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Der stärkere Ruf
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eBook216 Seiten3 Stunden

Der stärkere Ruf

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Über dieses E-Book

Die junge Ange ist Lehrerin an einer Schule. Und der einzige Grund dafür, dass sie sich gerade für diese Schule entschieden hatte war, dass Nikolai dort gewesen war. Sie hatte ihn über alles geliebt. Und dann hatte er an eine andere Schule gewechselt und sie zurück gelassen. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie zumindest so tun konnte, dass sie Nikolai vergessen hatte. Und jetzt muss sie lernen in ihrer Situation nicht nur zurecht zu kommen sondern auch glücklich zu werden. Und dafür muss sie die Kämpferin in sich entdecken.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum13. Mai 2019
ISBN9788711508886
Der stärkere Ruf

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    Buchvorschau

    Der stärkere Ruf - Lise Gast

    Hartmann

    I

    Ange stand am Fenster des Lehrerzimmers und sah hinaus. Es regnete. Die Autospuren im Hof glänzten, sie sahen hämisch und häßlich aus. Ange fror und konnte sich nicht entschließen, an die Arbeit zu gehen.

    Vielleicht gibt es in jedem Leben solche Tage, dachte sie, graue, mißmutige, widerwärtige Tage. Ich bin keine Ausnahme. Es geht allen so. Nur — es war einmal anders, und es wird nie wieder so sein wie es war.

    Immer mußte sie so stark an Nikolai denken, wenn sie allein in diesem Zimmer war. Sobald die andern dabei waren, Hense mit seiner stillen, scheuen Freundlichkeit oder Isa Brandt, mit der sie allmählich eine Art Freundschaft verband, konnte sie ihn vergessen, wirklich, es gelang ihr. Sie spielte vor den andern die Rolle, ihn vergessen zu haben, und glaubte dann selbst daran. Es ging ganz leicht. Nun, und vor dem Chef erst recht.

    Der Chef hatte sicher nichts gemerkt damals, sie waren vorsichtig gewesen. Und nie, nie hätte sie ihm den Triumph gegönnt, den er empfunden hätte bei der Entdeckung, daß sie Nikolai geliebt hatte, daß sie sich seinetwegen hierher gemeldet hatte an diese Schule, die einer Strafversetzung gleichkam — freiwillig. Nun, da Nikolai fort war, war es wirklich eine Strafversetzung.

    Drei Jahre noch, drei Jahre ihres Lebens. Ob sie dann so sein würde wie Isa Brandt, alt, abgenützt, hoffnungslos? Manchmal stellte sie sich vor, daß Nikolai wiederkommen würde, was natürlich Unsinn war. Nikolai war über das Sprungbrett dieser Schule als Direktor in den Sudetengau gekommen, in eine Stellung, die seiner strahlenden Erscheinung durchaus angemessen war. Niemand hatte wohl etwas anderes erwartet, er selber am wenigsten. Daß sie, Ange, hier festsaß, war ihr höchstpersönliches Pech, weiter nichts.

    Drei Jahre noch, dann war sie fünfundzwanzig. Es erschien ihr uralt. Sie vermochte sich einfach nicht vorzustellen, daß man auch mit fünfundzwanzig Jahren noch radeln, schwimmen, schilaufen könnte, daß man imstande sei, dann noch einmal neu anzufangen. In einer anderen Umgebung, einer anderen Stellung. Wie ein Todesurteil klang ihr das: drei Jahre.

    Nein, sie mußte sich doch wohl entschließen, keiner nahm ihr die Arbeit ab. Der Chef war grade fortgefahren, und sobald nicht wieder zu erwarten, aber es war gleichsam, als könnte sie keine Erleichterung mehr empfinden. Alles war so fürchterlich unabsehbar, so aussichtslos, eine dicke graue Wand, wohin man auch blickte. Ange stand regungslos und starrte auf einen Fehler im Glas, der alles, was dahinterlag, verzerrte und veränderte. Erst als sie Schritte hörte, wandte sie sich mühsam um.

    „ Ist er fort? Gratuliere," sagte sie mechanisch.

    Isa Brandt trug einen Stapel loser Blätter auf der linken Hand, unter dem Arm Lineale und in der rechten Tinte und Füller. Sie setzte sich, ohne all dies abzulegen, seitlich auf ihren Stuhl, ihr Gesicht war erhitzt und abgespannt.

    „ Danke. Dafür bin ich aber auch erledigt. Nach diesem Vormittag — lieber geb ich zehn Unterrichtsstunden." Sie war zum Diktieren beim Chef gewesen. Ange kannte das.

    „ Soll ich dir helfen? Meine Kasse wird heute sowieso nicht fertig. Und es tippt sich schlecht vom Stenogramm ab."

