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Martins Reise: Ein Mann und sein Hund gehen durch die Hölle...
Martins Reise: Ein Mann und sein Hund gehen durch die Hölle...
Martins Reise: Ein Mann und sein Hund gehen durch die Hölle...
eBook772 Seiten10 Stunden

Martins Reise: Ein Mann und sein Hund gehen durch die Hölle...

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Über dieses E-Book

Martin macht eine Reise... Liebe, Hass, Verrat, Loyalität, Aufopferung, Gier, Fanatismus, Freundschaft begleiten ihn auf seinem Weg. Zusammen mit seiner Hündin Luna kämpft er sich durch ein Abenteuer voll Gefahren für sein Ziel, seine Familie zu finden, und sich selbst...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum28. Aug. 2022
ISBN9783347735460
Martins Reise: Ein Mann und sein Hund gehen durch die Hölle...
Autor

Tobias Wittig

Geboren am 24.11.1983 in Starnberg, Stationen in Landsberg, Köln, Büdel (Niederlande), Lenggries, Fuchstal, Mindelheim und Augsburg. Aktuell beschäftigt beim Bauamt. Begeisterter Stadiongänger, Kinofan und Leseratte. Immer auf der Suche nach neuen literarischen Eingebungen. :-)

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    Buchvorschau

    Martins Reise - Tobias Wittig

    1. Im Wald

    Während der strahlend blaue Himmel, durchzogen von den Kondensstreifen hin und her fliegender Flugzeuge, seine Haube über das Antlitz der Welt legte, drückten einige Kilometer weiter unten sechs Füße ihre Spuren in den frisch gefallenen Schnee.

    Dieses Prozedere dauerte nun schon seit Stunden an und das Muster blieb das Gleiche: Die ausgreifenden, langen Schritte eines erwachsenen Menschen, in unregelmäßigen Abständen daneben verlaufend das Getrippel einer mittelgroßen Hündin.

    Die Spuren des Menschen folgten in strenger Treue dem Waldweg, während die der Hündin des Öfteren in den Dickungen des Waldes verschwanden, jedoch immer wieder auf den Hauptweg zurückführten. Absolute Stille begleitete die Szenerie, sah man vom Knirschen des Schnees und gelegentlichem Krächzen der Krähen ab. Alles in allem herrschte Ruhe und Harmonie, während sich die Sonnenstrahlen einen Weg durch das dichte, verschneite Blattwerk bahnten und den Schnee in ein funkelndes Meer verwandelten.

    Plötzlich wurde die Stille durch den scharfen Pfiff des Menschen unterbrochen, als dieser einen besonders ausufernden Ausflug seiner tierischen Begleiterin in die Geheimnisse des dichten Waldes unterbrechen wollte.

    »Luna!«

    Augenblicklich war ein Rascheln zu vernehmen und ein brauner Körper schoss zwischen dem Geäst hervor, nicht ohne über und über mit herabfallendem Schnee bestreut zu werden.

    Die Hündin kam einen Meter vor ihrem Herrchen zum Stehen, sah ihn herausfordernd an und schüttelte sich den Schnee vom kurzen Fell.

    Martin Richter betrachtete belustigt seine Begleiterin. Seit sechs Jahren war Luna nun an seiner Seite. Davor hatte Martin mit Tieren nichts weiter am Hut gehabt. Ein Besuch zusammen mit seinen Eltern im Tierheim am Tag der offenen Tür hatte die Wende gebracht.

    Eigentlich wäre Martin damals lieber zuhause vor dem Fernseher sitzen geblieben, war der Aufforderung seiner Eltern sie zu begleiten dann jedoch, mehr oder weniger mürrisch, nachgekommen. Der Besuch hatte seine Einstellung zu Tieren, speziell zu Hunden, grundlegend verändert. Hatte Martin zuvor noch die Ansicht vertreten, Haustiere verursachten vor allem Kosten und Arbeit, ließ ihn der Besuch im Tierheim seine Prioritäten neu ordnen.

    Er war mit seinen Eltern die Reihe der Käfige entlanggegangen, aus denen verschiedene Versionen von Hundegebell zu hören waren. Eine große Dogge sprang knurrend an den Käfigstangen empor und jagte Martin einen Heidenschrecken ein. Zudem roch es überall streng nach Kot.

    In diesem Moment taten die Hunde Martin zunehmend leid, er nahm sich vor, eines dieser armen Tiere zu erlösen, musste sich allerdings eingestehen, dass die anstehende Entscheidung nicht einfach werden würde. Martin blickte in die traurigen Gesichter der Tiere und verspürte den Wunsch ihnen allen helfen zu wollen.

    Schließlich gelangten sie an das Ende des Ganges. Aus dem Käfig auf der linken Seite war kein Gebell zu hören. In der hinteren, linken Ecke, neben einem umgeworfenen Fressnapf, lag apathisch eine mittelgroße Gestalt, welche schwer atmete. Als Martin an den Käfig trat, hob die Kreatur mühsam den Kopf und sah ihn an.

    An diesen Augenblick dachte Martin nun zurück, während Luna zu ihm aufsah. Kurz darauf schnappte die Hündin nach einem schneebedeckten Ast und wich schnaubend zurück, als die weiße Pracht ihre Nase puderte. Damals war Luna nicht so lebhaft gewesen.

    Langsam kam das Tier auf die Beine, humpelte zu den Gitterstäben, vor denen Martin stand, und sah ihn an. Es dauerte eine Sekunde. Nur eine einzige Sekunde und Martin war verloren. Der unendliche Schmerz und die Niedergeschlagenheit, die aus den Augen des Tieres sprachen, brachen Martin sofort das Herz. Er wusste in diesem Moment, dass er ohne diesen Hund das Tierheim nicht verlassen würde.

    Es war einer Symbiose gleich, einer ganz speziellen Verbindung vom ersten Moment an. Das wusste Martin und dieses ausgemergelte Geschöpf, in dessen Augen sich nun ein Fünkchen Hoffnung regte, schien das auch zu erkennen.

    Langsam bewegte Martin die Hand zu den Gitterstäben, als sein Vater rief: »Vorsicht, Martin, bei diesen Hunden kann man nie wissen. Die sind manchmal unberechenbar!«

    Aber da hatte Luna schon seine Hand geleckt und die beiden waren ab diesem Moment Freunde fürs Leben. Ernsthaften Streit hatte es zwischen ihnen nie gegeben, was Martin auch darauf zurückführte, dass Hunde nicht sprechen konnten.

    Der junge Mann sah auf. Der Tag war vorangeschritten und die Sonne sank bereits merklich in Richtung der Baumwipfel. Es wurde langsam Zeit, einen der Waldwege nachhause einzuschlagen. Hier draußen in der Idylle des Waldes verlor sich aber auch wirklich die Zeit, wenn man mit seinem Hund durch den Schnee wanderte und den eigenen Gedanken nachhing. Und diese Gedanken, fand Martin, waren in letzter Zeit zu oft trüber Natur gewesen. Er musste allmählich wieder nach vorn schauen.

    Martin vergrößerte seine Schritte und pfiff Luna herbei, die erneut im Dickicht verschwunden war.

    Die beiden marschierten gemeinsam weiter. Während sie hinter der nächsten Gabelung abbogen, verloren sich auch zunehmend ihre Geräusche, bis, abgesehen vom zeitweise auftretenden Flüstern des Windes, absolute Stille einkehrte. Kein anderer Mensch war unterwegs, und bald waren die Spuren von Martin und Luna wieder vom Schnee verborgen und nicht mehr zu erkennen.

    Als die beiden bereits zwei weitere Kilometer zurückgelegt hatten, ihren Gedanken an Hundefutter und vergangene Zeiten nachhängend, kam auf einmal Bewegung in die bis dato idyllische Szenerie. Urplötzlich stoben zeternd einige Dutzend Vögel aus den Baumkronen der Lichtung hervor und verloren sich rasch im Blau des Himmels. Allerlei anderes Getier verschwand rasch im Dickicht oder suchte sonstigen Schutz vor dem, was sich zusammenbraute. Dann trat Ruhe ein. Die Ruhe vor dem Sturm.

    Martin mit seinen vergleichsweise unterentwickelten menschlichen Instinkten bemerkte nichts von alldem, Luna dagegen hob den Kopf und lauschte. Doch waren die beiden auch für Luna bereits zu weit entfernt, als dass sie etwas Konkretes hätte wahrnehmen können. Ahnungslos marschierten sie weiter durch den Schnee.

    Auf einer still gewordenen Lichtung, auf der die zwei sich noch eine halbe Stunde zuvor im Schnee gewälzt haben, hatte jetzt ein kaum vernehmbares Summen eingesetzt, das jedoch rasch anschwoll.

