Die Drachenkinder von Nicaragua
Von Annika Holm
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Buchvorschau
Die Drachenkinder von Nicaragua - Annika Holm
Zimt!"
Gelächter schallte von den Wänden des fensterlosen Zimmers, der Schatten an der Decke wurde immer größer. Er schien sie bald zu verschlingen. Isabel wickelte sich fest in das Laken ein und kauerte sich zusammen. Endlich verschwand der Schatten, und das Gelächter erstarb.
Es war Morgen. Sie blieb noch solange liegen, bis sie sicher war, daß sie nicht mehr träumte. Dann kroch sie aus dem Bett, steckte ihre Füße in die Plastiksandalen und tastete sich in die Richtung, aus der sie den Hahn krähen hörte. Es war dunkel und still, und nur der Hahn zeigte an, daß es Morgen war. Sie öffnete die Tür und trat ins Licht. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes, in dessen Mitte ein großer Bananenbaum wuchs, stand Tante Maria in der Küche und kochte Reis.
„Hast du gut geschlafen?" rief sie.
„Aber sicher", log Isabel wie immer.
Sie konnte nicht von ihren Alpträumen erzählen, selbst wenn sie gewollt hätte. Die Traumbilder, die sie im Bett hin und her wälzen oder vor Schreck weinen ließen, waren nur dann zu sehen, wenn sie schlief und in den kurzen Augenblicken, wenn sie nachts aufwachte. Dann aber war niemand da, dem sie davon erzählen konnte. Am anderen Morgen war der Traum in ihrer Erinnerung verblaßt. Die Bilder lösten sich auf, keine Formen und Gestalten waren mit ihnen zu verbinden. Nur eine dumpfe Ahnung blieb zurück, doch darüber konnte sie nicht sprechen.
Tante Maria stellte vier Teller auf den Tisch neben dem Herd.
„Gib mir bitte den Jungen", bat sie Isabel und horchte in den Hof hinaus. Von der Hängematte kam lautes Geschrei. Camilo war schweißnaß und schlug heftig um sich. Als er Isabels Gesicht über sich gebeugt sah, hörte er sofort auf, zu schreien und herumzufuchteln. Isabel lächelte ihn an und setzte ihn auf ihre linke Hüfte.
„Wir haben beide eine Dusche nötig", sagte sie und trat hinter den Vorhang neben der Hängematte. Sie zog Camilo die Stoffwindeln aus und drehte das Wasser an. Da fiel ihr ein, daß sie ihr Nachthemd noch anhatte und wich schnell vor dem Wasserstrahl zurück. Sie setzte Camilo auf den Boden, wand sich mit viel Mühe aus ihrem viel zu engen Hemd, hob den Jungen wieder auf und stellte sich unter den Strahl.
Das kühle Wasser rieselte über ihren Körper und wusch Schweiß und Angst weg. Sie schloß die Augen und wandte ihr Gesicht direkt in den Wasserstrahl. Dann seifte sie sich und Camilo ein, der dabei vor Vergnügen schrie und kicherte. Seit drei Jahren wohnte Isabel bei ihrer Tante und ihrem Onkel, aber sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, die Dusche als etwas Selbstverständliches zu betrachten. Sie blieb ein Wunder. Die Rohre an der Decke des kleinen Schuppens, der Hahn an der Wand, das Wasser, das fließt, ja strömt! Keine Eimer, keine Kannen zu schleppen, keine Wannen, die umkippen, wenn man über sie stolpert! Und sogar ein Loch im Boden, in dem das Wasser abfließen kann. Wenn Mutter gewußt hätte, daß es so etwas gibt!
Sie drehte das Wasser ab und streckte den patschnassen Camilo aus der Dusche heraus.