    „ Ach ja, danke." Isa suchte zwischen ihren Zetteln. Ange rückte sich die Schreibmaschine heran. spannte Bogen und Blaupapier ein und wartete. Zwischen den Sätzen, die Isa mühsam aus dem hastig zusammengehauenen Stenogramm mehr herausriet als las, saß Ange und starrte auf die Tasten. Jetzt dachte sie nicht mehr an Nikolai, und das war fast, noch schlimmer. Solange sie an ihn dachte, war wenigstens Auflehnung, Groll und Schmerz in ihr, doch immerhin eine Art von Leben, ein fühlbares Lebendigsein —

    „ Ich bring es nicht zusammen. Ausgeschlossen. Er quatschte dauernd andere Sachen dazwischen. sagte Isa verzweifelt, „mein Kopf ist vollkommen leer, ausgeleert. Und dies Luft hier —

    „ Ich werd Kaffee kochen. Ist noch welcher da?"

    Während Ange in der großen, leeren Lehrküche stand und darauf wartete, daß das Wasser kochte, hörte sie ein Auto in den Hof einbiegen. Zu Tode erschrocken fuhr sie herum — aber es war nicht der Chef. Sie kannte seine Art zu bremsen. Vorsichtig spähte sie hinaus.

    Ein Herr in kurzem Fahrpelz kam über den Hof gegangen, er trug Reitstiefel und lederbesetzte Breeches. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen, wahrscheinlich Besuch für den Chef. Sie ging den Kellergang entlang und öffnete die Hintertür.

    „ Verzeihung, Dr. Dittmar ist wohl nicht da?"

    „ Nein. Er fuhr vor einer halben Stunde fort, nach Ruppertsgrün, soviel ich weiß. Kann ich etwas ausrichten?"

    Das bartlose, braune Männergesicht erinnerte sie an jemanden, sie kam nicht darauf, an wen. Es war ein ziemlich breites, aber ganz und gar nicht dickes Gesicht, mit Falten rechts und links vom Mund. Sympathisch sah er aus, vertrauenerweckend und beherrscht. Sie kramte in ihrer Erinnerung.

    „ Bergemann. Er verbeugte sich, etwas knapp, so, wie Offiziere das zu tun pflegen. „Nein, auszurichten ist das wohl kaum. Wissen Sie zufällig, wann Dr. Dittmar wiederkommt?

    „ Das ist ganz unbestimmt. Aber wenn Sie warten wollen? Ange hatte alle ihre Gleichgültigkeit verloren. Wem sah der Mann nur ähnlich? „Vielleicht kommen Sie einen Augenblick herein? Meine Kollegin ist im Lehrerzimmer, ja, die erste Tür links. Sie weiß sicher, wie lange der Chef gerechnet hat.

    Sie öffnete die Tür, Bergemann trat zurück, um sie zuerst eintreten zu lassen. Diese winzige Höflichkeit, die der Chef nie innehielt, tat ihr unverhältnismäßig wohl, sie sagte lebhaft:

    „ Isa, weißt du, wann der Chef wieder da ist?"

    „ Ach, Herr Bergemann. Isa Brandt war aufgestanden. „Nein, leider, es ist ganz unbestimmt. Wollen Sie sich nicht setzen?

    Sie sprachen eine Weile hin und her. Bergemann fragte, ob er rauchen dürfte, und bot den beiden Damen Zigaretten an. Isa dankte, Ange erinnerte sich plötzlich an ihren Kessel auf dem Gas.

    „ Mein Kaffeewasser — Entschuldigung! Das kocht sich tot —" sie lief zur Tür, stopte und fragte:

    „ Trinken Sie eine Tasse mit uns? Schwarz? Ohne Milch und Zucker?"

    „ Wir haben noch eine Büchse Kondensierte in der Vorratskammer, bring sie doch mit, rief Isa ihr nach, „gleich rechts, im untersten Fach. Wenn —

    Ange verstand nichts mehr. Sie sprang schon die Kellertreppe hinab. Dieser Bergemann gefiel ihr. Sie wußte jetzt, wer er war, hatte schon Briefe an ihn diktiert bekommen und Berechnungen über die Milcherträge seines Gutes aufgestellt. Da der Chef ihn stets lobte, hatte sie ein Vorurteil gegen ihn gehabt, wie gegen alle Menschen, die der Chef nett fand. Sie lachte — das war also doch übertrieben.

    Der Kaffee roch wunderbar. Sie stellte drei Tassen und die Büchsenmilch auf ein Brett, suchte nach brauchbaren Löffeln und nahm dann, was sie sonst nie taten, ein Kompottschälchen voll Zucker aus dem Schulvorrat mit. Sie selbst und Isa tranken stets bitter, aber vielleicht nahm Bergemann Zucker.