    Das tiefe, vibrierende Geräusch, mit nichts vergleichbar, was je auf der Erde zu hören gewesen war, breitete sich schnell und kreisförmig aus. Es erreichte eine Krähe, die aufgrund eines gebrochenen Flügels nicht hatte fliehen können. Die Vibration zog über den gefiederten Leib hinweg, der Vogel zitterte kurz und erschlaffte als er starb, da der geschwächte Organismus die unbeschreibliche Energie nicht verkraften konnte.

    Das Summen war nun zu einem Sausen von der Lautstärke eines Staubsaugers angewachsen, als das unbeschreibliche Phänomen begann, sich schneller und schneller kreisförmig auszubreiten.

    Die Welle erreichte Martin und Luna dreißig Sekunden später. Mit der Wucht kollidierender Schnellzüge wurden die beiden von einem unsichtbaren Stoß umgeworfen, als das Summen sie erfasste und über sie hinwegzog.

    Luna stieß ein lautes Heulen aus, als die Energie sie fortschleuderte und sie durch den Schnee schlitterte. Und auch Martin wurde von den Beinen gerissen und durch den Schnee geschleudert.

    Das Summen war zu der ohrenbetäubenden Kakophonie eines Düsenjets angewachsen, als es mittlerweile die Grenzen des Waldes erreicht hatte.

    Martin schüttelte benommen den Kopf und richtete sich langsam auf. Alles um ihn herum schien sich zu drehen. Er sah sich nach Luna um die winselnd zu ihm kroch. Martin sah an sich herunter und stellte fest, dass er heftiges Nasenbluten bekommen hatte. Das Blut lief ihm förmlich aus der Nase und ließ im Schnee almählich interessante Muster entstehen.

    Es dauerte einen Moment, bis Martin merkte, dass etwas nicht stimmte. Die Welt hatte ihre Farben verloren, das unter normalen Umständen rote Blut erschien schwarz vor seinen Augen, während sich der Rest seiner Wahrnehmung aus Grau- und Weißtönen zusammensetzte. Diese Erkenntnis traf Martin wie ein Hammerschlag. Er rieb sich heftig die Augen und öffnete sie dann in der Hoffnung, wieder normal sehen zu können. Doch er wurde enttäuscht.

    Luna leckte sich die Pfote. Als der Energiestoß über sie hinweggezogen war und sie einige Meter durch den Schnee geschleudert hatte, musste sie die wenig erfreuliche Bekanntschaft mit einem im Weg stehenden Baumstumpf machen. Danach war sie einige Momente verwirrt im Schnee liegen geblieben und hatte sich nach Martin umgesehen. Ihr Herrchen war offenbar ebenfalls von den Socken, schien aber nicht ernsthaft verletzt zu sein. Für den Augenblick war also alles in Ordnung. Aber irgendetwas stimmte trotzdem nicht.

    Bevor Luna ein glückliches Zuhause bei den Richters gefunden und davor im Tierheim ein trostloses Dasein verbracht hatte, musste sie eine schlimme Kindheit durchleben. Als letztes von acht Geschwistern geworfen, war sie in das bäuerliche Leben eines landwirtschaftlichen Betriebes hineingeboren worden. Ihr erstes Herrchen, ein grobschlächtiger und brutaler Mann, führte die Farm mit despotischer Härte. So sah sich nicht nur die leibliche Familie des Bauern seiner Gewalttätigkeit ausgesetzt, sondern auch die Tiere. Einer Kuh, die nicht schnell genug in den Stall gelaufen war, hatte er im Suff mit einem Holzscheit das Bein gebrochen. Auch Luna hatte ein ums andere Mal einen Fußtritt abbekommen und seitdem lange kein Vertrauen mehr zu Menschen fassen können. Erst bei Martin gelang ihr das wieder und auch mit seinen Eltern kam sie ganz gut zurecht. Die Stiefeltritte ihrer Welpenzeit vergaß sie jedoch nicht. Der Energiestoß, der sie eben erfasst hatte, war ungleich schlimmer gewesen als jeder Schlag, den ihr der Bauer einst verpasst hatte.

    Als Hund verfügte Luna über Sinne und Instinkte, die den menschlichen um ein Vielfaches überlegen waren. Und sie spürte dass die Welle die sie erfasst hatte, durch und durch schlechter Natur war. Sie konnte es förmlich riechen. Ein unbestimmbares Gefühl der Bösartigkeit war von dieser Energie ausgegangen. Und sie war immer noch greifbar!

    Es war Lunas Aufgabe, ihr Herrchen zu warnen! So kroch sie langsam auf Martin zu, die Schmerzen in ihrer Pfote ignorierend. Noch etwas war seltsam, die Farben schienen aus der Welt verschwunden zu sein.

    Der Verletzte rappelte sich mühsam auf und schüttelte, auf allen Vieren, den Schnee ab. Er versuchte gerade auf die Beine zu kommen, als ihn heftigste Übelkeit überkam und er sich mit der Wucht einer Explosion in den Schnee übergab. Ihm war schrecklich schwindelig.

    Mit siebzehn Jahren war Martin mit einigen Kumpels auf dem Münchner Oktoberfest gewesen. Hoffnungslos alkoholisiert durch den Genuss mehrerer Maß Bier war er in eine Achterbahn mit mehreren Loopings eingestiegen. Noch Tage später hatte er die Nachwirkungen gespürt.

    Das Gefühl in diesem Moment war ähnlich, wenn auch ungleich schlimmer. Martin öffnete die Augen. Er verdrängte den Brechreiz und sah auf.

    Seine Augen weiteten sich. Wie bei einem Fernseher, bei dem man den Farbkontrast langsam erhöht, kehrte die Farbe in die graue Welt zurück. Ungläubig starrte er auf die Szenerie. Luna schien ebenfalls etwas davon mitzubekommen, denn sie legte den Kopf schief und sah sich um. Dann nieste sie, erreichte Martin und stupste ihn mit der Schnauze an. Er streichelte ihren Kopf.

    »Herrje, weißt du, was hier für eine Scheiße abgeht?« Seine Hündin sah ihn ratlos an. »Wohl auch nicht.«

    Lunas Herrchen musste sich wieder setzen, als neue Übelkeit in ihm aufwallte. Seine Hose war mittlerweile vom Schnee durchnässt. Er bemerkte es kaum. Martin sah sich um. Inzwischen sah der Wald so aus als wäre nichts geschehen, sah man davon ab, dass Luna und er einen jämmerlichen Eindruck machten und immer noch absolute Stille herrschte.

    Das unheimliche Summen und Brausen war genauso verschwunden wie die üblichen Geräusche des Waldes, die auch weiterhin ausblieben. Martin krabbelte zum nächsten Baum und zog sich an einem tief hängenden Ast hoch.

    Mühsam kam er auf die Beine und beschloss, diesmal auf selbigen stehen zu bleiben. Luna stellte sich an seine Seite. Sie sah genauso verwirrt aus, wie Martin sich fühlte.

    Die Hündin zog die Nase kraus und sog die widerliche, synthetisch riechende Aura ein, welche die Welle hinterlassen hatte. Ihr Herrchen mit seinem unterentwickelten Geruchsorgan konnte diesen abstoßenden Geruch nicht wahrnehmen, das wusste Luna. So stupste sie Martin mit der Nase an, um ihn zum Weitergehen zu bewegen, weg von diesem unheimlichen etwas, das sich hier ausgebreitet hatte.

    Martin tastete nach der Hundeleine und befestigte sie an Lunas Halsband. Es war besser, sie jetzt nicht frei herumlaufen zu lassen. Wer konnte schon sagen, ob nicht noch weitere böse Überraschungen auf sie warteten. Martin dachte an sein Handy, aber schob diesen Gedanken schon im nächsten Moment beiseite. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, das Handy erst gar nicht auf seine Waldwanderungen mitzunehmen, um ungestört seinen Gedanken nachhängen zu können. Das Gerät lag also wie üblich auf seinem Nachttisch.

    Also überlegte Martin wer sonst noch von den Geschehnissen erfahren haben könnte.

    Oftmals hatten Luna und er den Wald ganz für sich allein. Sicher, auch andere Frischluft-Fanatiker nutzten ihn und Förster oder Waldarbeiter waren auch ständig unterwegs. Aber aufgrund der Ausdehnung und Größe des Waldgebietes war es oft sehr einsam, was Martin nur recht war. Er ging davon aus, dass es noch Stunden dauern könnte bis jemand vorbeikam. Die kalte Feuchtigkeit seiner durchnässten Hose machte sich jetzt auch langsam bemerkbar und so entschied sich Martin dazu, sich auf den Heimweg zu machen und seinen Eltern von den Geschehnissen zu erzählen.

