Raku, der Kolkrabe
Von Lothar Streblow
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Buchvorschau
Raku, der Kolkrabe - Lothar Streblow
Dröscher
Ausbruch aus dem Ei
Das weite Hügelland vor dem Bergkamm lag verborgen unter wattigem Weiß. Morgennebel schwebten über den Tälern und flachen Kuppen, verhüllten die Tiefe. Auf halber Höhe der Berghänge aber wurde es lichter, stachen einzelne Baumwipfel durch die wabernden Schwaden. Darüber leuchtete der Himmel in kristallklarer Bläue. Warm schien die Märzsonne, ließ die letzten Schneeinseln tauen. Und eine laue Brise strich durch die Zweige.
Auch der Rabenhorst im Wipfel einer hohen Kiefer wogte leise im Wind. Die Räbin stocherte unruhig im Nest, wendete immer wieder ihre vier blaugrünen, dunkel gefleckten Eier in der sauber ausgepolsterten Nestmulde. Der Wind störte sie nicht. Nur wenn sie ein wenig den Kopf hob, um nach dem Raben auszuschauen, verfing sich der Luftzug in ihrem Nackengefieder. Sie spürte Hunger. Und sie rief nach ihrem Gefährten.
Lange mußte sie nicht warten. Über der Lichtungam Waldrand tauchte ein dunkler Schatten durch die treibenden Nebelfetzen und glitt heran. Der Rabe schwang sich, deutliche Fütterlaute ausstoßend, auf den Rand des Horstes. Bedächtig öffnete er seinen mächtigen Schnabel und würgte Nahrung aus seinem Kehlsack: eine Waldmaus. Und die Räbin winselte leise und verschlang sie gierig.
Eine Weile noch hockte der Rabe am Rand, murmelte zärtliche Laute und kraulte seiner Gefährtin liebevoll das Kopfgefieder. Dann strich er ab und ließ sich mit weitgebreiteten Schwingen vom Aufwind in die Höhe tragen. Nichts entging seinem scharfen Auge. Und die Räbin wartete geduldig. Sie verließ ihre Eier nur selten und dann auch nur kurz. Der Rabe sorgte für seine brütende Gefährtin. Und er brachte ihr von seiner Beute nur die besten Happen.
Mit einemmal wurde die Räbin aufmerksam. In einem der Eier spürte sie Bewegung. Fast drei Wochen hatte sie auf diesen Augenblick gewartet. Das Junge begann mit seinem Eizahn, einem kleinen Kalkhöcker auf seinem Schnäbelchen, von innen die Schale aufzumeißeln. Doch das Kleine mußte mit dem Kopf nach unten arbeiten: Das Ei lag verkehrt. Und das war recht mühsam. Die Räbin aber erkannte die quälende Lage des Kleinen. Und sie wendete das Ei vorsichtig mit ihrem Schnabel.
Plötzlich brach der aufgemeißelte Ring. Die Eikappe hob sich langsam. Und Raku schob seinen winzigen kahlen Kopf durch die Bruchstelle ins Freie. Erschöpft ruhte er einen Augenblick von der Schwerarbeit aus. Doch als er seine Flügelchen ausbreiten wollte, ging das nicht. Sein Körper war noch im Ei gefangen. Wie wild begann er zu strampeln. Und wieder half ihm seine Mutter. Mit ihrem mächtigen Schnabel zog sie ihn ganz behutsam aus der Schale.
Naß und fast nackt hockte Raku in dem weich gepolsterten Nest. Noch sah er nichts. Seine Augen waren geschlossen, bedeckt mit klebriger Eiflüssigkeit. Nur den riesigen schwarzbefiederten Bauch seiner Mutter spürte er über sich. Und kaum hatte sie die Reste seines zerbrochenen Eigehäuses verschluckt, begann sie seinen kleinen verklebten Körper vorsichtig zu säubern. Immer wieder fuhr sie ihm mit der Spitze ihres gewaltigen Schnabels unter seine kahlen Flügelchen, tastete ihm über Rücken, Kopf und Zehen. Und obwohl sie das alles mit erstaunlicher Sanftheit tat, spürte Raku nur Unbehagen. Er schrie kläglich, als wolle sie ihn umbringen.
Seine Mutter kümmerte sich nicht um Rakus Geschrei. Über eine Stunde mußte er die Säuberung über sich ergehen lassen. Dann erst war die Räbin zufrieden. Doch noch immer gab es keine Ruhe.
Nun lockerte die Räbin sorgsam die Nestpolsterung auf, damit Raku eine weiche Unterlage bekam. Und dann steckte sie den winzigen Raku senkrecht in den flockigen Flausch, daß gerade noch seine Schnabelspitze herauslugte. So war sein zarter nackter Körper geschützt vor dem Wind. Und Raku döste ein wenig nach all der Anstrengung.
Kurz darauf mußte die Räbin sich schon wieder um das nächste Ei kümmern, in dem ein Junges nach draußen drängte. Raku merkte von alldem nicht viel: nur ab und zu mal eine Erschütterung, wenn seine Mutter sich bewegte. Er sah nicht, wie sich plötzlich ein kahler Kopf aus der Eischale hob, etwas Zappelndes von den Eiresten befreit und unter großem Geschrei geputzt wurde. Raku fühlte sich warm und geborgen in seinem Flauschpolster. Und er döste weiter, bis der Luftzug zweier rauschender Flügel ihn aufschreckte.
