm herab, rieb zärtlich ihr Gesicht an seinem kleinen Kopf. Murru spürte ihre vertraute Wärme, und er hielt sich mit seinen winzigen Pfoten ganz fest. Diese fremde Welt hier draußen war ihm unheimlich.
Seine Mutter wandte unruhig den Kopf. Sie hob den Oberkörper, richtete sich auf den Hinterbeinen auf und beobachtete aufmerksam ihre anderen Kinder, die in der Nähe des Ausgangs herumtobten. Zwei allerdings fehlten: zwei kleine Murmelbären. Die beiden hatten ihre ersten Lebenswochen im Bau nicht überstanden. Um so sorgfältiger achtete die Mutter nun auf ihre übrigen drei. Nur einen kurzen Augenblick lang ließ sie Murru aus den Augen.
Geschickt nutzte Murru das aus, um hinter dem Erdwall schleunigst wieder in die Höhle zu flüchten. Seine Mutter aber bemerkte seine Flucht. Energisch trieb sie ihn wieder ins Freie. Nach der langen Zeit im Bau brauchte Murruendlich Sonne. Und er mußte lernen, sich draußen zurechtzufinden.
Murru fand das alles sehr anstrengend, aber er folgte. Und als seine Mutter sich mit seinen beiden Schwestern in einer Grasmulde zum Sonnenbad niederlegte, schmiegte er sich dicht an sie. Die warmen Strahlen behagten ihm. Und allmählich erschien ihm die Außenwelt gar nicht mehr so bedrohlich.
Tolpatschige Murmelkinder
Eine Zeitlang lag Murru dösend neben seiner Mutter im Gras.
Über den fernen Berggrat trieb langsam eine kleine weiße Wolke. Murru sah ihr eine Weile nach.
Dann wurde ihm das Dösen zu langweilig. Während der rund vierzig Tage im Erdbau hatte er genug geschlafen. Und die munteren Spiele seiner beiden kleinen Schwestern, die inzwischen auf der blütenübersäten Wiese umeinanderpurzelten, reizten ihn.
Neugierig blinzelte er zu ihnen hinüber. Lura jagte gerade ihre Schwester Mangi über die Bergmatte, jagte sie genau auf Murru zu.
Jetzt hatte Murru endgültig genug vom Sonnenbaden. Er stand gemächlich auf und watschelte Mangi entgegen. Mangi war etwas kleiner als er, aber viel flinker. Sie wagte sogar schon kleine Sprünge. Und sie sprang.
Plötzlich stießen die beiden unverhofft zusammen. Murru bekam Mangis Pfote vor die Nase und ihre Schnauze vor den Bauch. Und ehe er recht begriff, purzelte er ein Stück den Hang hinunter, überkugelte sich ein paarmal im Gras und blieb verdutzt liegen.
Mangi lag gar nicht weit von ihm. Sie war durch den Zusammenprall genauso gepurzelt wie er. Schließlich wogen sie beide ja gerade ein halbes Pfund. Das weiche Gras hatte ihren Sturz aufgefangen.
Noch etwas verstört, rappelte Murru sich hoch. Solche Stürze war er noch nicht gewohnt. Und auch Mangi blinzelte ziemlich erschrocken hinter einer blauen Enzianblüte hervor. Die Sonne schien ihr genau ins Gesicht.
Nur Lura hatte nichts abbekommen. Neugierig kam sie jetzt mit ihrem drolligen Watschelgang den Hang herunter, um zu sehen, was die beiden trieben.
Und nochjemand näherte sich den beiden, von der anderen Seite. Es war Gunno, ein junger Murmelbär vom Vorjahr. Aber er wollte nicht spielen. Er hatte in der Nähe einige saftige Kräuter entdeckt, die er genußvoll in sich hineinmümmelte. Und offenbar bekam er nicht genug davon.
Murru beobachtete seinen großen Bruder aufmerksam. Er hatte ja bis jetzt nur Milch getrunken. Daß man dieses duftende grüne Zeug auch essen konnte, war ihm neu. Und es schien Gunno zu schmecken.
Das mußte Murru auch mal probieren. Mit seinen kräftigen Nagezähnen beknabberte er ein paar Grasspitzen. Nur konnte er die nicht einfach schlucken wie Milch, er mußte kauen. Und außerdem schmeckte es reichlich sonderbar. Milch war ihm viel lieber.
Lura und Mangi versuchten es erst gar nicht. Mangi sprang mit einemmal auf und rannte hinter Lura her, versuchte sie zu erwischen. Wie die Wilden sausten die zwei davon.
Das Haschenspielen der beiden gefiel Murru. Und er flitzte ihnen nach, über Grasbatzen und Blütendolden. Plötzlich stutzten die beiden, machten kehrt und hetzten nun gemeinsam Murru über den Hang. So ging das eine ganze Weile, einander haschend und übereinanderpurzelnd. Und die drei verspielten Murmelkinder quietschten vor Vergnügen.
Dabei achteten sie überhaupt nicht mehr darauf, wohin sie liefen. Der Hang war zum Wildbach hin ziemlich abschüssig, übersät mit Felsbrocken, hinter denen leicht ein Fuchs lauem konnte. Und über ihnen taumelten ein paar dunkle Schatten. Murru duckte sich. Doch die Alpendohlen kümmerten sich nicht um ihn.
In diesem Augenblick ertönte ein scharfer Pfiff. Der alte Murmelbär oben auf dem Fels stieß einen Warnruf aus: So weit sollten seine Kinder sich nicht entfernen. Und auch ihre Mutter rief laut pfeifend vom Höhleneingang.
Doch keines der drei Jungen hörte. Sie wußten noch nicht, was ein Alarmpfiff bedeutet: Das mußten sie erst lernen. Und ihre Mutter brachte es ihnen bei. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit rannte sie hangabwärts auf die drei zu, klatschte laut und energisch in die Pfoten und trieb sie zurück.
Das begriff Murru. Und er sauste vornweg. Er spürte mit einemmal Hunger, großen Hunger.
Seine Mutter schien das genau zu wissen. Murru brauchte sie gar nicht erst zu stupsen. Bereitwillig legte sie sich auf den Rücken und ließ ihn saugen. Und auch Lura und Mangi wollten ihre Milch. Eifrig krabbelten sie ihrer Mutter auf dem Bauch herum. Und Murru rutschte erschrocken zu