    Dieses Ding, was konnte das nur gewesen sein? Martin hatte niemals zuvor eine vergleichbare Begegnung mit solch einer starken Energie erlebt. Er hoffte inständig, dass er nicht radioaktiv verseucht war.

    Martin nahm die Leine fest in die Hand und forderte Luna durch einen kurzen, sanften Ruck zum Losgehen auf. Seine Hündin, normalerweise kein Freund davon, angeleint zu werden, war diesmal mehr als bereit, dicht an seiner Seite zu folgen, obwohl sie immer noch recht wacklig auf den Pfoten war.

    Als die beiden etwa zehn Minuten lang gegangen waren, fiel Martin auf, dass die typischen Geräusche des Waldes langsam zurückkehrten. Er hörte das rhythmische Klopfen eines Spechts und auch das Krächzen der Krähen stellte sich wieder ein. Martin mochte sich nicht eingestehen, wie erleichtert er insgeheim über dieses Stückchen Normalität war.

    Luna hatte das Wiedereinsetzen der Geräusche dank ihres ausgeprägteren Gehörs natürlich schon wesentlich früher wahrgenommen. Doch was Martin aufgrund seiner unterentwickelten Instinkte verborgen blieb, versetzte Luna in tiefe Beunruhigung. Etwas stimmte nicht. Der Gesang der Vögel wirkte falsch. Die Hündin bemerkte die Disharmonie in den Lauten und war doch nicht in der Lage, sich erklären zu können, was genau nicht in Ordnung war. Bevor die Energiewelle über sie hinweggefegt war, war die Geräuschkulisse noch natürlich gewesen, nun wirkte sie in irgendeiner Form verändert. Luna ließ die Augen kreisen und lauschte wachsam nach weiteren verdächtigen Geräuschen.

    Die beiden gingen schweigsam nebeneinander her und hingen ihren Gedanken nach. Schon immer hatte es Martin schrecklich genervt, Sachverhalte nicht sofort überblicken zu können. Durchschaute er in der Schule eine Thematik nicht von Beginn an, verzweifelte er und verschwendete so kostbare Energie. Aber was eben geschehen war, war weder zu begreifen noch logisch oder naturwissenschaftlich zu erklären. Martin hob den Kopf. Er meinte, etwas gehört zu haben, was wie ein Auto klang. Er lauschte noch einen Moment, vernahm nichts Weiteres, zuckte mit den Schultern und vertiefte sich wieder in seine Grübeleien.

    Luna hatte das Geräusch natürlich längst wahrgenommen und bereits identifiziert. Es handelte sich um Förster Helmich, der in seinem Jeep unterwegs war, wie Luna am spezifischen Motorengeräusch erkannte.

    Förster Helmich war ein guter Bekannter von Luna und Martin. Mit einem gewaltigen weißen Vollbart ausgestattet, hatte er sich scherzhaft den Spitznamen Nikolaus eingehandelt. Auch sein Wesen ähnelte dem heiligen Mann. Stets zu Späßen aufgelegt, verfügte er über ein äußerst gutmütiges Wesen und hielt mit Martin immer einen kleinen Plausch und für Luna einen Hundekuchen bereit.

    Helmich war der einzige Mensch den man des Öfteren in den Wäldern traf. Meist hatte er seinen Schäferhund Rex dabei. Rex und Luna waren gute Freunde und tollten gerne miteinander herum, weshalb die Hündin erwartungsvoll mit dem kupierten Schwanz zu wedeln begann.

    Der Wagen war jetzt so nah dass auch Martin das sich nähernde Fahrzeug eindeutig hören konnte. Er packte die Leine fester und versuchte zu orten, wo sich das Auto befand und ob es auf sie zukam. Luna hatte bereits ausgemacht dass das Fahrzeug sich ihnen näherte.

    In ihre Vorfreude auf das Wiedersehen mit Helmich und Rex mischte sich urplötzlich ein ungutes Gefühl, als ihre ausgeprägten animalischen Instinkte sie spüren ließen, dass etwas nicht stimmte. Einen Moment später konnte Luna den schwachen Geruch des Todes wahrnehmen, der aus der Richtung des sich nähernden Wagens kam. In diesen Geruch mischte sich ein weiterer, den Luna jedoch nicht verstand. Es handelte sich um den Geruch des Wahnsinns. Lunas Vorfreude war verraucht. Auf einmal hatte sie keine Lust mehr auf ein Zusammentreffen mit dem Förster und ihrem Hundekumpel Rex. Irgendetwas war geschehen. Sie zerrte an der Leine und wollte Martin zu verstehen geben, dass sie sich schleunigst aus dem Staub machen sollten.

    Martin zog sie ärgerlich zurück: »Was zum Teufel ist los mit dir? Vielleicht kommt endlich jemand, der das hier erklären kann. Hör gefälligst auf zu ziehen!«

    Auch Martin hatte zwischenzeitlich bemerkt, dass das Fahrzeug auf sie zukam. Er hatte auch das tiefe Motorengeräusch als das des kraftvollen Geländewagens Jürgen Helmichs erkannt und freute sich dass ihnen endlich jemand über den Weg laufen würde, der seine Fragen beantworten konnte. Dass es sich augenscheinlich um den sympathischen Förster handelte, verbesserte seine Laune zusätzlich. Sie und Helmich trafen sich immer mal im Wald. Der Förster war der Einzige, dem man mit einiger Wahrscheinlichkeit begegnete. Martin kannte den Mann schon seit Jahren; Helmich war es auch gewesen, der sich um Luna kümmerte als diese sich mit einem Igel angelegt und dabei eine blutige Nase geholt hatte.

    Luna zog inzwischen kräftig an der Leine und fing an zu jaulen. Die böse Vorahnung, die instinktive Wahrnehmung von Wahnsinn und Tod, ergriff nun vollends Besitz von ihr. Was dort in dem Wagen auf sie zukam, hatte nicht mehr viel mit Helmich und Rex zu tun. Sie wollte nur noch verschwinden.

    Ihr Herrchen wurde wütend. Heftig riss er Luna an der Leine zurück und setzte zu einer Schimpfkanonade an, als der Geländewagen vor ihnen um eine Biegung kam.

    Martin sah auf. Im selben Moment erkannte er, dass es schon wieder nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Der Wagen fuhr nicht, er schoss geradezu dahin – viel zu schnell wenn man bedachte dass der Untergrund nur ein zugeschneiter Waldweg war. Martin konnte hinter der Windschutzscheibe den Umriss der massigen Gestalt von Förster Helmich sehen. Dieser erkannte gerade noch rechtzeitig, dass der Weg vor ihm nicht unbelebt war. Er setzte zum Bremsen an. Die Reifen blockierten. Der schwere Wagen schoss auf Martin und Luna zu. Die beiden konnten sich gerade noch durch einen Sprung in die Büsche retten. In Sekundenschnelle schlitterte das Gefährt an ihnen vorbei und kam in etwa zehn Meter Entfernung auf dem Weg zum Stehen. Martin wunderte sich vage darüber dass die Karre nicht mit einem der Bäume kollidiert war.

    Daraufhin wurde die Fahrertür aufgerissen. Einem markerschütternden Gebrüll folgte schließlich der wuchtige Körper des Försters. Der Mann war eine erschreckende Erscheinung: in der rechten Hand hielt er sein Jagdgewehr und fuchtelte heftig damit herum. Seine grüne Jacke war mit Blut besudelt. Spritzer davon hatten auch auf seiner weißen Hose einige Flecken hinterlassen. Das Schlimmste war sein Gesicht. Der sonst freundliche Ausdruck war zu einer Maske aus Wut, Wahnsinn und panischer Angst verzerrt. Die normalerweise gütig dreinblickenden Augen machten einen wirren Eindruck und zuckten permanent hin und her, als versuchte der Mann überall gleichzeitig hinzusehen. Der zum Schreien aufgerissene Mund entblößte eine Reihe großer, ebenmäßiger weißer Zähne.

    Martin war schockiert. Luna zog jaulend an der Leine.

    »Verdammte Kugeln! Mein armer Rex! Ich kriege euch, ihr verfluchten Biester! Ich reiß euch die Därme aus dem Arsch, verdammtes Dreckspack!«, kreischte Helmich so laut mit sich überschlagender Stimme, dass Martin kaum ein Wort verstehen konnte. Helmichs Stimmbänder mussten jeden Augenblick reißen. »Ich pack euch und schicke euch dahin zurück, wo ihr hergekommen seid, ihr Ausgeburten der Hölle!«

    Martin wunderte sich über das Vokabular des sonst so besonnenen Mannes. Soweit Martin sich erinnern konnte, war der derbste Kraftausdruck, den die Frohnatur jemals verwendet hatte, der Begriff »Bockmist« gewesen, als der SC Freiburg vor einigen Jahren in die zweite Fußball-Bundesliga abgestiegen war. Nun schien es, als hätte der Förster es darauf abgesehen, für sämtliche Schimpfwortwettbewerbe der Welt zu trainieren, so sehr steigerte er sich in sein vulgäres Geschrei hinein.