Der Rabe war zurückgekommen mit Fleischbrocken einer Bisamratte. Und die Räbin antwortete auf seinen Fütterungsruf. Mit einem Blick erkannte der Rabe die neue Lage: die eben geschlüpften Jungen in der Nestmulde. Und er wußte, was er zu tun hatte. Jetzt brauchten auch die Kleinen Nahrung. Ohne Aufenthalt schwang er sich wieder in die Luft. Und diesmal flog er in eine andere Richtung: am heckengesäumten Waldrand entlang zu einer sonnigen Fichtenschonung.
Raku spürte die Unruhe. Seine Mutter pickte nach dem feucht gewordenen Polstermaterial und fraß es auf. Das Fleisch der Bisamratte hatte sie längst verschlungen: Das war noch nichts für die winzigen Nestlinge. Sie brauchten zartere Kost.
Das wußte auch der alte, erfahrene Rabe. Als er das nächstemal zurückkehrte, brachte er etwas anderes: einige weiche zerquetschte Schmetterlingsraupen. Doch er flog den Horst nicht direkt an. Zuerst säuberte er auf einem nahen Ast sorgfältig seine Zehen und Krallen, bevor er sich auf dem Nestrand niederließ.
Mit einem tiefen „Gro"-Laut rief er seine Jungen zum Füttern. Dann würgte er das Raupenmus aus seinem Kehlsack hervor. Und er stopfte es in kleinen Portionen in die gierig aufgesperrten Schnäbel.
Raku schluckte zufrieden, hachelte behaglich vor sich hin und schloß seinen kleinen Rabenschnabel. Die erste Mahlzeit hatte ihm geschmeckt.
Raku im Nest
Mehr als eine Woche verging. Längst waren auch die anderen zwei Jungen geschlüpft. Die Federhüllen auf Rakus Rücken und Flügeln begannen allmählich aufzuspringen, von Tag zu Tag mehr. Raku wirkte seltsam struppig.
Kaum zeigten sich seine ersten Federchen, da putzten die Alten sein sprießendes Gefieder schon genauso wie ihr eigenes. Es ziepte mitunter, wenn sie die winzigen Federn mit ihren riesigen Schnabelspitzen sorgfältig durchzogen. Und das gefiel Raku gar nicht. Dann probierte er es ein wenig selber, allerdings noch ziemlich unbeholfen. Erst als er sein rabenschwarzes Federkleid bekam, schätzte er diese Gefiederpflege. Nun ziepte es nicht mehr. Im Gegenteil, jetzt fand er das sehr angenehm.
Inzwischen guckte Raku schon recht munter in die Gegend. Die über ihm leise im Wind schaukelnden Zweige der alten Kiefer interessierten ihn. Doch sie blieben für ihn unerreichbar. Noch war er ein Nesthocker mit spärlich befiederten Flügeln. Vom Fliegen hatte er keine Ahnung. Und das würde auch noch eine Weile dauern.
Tolpatschig krabbelte Raku in der Nestmulde herum. Er war das kräftigste der Geschwister und schon sehr neugierig.
Die Mutter putzte gerade eines der anderen Kleinen und bemerkte nichts von Rakus Ausflug. Und so ganz wohl fühlte er sich auch nicht dabei. Die Sonne verschwand mit einemmal hinter einer aufziehenden Wolkenwand. Es wurde kühl. Und aus Rakus Kehle drang ein kläglicher Laut.
Seine Mutter reagierte sofort. Sie wußte, daß ihre Kleinen jetzt vor allem Wärme brauchten. Und sie bettete die Jungen fürsorglich in die weichen Polster und wärmte sie. Das gefiel Raku. Und eine Weile hockte er ganz zufrieden unter dem dichten Gefieder seiner Mutter.
Doch Wärme allein genügte ihm nicht. Er spürte schon wieder Hunger. Gierig sperrte er seinen kleinen Schnabel auf und zeigte seinen glutroten Schlund. Nur nützte das im Augenblick wenig. Sein Vater war noch auf Nahrungssuche. Und so lange mußte Raku warten.
Ungestüm schob er seinen struppigen Kopf zwischen den Bauchfedern seiner Mutter hindurch. Es wurde hell. Ein Sonnenstrahl brach durch die treibenden Wolkenfetzen. Von einer Fichte jenseits der Lichtung klang der Gesang einer Amsel herüber. Und in der Ferne hämmerte ein Specht.
Raku horchte auf die für ihn noch fremdartigen Geräusche. Endlich ertönte das vertraute Rauschen großer Flügel.
Ein dunkler Schatten schob sich kurz vor die Sonne.
Sein Vater war auf dem nahen Ast gelandet, um sich die Krallen zu putzen. Dann sprang er auf den Rand des Horstes.
Aber noch gab es kein Futter. Der Rabe hatte am Waldsaum ein Mäusenest ausgeräumt; und die beiden Alten zerlegten die Mäusebrut kunstgerecht auf dem Horstgeflecht. Das dauerte eine Weile. Nur die zartesten Bissen waren gut genug für die Jungen.
Rakus Bettelrufe klangen immer verzweifelter. Auch seine drei Geschwister begannen zu lärmen. Nun beugte sich Rakus Mutter über seinen aufgesperrten Rachen, stopfte ihm etwas in den Schnabel. Raku spürte einen neuen Geschmack. Und der behagte ihm. Davon wollte er noch mehr. Die anderen aber gierten genauso unersättlich. Und die Räbin verteilte die Brocken fürsorglich und gerecht. Den für die Kleinen ungeeigneten Rest verschlang sie selbst, während der Rabe seine Schwingen ausbreitete und zu erneuter Futtersuche abflog.
Langsam versank die Sonne hinter dem Bergkamm. Dämmerung zog