Geister in der Nacht. Nationalpark Bayerischer Wald
Von Lothar Streblow
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Buchvorschau
Geister in der Nacht. Nationalpark Bayerischer Wald - Lothar Streblow
(1978)
Großer Geist auf kleinen Füßen
Es war eine strapaziöse Fahrt gewesen vom Remstal in den Bayerischen Wald: auf überfüllten Straßen und bei grauverhangen-schwülem Himmel. Aber wir hatten es geschafft. Nun standen wir alle drei auf der breiten Holzveranda und genossen den Abend. Es roch nach Wald, nein: Es duftete nach Wald. Durch dichte Wolkenbänke brach ein schmaler Sonnenstrahl. Und von der schimmernden Wasserfläche der alten Triftklause neben der Hütte schwebte eine langsam zerfasernde Nebelfahne herüber und verfing sich in den Wipfeln der drei riesigen Fichten vor der Haustür.
»Es ist schön hier«, sagte Nole, meine Frau. »Und diese Stille. Ich hatte schon fast vergessen, wie so etwas ist.«
Nico, mein Sohn, nickte sachverständig.
»Kein Wunder«, meinte er. »Im Umkreis von wer weiß wie vielen Kilometern ist das hier das einzige Haus. Oder vielmehr die einzige Hütte, einsam und mitten im Wald. Und beinahe tausend Meter hoch.«
Es waren zwar nur knapp neunhundert Meter, aber sonst hatte er recht. Die Nationalparkverwaltung hatte uns die Racheldiensthütte für die Dauer meines Studienaufenthalts als Domizil zur Verfügung gestellt: Ich sollte möglichst ungestört inmitten der Natur an meinem neuen Buch arbeiten können. Das war eine ebenso unerwartete wie liebenswürdige Geste. Und der freundliche Mensch dort unten in Grafenau hatte uns einen anderen freundlichen Menschen mitgegeben, der uns hier heraufgebracht und alles für unseren Aufenthalt vorbereitet hatte. Nach einem zünftigen Bärwurz hatte er sich wieder verabschiedet. Und auch der sympathisch-urwüchsige Hüttenwirt, der tagsüber die kleine Gastwirtschaft in den unteren Räumen betrieb, war inzwischen nach Hause gefahren. Wir waren allein, allein mitten im Wald.
»Ein merkwürdiges Gefühl«, sagte Nole und lächelte. »Aber jetzt wollen wir endlich Abendbrot essen. Mir wird kalt.«
Dieses Abendbrot wurde ein denkwürdiges Ereignis. Elektrizität gab es hier oben nicht, auch kein Telefon. Und da uns das zischende Gaslicht aus der Flasche störte, zündeten wir zwei Kerzen an. Dazu prasselte das Holzfeuer im Ofen, um die höchstens sieben bis acht Grad Außentemperatur wenigstens hier drinnen auf etwas erträglichere Höhen klettern zu lassen. Es duftete aromatisch nach Fichtenharz. Und bei flackerndem Kerzenlicht verspeisten wir unsere erste Diensthüttenmahlzeit. Dann verkrochen wir uns todmüde in die Betten.
Aber mit dem Schlafen gab es hier offenbar einige Schwierigkeiten. Die nächtliche Stille, in der man nur von fern den Abflußbach der Triftklause leise rauschen hörte, wurde mit einemmal empfindlich gestört. Von irgendwo oben ertönte ein merkwürdiges Geräusch. Oder kam es von nebenan aus den hölzernen Dachsparren? Kein Zweifel: irgend etwas rumorte da herum. Ich war sofort hellwach. Bei nächtlichem Herumrumoren bekomme ich immer ziemlich sonderbare Gefühle: Das kam von den Bären, die damals während unserer Expedition in die rumänischen Karpaten nachts um unser Zelt auf der Waldlichtung herumrumorten und mich veranlaßten, im Schlafanzug mit Gummihammer über die nächtliche Wiese zu sausen. Das war nicht sehr angenehm gewesen und außerdem reichlich albern. Aber hier waren wir nicht im Zelt. Und Bären gab es hier auch nicht, zumindest nicht auf freier Wildbahn. Und schon gar nicht auf dem Dach. Was aber war es dann?
Plötzlich ertönte ein lautes Poltern. Ich erstarrte unter meiner Decke. Da polterte es wieder, lauter noch als zuvor.
In diesem Augenblick sagte Nole:
»Ich vermute, da spukt der Große Geist!«
Nico kicherte entzückt. Er hatte von jeher eine Schwäche für Geister, nur bedauerte er, noch nie einem begegnet zu sein.
»Na endlich«, brummte er befriedigt. »Und da wir hier in einer Diensthütte sind, ist das vermutlich der diensthabende Geist.«
»Vermutlich«, knurrte ich. »Trotzdem wäre ich jetzt mehr für Schlafen.«
»Ich auch«, meinte Nole.