    Helmich war mittlerweile dazu übergegangen, eine seltsam aussehende Pirouette zu drehen, um seinem augenscheinlichen Bedürfnis, alles gleichzeitig im Blick haben zu wollen nachzukommen. Irre glotzte er mit weit aufgerissenen Augen in den Wald und streckte dabei kerzengerade den rechten Arm aus, mit dem er unablässig auf das Dickicht deutete. Er sah aus wie ein zu groß geratener Wetterhahn aus dem Irrenhaus. Ohne Unterbrechung schrie er weiter und setzte sein Herausbrüllen obszöner Schimpfwörter fort. Für Martin war mittlerweile klar, dass der Mann nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte.

    »Wellen, Auren, dann diese Pelzknäuel! Und mein armer Huuuund!«

    Helmich war es gelungen, das letzte Wort so weit auszudehnen und dabei die Tonlage kontinuierlich anzuheben, sodass es wie ein Nebelhorn klang. Er vollführte immer noch seine seltsamen Kreiselbewegungen und schien Martin und Luna, welche winselnd an der Leine zog und verschwinden wollte, nicht zu bemerken.

    Martin entschloss sich dazu zu versuchen, die Aufmerksamkeit von Jürgen Helmich auf sich zu lenken, obgleich er sich nicht sicher war, ob das eine gute Idee sein würde. Offenbar hatte der sonst so sympathische Herr vollständig den Verstand verloren. Martin blickte unbehaglich auf die mit Blut besudelte Kleidung. Aber diese momentane Posse konnte nicht ewig so weitergehen.

    »Herr Helmich!«

    Die Ansprache erfolgte auch nach Martins Ansicht zu leise. Immer noch vollführte der durchgeknallte Förster seine Drehungen und schrie dabei pausenlos mit einer Stimme, die mittlerweile bereits heiser geworden war. Auch Luna blickte unbehaglich zu ihrem Herrchen auf. Martin hatte doch wohl nicht ernsthaft vor, die Aufmerksamkeit des verrückt gewordenen Mannes auf sich zu ziehen.

    Dabei war Helmich für Luna nicht einmal das Schlimmste. Sie hatte Rex gewittert, der sterbend auf der Rückbank lag, sowie eine namenlose Kreatur, die in den Kofferraum geworfen worden war. Luna zog stärker an der Leine und urinierte vor Angst. Sie wollte nur weg, fort von diesem Ort.

    Doch unglaublicherweise machte ihr Herrchen einen neuen Versuch, die Aufmerksamkeit des geistesgestörten Försters auf sich zu ziehen. So absurd es in dieser Situation auch anmutete, tatsächlich nahm Martin nun einen auf dem verschneiten Waldboden liegenden Stock, hob ihn auf, ging auf Reichweite zu Helmich heran und stupste ihn zögerlich mit dem Stock an.

    Martin litt Todesängste. Es war nicht mehr zu leugnen, dass Jürgen Helmich vollständig durchgedreht war. Sein seltsames Verhalten war durch absolut nichts zu erklären. Martin versuchte krampfhaft sich nicht zu fragen, woher das Blut auf der Kleidung des Mannes kam. Gewiss, es konnte von einem verendeten Wildtier stammen, aber nebenbei, wo war eigentlich Rex? Er kam zu dem Ergebnis, dass es ausgeschlossen war, sich einfach aus dem Staub zu machen. Helmich schien aber auch nicht von seinem absonderlichen Verhalten ablassen zu wollen. Martins zögerliche Anrede hatte ebenfalls keine Reaktion hervorgerufen. Daher holte er tief Luft, nahm den Stock und stupste den immer noch schreienden und um sich drehenden Förster erneut im Bereich des Brustkorbs an, diesmal deutlich fester.

    Helmich blieb augenblicklich stehen und glotzte verständnislos in den Wald. Der irre Blick verharrte einen Moment regungslos auf dem Waldboden. Martin war es angst und bange und er begann in Erwägung zu ziehen, sich Luna zu schnappen und einfach davonzulaufen. Scheiß auf die Antworten, das hier war schon gruselig genug.

    Doch dann richtete sich der Blick des Försters langsam auf ihn. Nie zuvor hatte Martin einen seltsameren Gesichtsausdruck gesehen. Das Gesicht und die einst lebhaften Augen des Waldhüters waren leer – absolut ausdruckslos. Doch dann glaubte Martin, zumindest einen Funken Wiedererkennen im Gesicht des durchgeknallten Mannes ausmachen zu können.

    Die Augen des Försters wanderten von Martin zu Luna und wieder zurück. Eine trockene Zunge schnellte hervor und befeuchtete die rissigen Lippen. Dann richtete Jürgen Helmich zum ersten Mal bewusst seine Worte direkt an ihn.

    »Martin, Junge, was machst du noch hier? Lauf weg! Schnapp dir deinen Hund und verzieh dich. Fall ihnen nicht in die Fänge! Lauf!«

    Die Stimme des Försters war erneut angeschwollen und erfüllte die Luft mit einiger Intensität. Martins Ohren schmerzten bereits. Luna legte den Kopf schief und sah den Förster misstrauisch an.

    »Wovon reden Sie, um Himmels willen? Was ist hier passiert, Herr Helmich? Was war das vorhin? Was ist mit Ihnen passiert und wen meinen Sie mit ›sie‹?«

    Martin schoss hoffnungsvoll seine wichtigsten Fragen auf den Mann ab, ein wenig erleichtert darüber, dass es ihm endlich gelungen war, so etwas wie Aufmerksamkeit zu erlangen.

    Der Förster glotzte ihn verständnislos an, sah zum Wagen und fing plötzlich mit einer Heftigkeit an zu weinen, die Martin zutiefst erschreckte. Die Tränen liefen ungehindert über die massigen Wangen des Mannes und verschwanden in dem gewaltigen Vollbart. Der kräftige Brustkorb zuckte, als er von immer neuen Weinkrämpfen ge-schüttelt wurde.

    Zitternd hob er die Hand und zeigte auf den Wagen: »Rex war immer mein Begleiter und mein Freund. Ich habe ihn aufgezogen, seit er entwöhnt war, und bin mit ihm durch dick und dünn gegangen nur damit jetzt so ein Scheißding, das es nicht mal geben dürfte, auftaucht und ihn einfach umbringt. Vielleicht gibt es noch mehr von ihnen, also hau endlich ab!« Die Sätze des Försters gingen in hysterischem Schluchzen unter. Martin blickte zum Wagen herüber, konnte aber von seiner Position aus nichts erkennen. Langsam näherte er sich dem großen Geländewagen. Förster Helmich warf sich unvermittelt auf den Boden und lachte schrill auf. Der Mann tat Martin leid. Es war klar, dass der einst scharfsinnige und intelligente Mann mental verloren war. Martin versuchte, keine Vermutungen darüber anzustellen, was diesen Umstand bewerkstelligt haben könnte. Er kam den Rückfenstern des Fahrzeugs immer näher und musste Luna mittlerweile kräftig hinter sich herziehen, da diese offenbar alles unternahm, um zu fliehen.

    Die Hündin war einer Panik nahe, obwohl die Kreatur, die im Kofferraum des Wagens lag und diesen widerlichen Gestank verströmte, bereits tot war. Es war Luna unmöglich, diesen Kadaver irgendetwas zuzuordnen, das sie jemals erschnüffelt hatte, denn der Gestank des Todes wurde noch von etwas überlagert, das nicht von dieser Welt war. Es war der Gestank des Unfassbaren.

    Plötzlich überholte Helmich Martin und Luna, lehnte sein Jagdgewehr mit dem Lauf nach oben an den linken Kotflügel, ging zur hinteren Tür auf derselben Seite und öffnete sie.

    »Wenigstens konnte ich meinen Rexi noch rächen. Aber jetzt ist Schluss! Es kann noch mehr davon geben. Gib gut auf Luna acht! Diese Hundeschlächter sind weder Mensch noch Tier.« Helmich lachte schrill auf. »Martin, wenn ich hier fertig bin, nimm die Flinte und hau ab! Halte dich vom Dickicht fern und versuche, zu überleben! Luna wird dich warnen!«

    Martin war mittlerweile in eine dumpfe Passivität verfallen. Er unternahm keine Versuche mehr, vernünftig mit dem Förster zu kommunizieren. Die Geschehnisse der letzten Stunde kamen ihm absolut unwirklich vor und die unangenehmen Gerüche aus dem Wagen drangen zu den höheren Ebenen seines Bewusstseins herauf. Er hatte nie zuvor etwas annähernd Widerliches gerochen. Wie betäubt sah Martin dabei zu, wie Helmich sich in den Wagen beugte und Rex von der Rückbank zog. Luna kläffte schrill.