„Hier ist er!" rief sie. Tante Maria nahm ihren Sohn entgegen und hüllte ihn in ein Handtuch. Isabel schüttelte das Wasser aus ihrem Haar und schlich zur Wäscheleine, um ihre Schulkleider herunterzuholen. Eine weiße Bluse und ein blauer Rock, den sie einmal aus ein paar alten Jeans genäht hatte, die Tante Maria nicht mehr flicken konnte. Die Stoffreste, die nicht allzu verschlissen waren, reichten gerade für einen Rock, der anfangs bis zu ihren Knien reichte. Nun, da sie ein Stück gewachsen war, hörte der Rocksaum zehn Zentimeter über den Knien auf, aber Isabel gefiel er so besser, weil er ihr mehr Bewegungsfreiheit gab. Sie knöpfte den Rock zu und versuchte, die Bluse hineinzustopfen, aber es gelang ihr nicht. Seufzend setzte sie sich auf einen Stuhl und langte nach einem Teller Reis.
„Ich muß ein Stück an die Bluse ansetzen. Ich kann sie nicht mehr hineinstopfen. Schau her!"
Tante Maria überlegte.
„Am besten heben wir sie für Camilo auf und versuchen, für dich eine andere zu finden. Vielleicht kann ich etwas auftreiben."
Sie sah erstaunt zu Isabel, die schon aufgestanden war, und am Spülbecken stand, um ihren Teller abzuwaschen.
„Du hast es aber heute eilig! Ist etwas Besonderes los?"
Isabel hatte den Mund voll Reis und konnte nicht antworten. Während sie noch die letzten Reiskörner hinunterschluckte, dachte sie nach. War heute etwas Besonderes los? Eigentlich nicht. Und trotzdem war es ihr so. Sie wollte schnell zur Schule.
„Es ist erst kurz nach sechs. Du hast fast eine ganze Stunde Zeit."
„Ich weiß", sagte Isabel und umarmte ihre Tante.
„Es ist ganz einfach so, daß ich Lust habe, schon jetzt in die Schule zu gehen."
Draußen war es noch kühl. Die Morgensonne schickte ihre Strahlen durch das spröde Blattwerk der Tamarindenbäume und beleuchtete einige Hibiskusglocken, die noch nicht von der Dürre betroffen waren. Isabel hüpfte unter den Bäumen entlang in die Stadt. Sie grüßte Kinder, die an einer Tortilla knabberten oder eine Orange lutschten, Mütter, die ihren Teil des Gehwegs kehrten, sie grüßte Väter, die durch die Tür kamen und auf dem Weg zur täglichen Arbeit über ihre Kinder hinwegstiegen.
Als sie an der Brücke vorbeikam, verlangsamte sie ihre Schritte und blickte in die Straße, die nach rechts führte. Sollte sie eine Runde um die Kirche drehen und an Davids Haus vorbeigehen? Sie blieb eine Weile stehen und überlegte. Sicher war David schon losgegangen.
Auf dem Marktplatz herrschte noch Ruhe. Einige Verkäufer waren dabei, ihre Obstkörbe aufzustellen, einige Lastautos parkten am Eingang der Fleischhalle, Menschen trugen Schüsseln, schwer beladen mit Fleisch und Brot. In einer halben Stunde würden Tante Maria und Davids Mutter auch mit ihren Waren hier sein. Nach der Schule würde sie selbst hier stehen und verkaufen.
„Hallo!"
Eine Orange kam durch die Luft geflogen und landete vor ihren Füßen. Sie hob sie auf und lachten dem Jungen auf der Ladefläche des Lastautos zu.
Er lachte auch und rief: „Was macht das Kabarett? Wollt ihr heute abend üben?"
Isabel trat näher und nahm sich noch zwei Orangen aus dem goldroten Riesengebirge auf der Ladefläche. „Für David und Victor! erklärte sie und fuhr fort: „Wir üben heute abend im Jugendtreff. Orlando hat versprochen zuzuschauen.
„Seht zu, daß ihr nicht zu spät kommt, sagte er, „denn er will auch bei unserem Stück heute dabeisein. Wir spielen bei der Versammlung außerhalb der Stadt.
„Wir kommen, sobald wir mit der Arbeit fertig sind. Vielen Dank für die Orangen. Adios!"
Sie winkte und ging weiter, in Richtung Schule. Sie hüpfte leicht, während sie lief. Sie war gutgelaunt. Es würde ein schöner Tag werden, das spürte sie genau.