    Als sie die Tür zum Lehrerzimmer öffnete, vorsichtig mit einer Hand, während sie mit der andern das Brett balancierte, war sie verblüfft, drei statt zwei Personen vorzufinden.

    „ Meine Tochter Ragna, stellte Bergemann vor, „Fräulein Hauser, nicht war. so war doch der Name? Doktor Dittmar sprach neulich von Ihnen —

    „ So? Wohl nichts so sehr Rühmliches, lachte Ange und stellte die Tassen auf dem Schreibtisch zurecht. „Im Eßsaal ist es nämlich kalt. Wir haben die Heizung dort abgestellt, wenn wir ihn nicht benutzen.

    „ Aber es ist doch furchtbar gemütlich hier —"

    Bergemann war aufgestanden und sah lächelnd auf ihre Hände. Ange merkte es und wurde rot.

    „ Ich hole noch eine Tasse —"

    Als sie alle saßen und tranken, sah Ange verstohlen auf das junge Mädchen, das ihr gegenübersaß. Vierzehn Jahre mochte sie sein, diese Ragna Bergemann, und sie war unleugbar hübsch. Ein fester, nußbrauner Kopf, glattes, spiegelnd gebürstetes Haar, so, wie man es eigentlich nicht mehr trug. Aber es stand ihr gut. Ange, die ihr Haar gerade wachsen ließ, — es sollte halblang geschnitten nach hinten fallen, was es noch nicht richtig tat, — erwog im stillen, ob sie es nicht wieder ganz kurz schneiden lassen sollte, so, wie dieses Mädel es trug. Freilich, solch glattes Haar stand einem nur, wenn man noch ganz jung war, ganz jung und mit makelloser Haut gesegnet —

    Bergemann lobte den Kaffee nach Kräften. Und er fand das Lehrerzimmer so gemütlich, überhaupt sagte er viel Rühmendes über die Schule. Ange sah flüchtig, wie Ragna den Mund trotzig aufwarf und harte Augen bekam, es fiel ihr aber erst später wieder ein, als sie mit Isa darüber sprach. Jetzt, während sie plauderten, fühlte sie nur eine freundliche Wärme, daß jemand ihr Leben und ihre Umgebung schön fand. Sie gehörte zu den Menschen, denen nichts schrecklicher ist, als sich bedauern zu lassen.

    Bergemann blieb lange. Er ließ sich, als sie mit dem Kaffee fertig waren, von den beiden Lehrerinnen durch die ganze Schule führen, fragte und lobte. Ange sah verstohlen auf die Uhr, als er dann endlich im Auto saß und immer noch nicht losfuhr. Wenn jetzt der Chef noch dazu kam, endete die ganze nette Abwechslung mit einem fürchterlichen Krach. Gottlob, jetzt schnurrte der Anlasser.

    „ Ich hoffe, ich sehe Sie auch einmal bei mir," rief Bergemann noch. Ange und Isa winkten und nickten, dann kehrten sie aufatmend um und hasteten ins Haus. Rasch setzten sie die Tassen zusammen, stellten sie in den Aufzug und öffneten Tür und Fenster, um den Zigarettenrauch hinauszulassen.

    „ Gottseidank, das hätte uns grade noch gefehlt, seufzte Isa, „so, nun mag er kommen. Ein hübsches Mädel, die Ragna, nicht? Der Junge ist auch ein Bild, sag ich dir.

    „ Ja? Hat er noch mehr Kinder?"

    „ Nein, nur Ragna und den Jungen, Conrad heißt er, wie Bergemann selbst. Er ist elf oder zwölf Jahre alt, entzückend, ganz die Mutter. Die soll ja bildschön gewesen sein, erzählt man. Sie hat so schrecklich gelitten ..."

    Und Isa erzählte, wie Bergemanns Frau jahrelang gelegen hatte, ein Wrack von einem Menschen, seit der Geburt des Jungen.

    „ Früher soll sie prima gewesen sein, hat Tourniere geritten, den Viererzug gefahren — da muß das doch doppelt schrecklich sein ..."

    „ Jaja." Ange hatte die Wange in eine Hand gestützt und sah vor sich hin. Schrecklich, Isa hatte recht. Dagegen hatte man es golden —

    „ Ragna soll landwirtschaftliche Lehrerin werden, ihr Vater möchte das schon lange, erzählte Isa weiter, „ich glaube aber nicht, daß sie will. Na ja, er sieht das ja alles auch in einem anderen Licht!

    „ Vielleicht. Jedenfalls fand er es wunderbar hier."