    Der Körper des Schäferhundes rutschte aus dem Wagen heraus und plumpste in den Schnee. Dieser färbte sich sofort rot. Das Tier musste bereits unglaublich viel Blut verloren haben.

    Martin erinnerte sich daran, wie oft er mit Rex gespielt hatte. Er war immer ein lebhafter, gutmütiger Kerl gewesen, genau wie sein Herrchen. Jetzt war das Herrchen wahnsinnig geworden und Rex lag unübersehbar im Sterben.

    Dementsprechend bot der Hund einen erbärmlichen Anblick. Die trüben Augen blickten ängstlich zu ihnen auf. Die Zunge hing aus dem Maul und der Atem ging hechelnd und kurzatmig. Das Schlimmste war der Brustkorb. Dieser war förmlich aufgerissen worden und eine einzige riesige, klaffende Wunde. Zwei Rippen waren freigelegt und gebrochen worden. Darunter waren die Organe des Hundes zu erkennen. Es war unglaublich, dass das Tier überhaupt noch lebte. Aber Rex würde nicht mehr lange durchhalten, so viel war sicher.

    Luna war an Rex herangetreten und stupste ihn mit der Schnauze an. Rex hob den Kopf ein Stück und leckte ihr die Pfote. Trotz seiner Benommenheit überkam Martin plötzlich tiefe Trauer, als er den wortlosen Abschied der beiden Hunde beobachtete.

    Neben ihm brach Helmich wieder in Tränen aus. Langsam schleppte er sich zum Wagen und nahm das Gewehr an sich.

    »Rex hat genug gelitten, ich mache seinen Qualen ein Ende. Martin, zieh deinen Hund da weg!« Entsetzt beobachtete Martin, wie Helmich das Gewehr entsicherte und auf Rex anlegte. Hastig packte Martin die winselnde Luna am Halsband und zog sie einige Meter zurück.

    Helmichs Gesicht war tränennass.

    »Du warst immer ein guter Hund, Rexi. Danke für alles«, brachte der Förster schluchzend hervor.

    Der Schäferhund hob noch einmal mit letzter Kraft den Kopf und leckte Helmich die Hand, wie um ihm zu zeigen, dass er genauso dachte und er Helmich verstehen könne.

    Ein letzter schmerzlicher Blick zwischen den beiden, dann drückte der Förster ab. Es ertönte ein gewaltiger Knall; Rex’ Kopf war nur noch eine Ruine. Der Schädel war aufgeplatzt, Hirnmasse nach hinten ausgetreten. Der linke Hinterlauf zuckte noch einmal, als ein letzter Nervenimpuls durch den Körper jagte. Dann lag das Tier still.

    Helmich stieß einen lang gezogenen Schrei aus, der Martin das Blut in den Adern gefrieren ließ. Der Schmerz musste unerträglich sein. In diesen Lärm mischte sich auch noch das Jaulen Lunas, die wie verrückt an der Leine zog und zu Rex wollte.

    Der Schrei verebbte, Helmich hatte keine Luft mehr. Aus roten Augen sah er Martin an. Das Gewehr hielt er nach wie vor in den Händen.

    Martin bekam auf einmal Angst, dass der Förster in seinem Wahn vielleicht auf Luna und ihn anlegen könnte. Unbehaglich schielte er zu der Flinte hin.

    Doch Jürgen Helmich richtete mit ersterbender Stimme das Wort an Martin: »Das Ding, das Rex so zugerichtet hat, habe ich erschossen. Es liegt im Kofferraum des Jeeps. Tu dir selbst einen Gefallen und sieh nicht nach! Nimm Luna, lauf nach Hause und ruf die Polizei! Ich glaube, von diesen Viechern gibt es noch mehr. Es ist zu schrecklich, um es irgendwie verkraften zu können. Dieses Vieh hat hier nichts verloren. In diesem Wald nicht, nicht auf dieser Welt. Ich glaube, es ist tot. Ich habe es voll erwischt, aber was ist schon unmöglich. Renn heim, hole Hilfe!«, er zögerte kurz. »Martin, es war schön, dich gekannt zu haben.« Dann zog der Mann den rechten Schuh und Socken aus. Martin verstand nicht.

    Helmich machte mit der freien Hand das Kreuzzeichen, schob sich den Gewehrlauf in den Mund und betätigte mit dem großen Zeh den Abzug. Wieder ertönte der laute Knall. Der Schädel des Mannes brach auf, Blut und Gehirnmasse spritzten, Helmich sackte in sich zusammen.

    Jetzt war es Martin, der schrie. Er konnte nicht anders. Was er bisher hatte ertragen müssen trotzte jeder Beschreibung. Den krönenden Abschluss bildete nun der Freitod seines langjährigen Freundes. Martin erinnerte sich daran, dass das Thema Selbstmord sogar ein- oder zweimal in ihren Diskussionen aufgetaucht war. Helmich hatte damals erklärt, dass es niemals eine Lösung sei sich selbst hinzurichten, sondern dass es immer einen Ausweg gäbe. Jetzt lag er da, in einer größer werdenden Blutlache, neben seinem toten Hund. Martin fragte sich, was Helmich gesehen hatte, um dermaßen den Verstand zu verlieren. Er schielte zum Auto hin.

    Neugier war schon immer eine seiner Schwächen oder, je nach Betrachtungsweise, auch Stärken gewesen. Im Endeffekt hatte er die Entscheidung schon getroffen, als Helmich das erste Mal von dem Wesen im Kofferraum gesprochen hatte. Es schien ihm unmöglich, diesen Ort zu verlassen, ohne Näheres erfahren zu haben. Martin schaute Luna an. Die Hündin sah unbehaglich zu ihm auf, so als ahnte sie bereits, was er vorhatte. Langsam drehte Martin den Kopf und betrachtete die Leichen von Helmich und Rex. Der Schnee um sie herum hatte sich rot gefärbt. Der unidentifizierbare, beißende Gestank lag in der Luft.

    Nein, er konnte einfach nicht gehen, ohne die Ursache für den Tod der beiden erfahren zu haben. Plötzlich erfasste ihn unbändige Wut. Helmich und Rex waren stets zwei Frohnaturen gewesen, die nie jemandem etwas zuleide getan hatten. Und nun waren sie tot. Mit entschlossenen Schritten stapfte Martin auf den Kofferraum zu, zögerte dann aber doch, als er direkt vor der Klappe stand. Immerhin hatte der Förster ihn davor gewarnt, nachzusehen und eigentlich hatte Martin nicht die geringste Ahnung, was da im Kofferraum lag. Sicher war nur, dass es gefährlich sein musste, das bewiesen die beiden leblosen Körper die nebeneinander im Schnee lagen.

    Luna war von Martin widerwillig zum Kofferraum gezogen worden. Sie hatte im Laufe der Jahre die Neugier ihres Herrchens kennen gelernt und rechnete nicht mehr damit, dass Martin ohne nachgesehen zu haben gehen würde. Was aus dem Kofferraum zu ihr drang war so verstörend. Aber Martin hielt sie mit der Leine konsequent bei sich. Inzwischen spürte Luna auch, dass das Ding im Kofferraum noch gar nicht tot war. Es lag im Sterben, aber ein Fünkchen Leben befand sich nach wie vor in der Kreatur. Die Hündin sah Martin an, der sich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte. Sie sah es in seinen Augen. Luna spannte die Muskeln an, machte sich bereit zum Davonlaufen.

    Martin streckte die Hand nach dem Druckknopf aus und betätigte ihn. Der Kofferraumdeckel öffnete sich mit einem leisen hydraulischen Zischen. Erst viel später sollte Martin der Gedanke kommen, dass es mehr als leichtsinnig gewesen war, den Kofferraum zu öffnen ohne sich zum Selbstschutz der Flinte zu bedienen, die neben dem toten Förster lag. Aber in diesem Augenblick dachte Martin tatsächlich nicht daran – oder wollte nicht daran denken –, dass er die Waffe eventuell benötigen würde.

    Angstvoll spähte Martin in den geräumigen Kofferraum. Dort lag etwas. Luna kläffte und zog wie irre an der Leine. Es war mit einer braunen Plastikplane abgedeckt. Die Plane, die Förster Helmich sonst dazu verwendete, verendetes Wild oder andere Dinge

    zu transportieren ohne im Wagen eine allzu große Sauerei zu veranstalten, verbarg nun etwas, was dem Umriss nach ziemlich rund und voluminös zu sein schien. Eine Wölbung von der Größe eines Gymnastikballes zeichnete sich unter der Plane ab. Es war unmöglich, zu diesem unförmigen Umriss ein Bild zu zeichnen, das einen logisch aufgebauten Körper entsprach. Martins Neugier war nun unerträglich. Er musste die Plane wegziehen.