Doch der Große Geist war offenbar anderer Meinung. Nach einigen Minuten absoluter Stille machte er sich wieder bemerkbar. Allerdings polterte er jetzt nicht, er tappte. Dann Ruhe, und wieder das Tappen, das sich äußerst füßig anhörte. Merkwürdig: ein Geist mit Füßen?
Wir lauschten.
»Hört ihr das?« sagte Nole plötzlich. »Der Geist hat Füße! Und offenbar mehr als zwei Füße. Und ganz eindeutig ziemlich kleine. Was mag das sein?«
Für Nico war das kein Problem.
»Ist doch klar!« verkündete er. »Großer Geist auf kleinen Füßen.«
Ich sagte nichts darauf. Geister dieser Art gehörten meines Wissens weder in die Anthropologie noch in die Zoologie. Und wir wollten hier Tiere studieren, Geister eigentlich weniger. Schließlich waren wir in einem Nationalpark; dem ersten hierzulande. Und eben deshalb war ich hierher gefahren. Ich hatte die Absicht, im Nationalpark Bayerischer Wald, der Teil des größten zusammenhängenden Waldgebiets in Mitteleuropa ist, die hier noch vorhandenen ursprünglichen und streng geschützten Wälder und das Zusammenleben von Pflanzen und Tieren in ihrer natürlichen Umwelt eingehend zu beobachten, um Material für ein Buch zu sammeln. Und ich hoffte, hier selten gewordenen und vom Aussterben bedrohten Tierarten zu begegnen, die ich sonst nirgendwo in ihrer natürlichen Umgebung zu sehen bekam. Was sollte ich dabei mit Geistern, die obendrein auch noch meine wohlverdiente Nachtruhe störten? Doch was auch immer da oben herumrumoren mochte – es hatte seinen Namen weg: Das war der Große Geist. Ob mir das nun paßte oder nicht. Und mit diesen mehr oder weniger freundlichen Gedanken schlief ich endlich ein.
Ich weiß nicht mehr genau, welche Art Träume mich dabei plagten. Wenn ich mich recht erinnere, hatten sie sehr lebhaft mit irgendwelchen wüst herumrumorenden Poltergeistern zu tun. Und als ich nach geraumer Zeit aus unruhigem Schlaf durch ein ungewohntes Geräusch erwachte, dachte ich natürlich zunächst an diese Poltergeister. Doch diesmal war es kein Poltern, sondern eine höchst merkwürdige Mischung aus Knarren und Tappen, also irgendwie anders. Und zwar in unmittelbarer Nähe. Ächzend richtete ich mich auf.
»Was ist denn nun schon wieder?« fragte ich unwirsch.
Und da kam auch schon Antwort aus dem Dunkel. Der Geist war gar kein Geist – es war mein Sohn, der mit nackten Füßen über die knarrenden Holzdielen tappte und offenbar seine Hausschuhe suchte.
»Nur keine Aufregung, Paps. Ich bin es. Du kannst ruhig weiterschlafen. Ich muß nur mal eben nach unten.«
»Okay«, brummte ich. »Und warum nimmst du nicht die Taschenlampe?«
»Die suche ich ja gerade.«
Aha, deshalb also das nacktfüßige Herumgetappe. In diesem Augenblick rief Nole dumpf verschlafen unter ihrer Bettdecke hervor:
»Die liegt bei mir auf dem Tisch!«
»Entschuldigung«, murmelte Nico höflich. »Ich wollte euch beide wirklich nicht wecken. Aber hier ist alles noch so ungewohnt.«
Mit diesen Worten verschwand er durch die ebenfalls laut knarrende Holztür. Ich wälzte mich auf die andere Seite und machte mich darauf gefaßt, bei seiner Rückkehr wieder aus dem Schlaf geknarrt zu werden. Diese nächtliche Zeremonie ließ sich wohl kaum vermeiden. Wen auch immer nachts ein menschliches Bedürfnis plagte, mußte eine Treppe tiefer nach unten, wo sich die Toiletten der Gastwirtschaft befanden. Diensthütten waren schließlich keine Luxushotels. Und da es hier, wie gesagt, kein elektrisches Licht gab, mußte man eben mit der Taschenlampe durchs Dunkel wandeln, falls man sie gerade fand. Denn leider besaßen wir nur einen einzigen dieser hier höchst nützlichen Gegenstände.
Es kam jedoch wieder einmal alles völlig anders als gedacht. Statt eines äußerst behutsam mit knarrendem Gehölz umgehenden Sohnes, riß ein ziemlich aufgeregter Knabe die Tür auf und zischelte nervös:
»Schnell! Kommt mal raus! Hier draußen sitzt eine riesige Maus!«
Allmählich reichte es mir. Erst wurde man nächtens von größeren Geistern bepoltert, dann von nacktfüßig tapsenden Söhnen wachgeknarrt, und jetzt sollte man auch noch irgendwelche monströsen Mäuse besichtigen. Das war entschieden zu viel.