„Victor, Victor!"
Großmutter rüttelte Victor, aber er wachte nicht auf. Sie rüttelte noch einmal und rief seinen Namen. Nein, Victor schlief weiter.
Großmutter setzte sich auf die niedrige Pritsche, streckte ihre Hände nach Victor aus und zog ihn hoch, bis er aufrecht saß. Langsam wiegte sie ihn ein paarmal hin und her. Dann stand sie rasch auf. Victor blinzelte und blieb sitzen. Er war jetzt wach.
„Ich habe deine Sachen gebügelt, aber zuerst mußt du Eier suchen gehen. Ich vermute, daß einige im Stroh hinter dem Haus liegen. Oder im Gebüsch unter dem Orangenbaum."
Victor stand auf, auf einmal hellwach. Wie spät konnte es sein? O weh, warum war er bloß so ein Siebenschläfer?
Er stürzte in den Hof hinaus und fing an, die Eier zu suchen. Wunderbar, es lagen tatsächlich zwei im Stroh hinter dem kleinen Häuschen. Aber unter dem Orangenbaum waren keine. Die Hühner gackerten spöttisch um seine Füße herum und gaben ihm nicht den kleinsten Wink, als er herumwirbelte und suchte. Doch, da lag eines, neben der Pumpe. Ein seltsamer Platz, um Eier zu legen. Die Eier der Großmutter bringen, wieder zurück zur Pumpe, Wasser ins Gesicht und über den Oberkörper, wieder ins Haus, anziehen, los!
Nein, doch nicht! Er hatte Großmutter und das Frühstück vergessen.
Victors Großmutter war eine ungewöhnliche Frau. Sie hatte eine andere Meinung über das Essen als die meisten Mütter, die Victor kannte. Es gab nicht mehr zu essen bei der Großmutter als woanders, manchmal sogar weinger. Aber sie bestand auf dem Frühstück. Victor sollte ein ordentliches Frühstück zu sich nehmen, das aus mehreren Gerichten bestand: aus Eiern, gepreßten Orangen. Großmutter sprach von Vitaminen und Proteinen, Dinge, die niemand, den Victor kannte, jemals erwähnte.
„Wir sind zwar arm, pflegte Großmutter zu sagen, „aber aus purer Unvernunft brauchen wir deshalb nicht zu verhungern. Besonders du nicht!
Sie nahm sich viel Zeit, um die wenigen Dinge, die sie besaßen, zu pflegen: Sie lockerte die Erde rings um die Orangenbäume auf und legte den Mist der Hühner und Schweine in regelmäßigen Abständen dorthin. Sie goß fleißig die Maispflanzen und versuchte, die Hühner zu kurieren, wenn sie krank wurden; sie kratzte sogar das Schweinchen am Kinn, damit es fröhlich war, solange es lebte.
„Heute habe ich aber keine Zeit für das Frühstück", widersprach Victor, als Großmutter ihn hereinrief.
„Hilf mir lieber, die Orangen zu pressen", antwortete Großmutter ruhig und goß Eierteig in die Pfanne.
„Du läufst viel schneller zur Schule, wenn du was im Magen hast, das weißt du."
„Dann darfst du nicht vergessen, daß du versprochen hast, Großvater bei der Reparatur der Nähmaschine heute nachmittag zu helfen. Vielleicht ist es ihm bis dahin gelungen, das fehlende Dingsda aufzustöbern."
Victor liebte seine Großmutter, was auch immer geschah. Nicht einmal jetzt, da er nichts anderes wollte, als losrennen, konnte er sich über sie ärgern.
Seit Vaters Tod klammerte er sich an sie und an Großvater. Seine Mutter hatte sich den Guerillas angeschlossen, als Victor noch klein war. Es war so lange her, daß er sich nicht mehr an sie erinnern konnte. Man sagte, sie sei im Kampf gefallen, aber dafür gab es keine eindeutigen Beweise. Was wäre, wenn sie eines schönen Tages vor der