    Luna bellte wie verrückt und Martin brachte sie mit einem kurzen, aber heftigen Ruck an der Leine zum Schweigen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. In dem Bewusstsein, dass es ein furchtbarer Fehler sein könnte, streckte Martin langsam seine Hand nach dem linken Ende der Plane aus und zog sie mit schweißnassen Fingern langsam zur Seite.

    Etwa zweieinhalb Stunden zuvor befand sich Förster Jürgen Helmich mit seinem Schäferhund Rex auf einem seiner zahllosen Routinegänge durch sein Revier. Er liebte die Wanderungen durch den verschneiten Wald zusammen mit seinem Hund. Dabei warf Helmich jedes Mal Schneebälle in die Luft, welchen Rex mit Begeisterung nachjagte und die er dann zerbiss. Es war ein altes Ritual der beiden, der Hund war ganz verrückt danach.

    Auch heute zelebrierten die beiden wieder ihr Spiel. Das Wetter, strahlender Sonnenschein wechselnd mit starkem Schneefall, entsprach genau seinem Gusto und zudem hatte er gestern die letzte Hypothek auf sein Haus abbezahlt. Helmich war also besonders guter Laune.

    Doch dann wurde Rex immer unruhiger und bald vernahm auch Helmich erstmals ein seltsames Summen, das er sich nicht erklären konnte. Wenig später erlebten sie, genau wie Martin und Luna zu diesem Zeitpunkt, eine seltsame Energiewelle, doch ging der Albtraum für sie jetzt erst los.

    Helmich, dessen Psyche derzeit noch intakt gewesen war, bahnte sich mit dem Gewehr im Anschlag den Weg durch den Schnee zurück zu seinem Geländewagen, Rex treu an seiner Seite. Er konnte sich die Geschehnisse genauso wenig erklären wie Martin, etwas mehr als zwei Kilometer weit entfernt.

    Er ging gerade diverse Möglichkeiten durch was das Phänomen verursacht haben könnte, als Rex plötzlich stehen blieb, die Lefzen hochzog und zu knurren begann. Helmich war sofort alarmiert und sah sich nach allen Seiten um, konnte aber keine Ursache für das Verhalten seines Hundes ausmachen.

    Er war gerade im Begriff seinen Hund beruhigen zu wollen und den Weg fortzusetzen, als etwas aus dem Gebüsch zwei Meter vor ihnen heraussprang. Im ersten Moment erkannte Helmich lediglich eine mit sehr kurzem Fell bedeckte Kugel mit Gliedmaßen, die ein schrilles Kreischen ausstieß und im Sprung seinen Hund anvisierte. Rex kam gerade noch zu einem schockierten Aufheulen, dann hatte eine der missgebildeten Krallen des Wesens den Bauch des Hundes aufgeschlitzt.

    Helmich schoss. Es war ein Wunder, dass er die Kreatur auf Anhieb traf und unschädlich machen konnte. Seinem Hund war natürlich nicht mehr zu helfen. Wie in Trance hatte Helmich Rex gepackt und auf den Rücksitz gelegt. Dann beschloss er aus einem Impuls heraus, auch das Monster mitzunehmen. Er packte das unförmige Etwas und wuchtete es in den Kofferraum. Helmich war ein kräftiger Mann. Dennoch machte ihm das Zentnergewicht ordentlich zu schaffen.

    Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Helmich versucht, keine Gedanken zuzulassen. Kurz bevor er die Plane über das Wesen zog und den Deckel zuschlug, fiel sein Blick auf das Gesicht der Kreatur. Der Anblick hatte Jürgen Helmich umgehend um den Verstand gebracht und so war er, vom Wahnsinn befallen, schreiend die Straße entlanggerast, bis er schließlich auf Martin und Luna gestoßen war.

    Martins Herz schlug wie verrückt. Stück für Stück zog er die Plane zurück und legte zunehmend mehr von dem frei, was darunter lag. Luna bellte neben ihm in ohrenbetäubender Lautstärke und drehte sich wie verrückt im Kreis.

    Zuerst kam eine filigrane Spitze zum Vorschein, die zu einem armdicken Schwanz anwuchs und an den einer Ratte erinnerte. Doch dieser hier maß mindestens einen Meter Länge.

    Martin schwitzte nun so stark, dass Schweißtropfen sein Gesicht herunterliefen und auf die Plane tropften. Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe und glaubte nicht, je im Leben schon mal eine solche Angst gehabt zu haben. Dennoch machte er von purer Neugier getrieben weiter mit seinem Vorhaben und schob die Plane zurück. Luna bellte und kläffte sich heiser und zog wieder an der Leine. Martin bemerkte es nicht einmal.

    Der widerliche, ledrige Schwanz mündete in einen voluminösen, mit millimeterlangen Haaren bedeckten Hinterleib, welcher aufgrund seiner rundlichen Form extrem aufgebläht wirkte und gut einen Meter im Durchmesser maß. Die Farbe erinnerte an das Braun einer Leber und wirkte ungesund. Martin sog scharf die Luft ein. Er war sich sicher, dass das Ding unter der Plane in keinem Biologiebuch zu finden war, und begann den geistigen Verfall des Försters zu verstehen. Man musste schon eine sehr starke Psyche haben, um hiermit klarzukommen.

    Trotz seiner panischen Angst zog Martin weiter an der Plane und legte so Stück für Stück von dem Albtraum frei. Der Gestank der Kreatur war mittlerweile fast unerträglich und brachte Luna schier um den Verstand. Es war der Gestank von Verderben und Bösartigkeit. Doch auch den bemerkte Martin kaum, ganz gefangen von den optischen Eindrücken die seine Aufmerksamkeit völlig in den Bann zogen. Dem ekelerregenden, ballonartigen Leib entwuchsen zwei kräftige Hinterläufe, deren Aufbau entfernt an jenen von Hundebeinen erinnerte. Doch sie waren wesentlich größer, muskulöser und nicht so stark behaart. Auch waren die schwärzlichen Klauen länger und schärfer, sodass sie ohne Weiteres als Waffe einsetzbar zu sein schienen.

    Dann legte Martin die vorderen Gliedmaßen frei. Als er begriff, was er da sah, konnte er nur noch schreien. Neben ihm jaulte Luna. Hätte die Kreatur bisher noch halbwegs als Tier interpretiert werden können, wurde dieser Eindruck durch die Beschaffenheit der Vorderläufe zunichtegemacht. Die Extremitäten endeten in einer Art Hände. Menschliche waren zwar kleiner und besaßen nicht so lange Finger, eher Klauen mit länglichen, schwärzlichen Nägeln, trotzdem, diese waren eindeutig humanoid! Sie konnten greifen und alles andere tun, was die menschlichen Greifwerkzeuge taten. Jedenfalls theoretisch.

    Martin hatte genug. Dennoch konnte er nicht gehen, ohne alles gesehen zu haben. Er beschloss, die Plane komplett wegzureißen, einen kurzen Blick auf den Kopf des Wesens zu werfen und dann mit Luna schnellstmöglich zu verschwinden.

    Er würde nachhause zu seinen Eltern rennen und versuchen, seine Eindrücke zu verarbeiten. Sollten Mum und Dad sich darüber Gedanken machen, wie weiter vorzugehen sei. Martin reichte es.

    Er wappnete sich für das, was er gleich sehen würde, und bereitete seinen Verstand so gut es ging, auf den Anblick vor. Er verstärkte seinen Griff um die Plane und setzte dazu an sie mit einem Ruck wegzureißen. Sekundenbruchteile später schlug einer der kräftigen Hinterläufe der Kreatur aus und erwischte seinen linken Arm.

    Martin floh. Er dachte nicht mehr an Luna und ließ ihre Leine fallen. Doch wenigstens das hatte sich zu keinem Problem entwickelt. Luna war die ganze Zeit, die auf dem Boden schleifende Leine hinter sich herziehend, laut bellend neben Martin her gerannt.

    Martin wollte nur aus diesem verdammten Wald heraus, die Landstraße erreichen und ein Auto anhalten. Die Angelegenheit war zu dringend geworden, jetzt konnte er nicht mehr abwarten bis er seine Eltern erreicht hatte, um alles zu erzählen.

    Endlich, nachdem sie eine Stunde gelaufen waren, ließen die beiden die letzten Ausläufer des Waldes hinter sich und erreichten freies Feld. Der Schneefall hatte wieder zugenommen und der auffrischende Wind blies ihnen dicke Flocken ins Gesicht.

    Martin hatte keine Kraft mehr. Ermattet sank er auf die Knie und rang um Atem. Mühsam versuchte er seine sich wild überschlagenden Gedanken zu ordnen. Erst jetzt dachte er an seine Verletzung. Langsam hob er den Arm und betrachtete die Wunde. Der Ärmel der dicken Winterjacke war von zwei Klauen streifenförmig aufgerissen worden. Die weiße herausquellende Fütterung der Jacke machte eine nähere Diagnose unmöglich – Martin sah nicht genug. Energisch riss er sich die Jacke herunter und schob den Ärmel seines Pullovers nach oben.

    Er hatte unglaubliches Glück gehabt! Es handelte sich wohl nur um oberflächliche Kratzer, seine Jacke hatte Schlimmeres verhindert. Dennoch waren die Verletzungen tief genug, um zu bluten. Zwei parallel verlaufende Risswunden schmückten seinen Unterarm. Martin ging jedoch davon aus, dass die Wunde nicht genäht werden musste. Hätte er sich jedoch weiter in den Wagen gebeugt, wäre der Schlag der Kreatur wahrscheinlich kräftig genug gewesen, um ihm den Arm abzureißen. Martin mochte gar nicht daran denken. Auch dass er das Gesicht nicht mehr hatte sehen können, erfüllte ihn nun mit vager Erleichterung. Wer wusste schon, was ihm erspart geblieben war. Den Förster hatte die Begegnung mit diesem Ding immerhin um den Verstand gebracht.

    Martin saß immer noch auf dem kalten verschneiten Feldweg. Erst jetzt wurde ihm Luna deutlich bewusst, die aufgeregt neben ihm hertänzelte und seine Hand lecken wollte.

    »Ja, bist eine ganz Gute! Komm jetzt!«

    Ächzend kam Martin wieder auf die Beine und nahm Lunas Leine. Er war völlig ausgepumpt. Dennoch marschierte er zügig weiter.

    Der Wald war sehr ruhig und Martin fühlte sich einsam. Doch spätestens an der Straße musste irgendwann ein Auto vorbeikommen. Martin wollte einen Fahrer anhalten, ihn bitten die Polizei zu rufen und dann endlich nachhause zu seinen Eltern laufen.

    Zum ersten Mal hätte er sein Handy wirklich dringend gebraucht. Aber wer rechnete im Vorfeld schon mit so etwas?

    Martin konnte die Straße schon erkennen. Er musste nur noch ein einige hundert Meter langes Feld überqueren und beschleunigte seinen Schritt in der naiven Hoffnung darauf, das Geschehene bald hinter sich zu lassen.

    Luna blieb treu an seiner Seite. Sie hatte den größten Schock ihres Hundelebens hinter sich und dachte wehmütig an ihr Körbchen daheim.

    Die beiden hatten ungefähr die Hälfte des Feldes überquert als Martin ein Fahrzeug am Horizont ausmachen konnte, das sich auf der Straße näherte. Er dachte noch sie könnten es schaffen das Auto anzuhalten, wenn sie liefen. Doch dann kam die Welle zurück.

    Das Phänomen ähnelte der ersten Erscheinung. Wieder brauste der gewaltige Energieschub, begleitet von einem enormen, entnervenden Summen und Dröhnen, über sie hinweg.

    Martin und Luna hatten keine Zeit mehr, in irgendeiner Form zu reagieren. Geschwächt durch die Strapazen der ersten Welle, konnte ihr Organismus die zweite nicht mehr verkraften. Die beiden plumpsten um wie zwei Mehlsäcke und versanken in einer tiefen Bewusstlosigkeit, als die unbeschreibliche Energie sie erfasste.

    2. Im Dorf

    Lange Zeit später war es Martin hundeelend zumute. Ihm war, als hätte er einen langen Schlaf hinter sich. Noch hielt er die Augen geschlossen, doch wandelte sich der Halbschlaf mehr und mehr in Erwachen. Ein gewaltiges Gähnen entrang sich seiner Kehle. Er spürte wie die Kraft der Sonne sein Gesicht wärmte. Ihm war heiß.

    Langsam öffnete Martin die Augen einen Spalt, musste sie aber sofort wieder schließen, da die Sonne zu grell schien. Mühsam rollte er sich auf die Seite und wunderte sich, warum der Boden so warm war. Eigentlich hätte der Schnee seine Kleidung durchnässt haben müssen.

    Dann kam Martin ein neuer Gedanke. Wo war Luna? Er erinnerte sich dunkel daran, dass sie direkt neben ihm gestanden hatte, als die Welle zum zweiten Mal über sie hinwegfegte.

    Er hoffte inständig, dass sie nicht zu weit weggelaufen war. Trotz des grellen Sonnenscheins zwang er sich vorsichtig die Augen zu öffnen und nach seiner Hündin zu sehen. Sie lag neben ihm im Gras und atmete schwer. Ihre lange Zunge hing heraus und fächerte ihr Luft zu. Auch ihr machte die Hitze zu schaffen. Doch als Martin bewusst wurde was geschehen war riss er die Augen weit auf, ohne auf den brennenden Schmerz zu achten.

    Jeder Logik zum Trotz hatte die zweite Welle ein Novum erschaffen. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war der Winter, der bisher geherrscht hatte, von ihr in die Flucht geschlagen und die Welt um einige Monate in die Zukunft versetzt worden. Der nicht für möglich gehaltene Sprung durch die vierte Dimension - die Zeit - wurde durch die Welle ausgelöst.

    Martin starrte fassungslos auf die ihm dargebotene Szenerie. Wo Luna und ihn eben noch eine schneebedeckte Landschaft umgeben hatte gab es nun eine hochsommerliche Idylle. Der Schnee war vollkommen verschwunden und durch das Gelb des angebauten Getreides und das Grün des nahen Waldes ersetzt worden. Die Hitze hatte Martins Kleidung während seines langen Schlafes längst getrocknet und sorgte nun für unangenehme Wärme. Martin entledigte sich seiner Wintersachen. Schon jetzt lief ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht. Es war etwas anderes, monatelang übergangsweise auf die Ankunft des Sommers vorbereitet zu werden oder von einer Sekunde auf die andere in eine komplett andere Jahreszeit versetzt zu werden.

    Martin sah sich um. Luna kläffte verblüfft. Zwar hatte sie sich nicht mit unpassender Kleidung herumzuärgern doch auch sie verunsicherte und verwirrte die plötzliche klimatische Veränderung.

    Die beiden waren es nicht gewohnt sich innerhalb einer so kurzen Zeitspanne solch extremen Witterungsschwankungen anpassen zu müssen, niemand war das seines Wissens. Sonst wirkte jedoch alles recht normal. Die Sonne strahlte kräftig aus einem wolkenlosen blauen Himmel herab. Zeitweise strich eine sanfte Sommerbrise über das Feld und brachte das Getreide zum Wogen und das Zirpen der Grillen erfüllte die Luft.

    Es war ein Platz zum Wohlfühlen und Entspannen. Der Ort hätte Kraft und Frieden spenden können wenn man nicht gewusst hätte, dass vor einigen Minuten noch Winter gewesen war und eine dicke Schneeschicht alles hier überzogen hatte.

    Auf einmal wurde Martin ein weiteres Mal speiübel. Unvermittelt verkrampften sich seine Eingeweide und er beugte sich rasch nach vorn. Ein kräftiger Schwall Erbrochenes schoss aus seinem Mund heraus. Martin setzte sich zitternd ins Gras. Luna kam herbei und wollte am Erbrochenen lecken.

    »Himmel, bist du abartig! Lass das!« Er zog Luna von der Pfütze fort, als er auf einmal einen massiven Anfall von Nasenbluten bekam. Martin beugte sich wieder rasch nach vorn. Blut tropfte ins Feld. ›Wenn das so weitergeht, bin ich bald ganz ausgelaufen‹, dachte er und lachte hysterisch.

    Luna neben ihm sah ihn unbehaglich an. Er würde doch wohl hoffentlich nicht auch noch den Verstand verlieren? Die Hündin hechelte. Auch ihr machte die Hitze zu schaffen, doch konnte sie sich aufgrund ihrer Konstitution besser mit der neuen Situation arrangieren.

    Martin richtete sich auf und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, merkte aber dass ihm das nicht gelingen würde. Er entschied sich daher dafür gar nicht erst darüber nachzugrübeln, sondern an seinem Plan festzuhalten – an der Straße ein Fahrzeug anzuhalten, damit der Fahrer die Polizei informieren konnte. Dann würde er schnellstmöglich zu seinen Eltern laufen, um mit ihnen die Sache in Ruhe durchzugehen. Es musste ihm gelingen, sie zu überzeugen. Martin hatte zwar ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis zu seinen Eltern, aber wie sollte er das Erlebte glaubhaft wiedergeben? Was nutzte Vertrauen, wenn man Dinge zu erklären hatte die schlichtweg unmöglich waren?

    Martin stand langsam auf und horchte in sich hinein. Die Übelkeit schien langsam nachzulassen. Trotzdem war er noch recht wackelig auf den Beinen.

    Er musste einen wenig gesellschaftsfähigen Eindruck abgeben. Das Gesicht verschmiert mit Blut und Erbrochenem, ein schweißfleckiges und ebenfalls verunreinigtes T-Shirt, verschmutzte Hose und dicke Winterstiefel. Ein Exemplar für das Kuriositätenkabinett. Martin musste wieder grinsen. Was war er doch für eine schicke Erscheinung.

    Plötzlich kam ihm in den Sinn, dass er seit der unheilvollen Begegnung mit Helmich kein Lebenszeichen von anderen menschlichen Wesen bemerkt hatte, sah man von dem Auto ab, das vor der zweiten Energiewelle in der Ferne vorbeigefahren war. Nun, das würde sich ändern. Früher oder später musste ein Fahrzeug auf der Verbindungsstraße vorbeikommen. Das war das Gesetz der Logik.

    Martin sah Luna an, die geduldig zu ihm aufblickte. »Na komm, dann wollen wir uns mal auf die Socken machen.«

    Mit viel Mühe machten sie sich auf den Weg. Martins Beine fühlten sich an wie aus Gummi. Ihm war schlecht und ein dumpfer, pochender Kopfschmerz hatte sich dazugesellt. Er konnte es kaum erwarten, endlich nachhause zu kommen und sich hinlegen zu können. Luna trottete mit gesenktem Kopf neben ihm her. Die Sonne warf unverändert ihre heißen Strahlen auf sie herab. Martin war schweißüberströmt. Alles war ruhig, abgesehen vom gelegentlichen Flüstern des Windes, dem Zirpen der Grillen und Lunas Hecheln.

    Die Straße lag noch etwa zweihundert Meter vor ihnen. Immer noch war kein Fahrzeug aufgetaucht. Martin dachte darüber nach, was er dem Fahrer sagen sollte, wenn ein Wagen anhielt. Er entschloss sich einfach zu erzählen, dass er den Förster tot im Wald gefunden hätte. Was sollte er sonst sagen? Die unglaublichen Elemente der Geschichte wollte er vorerst verschweigen, um peinliche Fragen zu verhindern. Die Polizei würde ihm ohnehin schon gehörig auf die Nerven gehen und Fragen stellen, die er nicht beantworten konnte. Nein, vorerst war es besser, nur das Nötigste zu berichten.

    Martin wollte nur noch ins Bett, wusste aber, dass das gar nicht so einfach werden würde. Auch seine Eltern würden ihm regelrecht Löcher in den Bauch fragen. Aber damit würde er schon umgehen können. Irgendwie. Doch sogar er selbst stellte sich im Geiste eine Frage nach der anderen. Martin versuchte diese Gedanken zu verdrängen, er musste nach Autos Ausschau halten. Unvermittelt sah er nach oben in den strahlend blauen Himmel. Was er erblickte, erleichterte ihn zutiefst. Hoch oben malte ein Flugzeug seinen weißen, geradlinigen Kondensstreifen auf das Firmament. Es flog zu hoch, als dass er hätte erkennen können, um welchen speziellen Typ es sich handelte. Doch unzweifelhaft war es eine große Passagiermaschine, die in nordöstlicher Richtung weiterflog.

    Eine tiefe, unbewusste Ahnung, eine Sorge, von der Martin noch gar nicht gewusst hatte dass sie in ihm schlummerte, war ausgeräumt. Die Welt war also nicht untergegangen, es gab noch andere Menschen. Insofern war alles gut. Er war jetzt sehr optimistisch bald auf jemanden zu treffen mit dem er von Angesicht zu Angesicht reden konnte.

    Die Straße war jetzt noch etwa hundert Meter entfernt. Kurz fragte er sich, was seine Mutter, eine sehr akkurate Frau, zu seinem verdreckten und verbluteten Aufzug sagen würde. Aber dann schalt er sich dass diese Frage in der aktuellen Situation wohl mehr als sekundär war. Es gab jetzt wahrhaft wichtigere Dinge zu klären. Martin blendete seine Gedanken aus und konzentrierte sich nur darauf, zur Straße zu kommen und nach sich nähernden Autos Ausschau zu halten. Doch obwohl er die Straße seit dem unerwarteten Sommereinbruch im Auge behalten hatte war noch immer kein Fahrzeug vorbeigekommen. Ebenso wenig wie Fußgänger oder Radfahrer. Stattdessen hatte er ein Flugzeug gesehen. Welch eine Ironie des Schicksals das doch war.

    Schließlich erreichten die beiden die Straße und ließen Wald und Feld endlich hinter sich. Martin blieb am Rande der Fahrbahn stehen und blickte nach links und rechts. Es war nichts zu erkennen. Nach Süden verlor sich die Straße nach etwa einem Kilometer in den Ausläufern des Waldes, Richtung Norden entschwand sie zwischen den Feldern am Horizont. Es war immer noch keine Bewegung zu sehen. Weder in der einen, noch in der anderen Richtung. Und die Hitze war wirklich enorm, Martins Kreislauf hatte sich nur langsam an die plötzliche klimatische Umstellung gewöhnen können.

    Auch wenn diese Strecke nie sonderlich gut befahren war, diese lange Phase des Ausbleibens jeglichen Verkehrs war doch sehr ungewöhnlich. Martin machte die Auswirkungen der Wellen für diesen Umstand verantwortlich.

    Es war nicht abzusehen wie lange es noch dauern mochte bis hier jemand vorbeikam. Minuten, Stunden, vielleicht sogar Tage. Es war unmöglich eine Prognose abzugeben. Martin konnte nicht mehr untätig herumstehen und abwarten, er musste sich zwingend jemandem mitteilen. Also suchte er ein letztes Mal die Straße ab, auf der jedoch niemand zu sehen war, und überquerte mit Luna die Fahrbahn. Er wollte sich schnurstracks auf den Weg nachhause machen und sich direkt seinen Eltern anvertrauen.

    Während Martin dem Asphalt in sein noch etwa zwei Kilometer entferntes Dorf folgte kam ihm zum ersten Mal der schreckliche Gedanke, dass seinen Eltern etwas passiert sein könnte. Es war durchaus denkbar, dass auch sie von den Wellen und deren Auswirkungen betroffen sein könnten. Was, wenn sie verletzt waren?

    Die Sorge um seine Mutter und seinen Vater ließ ihn seinen Schritt beschleunigen. Luna passte sich fügsam an. Martin schwitzte jetzt nicht mehr nur wegen der Hitze. Die Straße verlief nun an einem ausgreifenden Hügel empor, der sein Heimatdorf vor seinen Blicken verbarg.

    Ein grausames Bild schoss durch Martins Kopf. Das gesamte Dorf war zerstört, sämtliche Häuser hinweggefegt von den Wellen. Wo einst seine Heimat war, blühte nur verdorbenes Brachland. Martin schob den Gedanken hinweg wie eine lästige Fliege. Er sollte jetzt auf keinen Fall in Panik geraten, das half auch nicht weiter.

    Nach etwa einer Viertelstunde hatten sie den höchsten Punkt des Hügels erreicht. Unter ihnen lag das Dorf. Martin war erleichtert. Mehr als er sich einzugestehen bereit war. Dem ersten Anschein nach war nämlich nichts passiert. Gründlich ließ Martin seinen Blick über die Ansammlung der Häuser wandern. Offenbar lagen keine Zerstörungen oder größeren Schäden vor. Das war doch schon mal etwas. Insgeheim hatte Martin mit einem deutlich schlimmeren Anblick gerechnet, also atmete er tief ein und stieg den Hügel hinab. Luna folgte ihm bereitwillig.

    Nach einer Weile erreichten sie das Dorf und passierten das Ortsschild, welches den Ort als Ebersbach, Kreis Konstanz auswies.

    Martin wohnte hier mit seinen Eltern von Geburt an. Ebersbach war ein verschlafenes Nest im Nirgendwo, zählte gerade mal zweitausend Einwohner und war hauptsächlich landwirtschaftlich geprägt. Viel los war hier nicht, was Martin insgeheim ärgerte. Für größere Einkäufe oder Freizeitgestaltungen musste man immer eine Auto- oder Busfahrt in größere Städte in Kauf nehmen. Andererseits bestach sein Heimatdorf durch unübertreffliche Idylle und Ruhe, was Martin auch sehr zu schätzen

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