    „ Ach ja. Wahrscheinlich auch den Chef." Isa versuchte aufs Neue, ihr Stenogramm zu enträtseln. Ange war in Gedanken und tippte rein mechanisch die Sätze, die sie hörte. Sie arbeiteten bis um neun und gingen dann, ohne den Chef zu Gesicht bekommen zu haben, müde und einsilbig heim. Ihr Zimmer war kalt, sie wohnten der Billigkeit halber zusammen. Nicht einmal Post war da, Ange ließ sich seufzend auf die Couch fallen. Sie mochte nichts mehr essen.

    In der Nacht wachte sie auf, mit einem Ruck — plötzlich wußte sie, an wen Bergemann sie erinnerte. An Christoph, natürlich. Es war direkt lächerlich, daß sie nicht gleich darauf gekommen war. Jetzt erschien es ihr als die einfachste Sache der Welt, diese Ähnlichkeit festzustellen. Christoph war ganz der gleiche Typ wie Bergemann, nur eben entsprechend jünger. In fünfzehn Jahren sah er ihm sicher noch ähnlicher.

    Christoph, ihr Vetter. Er stand mit einem Mal so lebendig vor ihr, als habe sie gestern abend noch mit ihm gesprochen. Wie mochte es ihm gehen, wo mochte er stecken, ach, sie mußte ihm wieder einmal schreiben. Liebe, die wir nicht erwidern — das ist ein Schuldkonto, das bedrückt. Aber wie sollte man es ändern? Christoph würde sie wohl sein ganzes Leben lang lieben.

    Ach ja, es war schrecklich für ihn, daß sie es nun einmal nicht zu erwidern vermochte. Oft hatte sie gewünscht, das zu können, ja, damals im Seminar war das der heißeste Wunsch ihres Herzens gewesen. Aber man kann sich das nicht geben, es ist da oder es ist nicht da. Bei ihr war es nicht da. Manchmal glaubte sie, es läge an ihr, es wäre ein Mangel, ein Fehler, irgendeine Abnormität, — sie wäre eben unfähig, zu lieben. Bis Nikolai kam. Da merkte sie sehr deutlich, was Liebe ist — es stürzte über sie herein mit elementarer Wucht, o nein, die Fähigkeit zu lieben besaß sie wohl. Wenn auch jetzt alle Erinnerungen an diese kurze Zeit vergiftet von Bitterkeit und Schmerz waren.

    Sie hatte es doch einmal gehabt. „Man besaß es doch einmal, was so köstlich ist, daß man doch zu seiner Qual ..." und so weiter. Jetzt konnte sie Christoph verstehen. Er würde auch nie vergessen, so wie sie es nicht konnte, er würde immer an jene Zeit denken, da sie mit ihm durch den Sommer ging, stets etwas abseits von ihm, schuldbewußt, daß sie ihm nicht geben konnte, was er so heiß wünschte, aber doch neben ihm, bei ihm, an seiner Seite. Und er liebte sie so sehr, daß ihm das fürs ganze Leben genügt hätte — jedenfalls sagte er damals so. Vielleicht war, bewußt oder unbewußt, stets die Hoffnung in ihm, daß der Feuerbrand in ihm auch ihre Seele entzünden könnte ...

    Sie mußte ihm wieder einmal schreiben. Wenn er auch nicht ihr Liebster hatte werden können, so blieb er doch der beste, der treueste Kamerad ihrer Kindheit und Jugend. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß er jetzt anders zu ihr stand, daß er ein anderes Mädel liebgewinnen und sie darüber vergessen könnte. Nein, das war unausdenkbar. Sie war Christophs Schicksal, so oder so. —Und daß sie damals, als sie Nikolai kennen lernte, ihn abgewiesen hatte, das war bestimmt nicht richtig gewesen. Denn ihr Kamerad war er auch heute noch, jetzt, nachdem sie über ein Jahr nichts von ihm gehört hatte. Auch wenn sie einmal heiratete, brauchte sie Christoph nicht ganz wegzustoßen. Die Verbundenheit zwischen ihm und ihr blieb, durfte bleiben, sie lag ja auf ganz anderer Ebene als das, was man Liebe nennt.

    Ange merkte nicht, daß sie wieder eingeschlafen war. Sie sah Christoph vor sich stehen in der verwaschenen Windbluse, wie sie ihn unendlich oft gesehen hatte, neben seinem Rad. Er lächelte, sein sparsames, gutes Lächeln. Dann war es plötzlich Bergemann. Ange wunderte sich darüber und sagte trotzdem: „Das ist doch eigentlich gleich — ganz gleich — beinahe —"

    „ Was denn? fragte Isa. „Was ist gleich?

    Sie stand vorm Spiegel und bürstete sich die Haare. Ange war noch ganz benommen.

    „ Ich hab geträumt, glaube ich," sagte sie verwirrt.

    „ Ja, das glaub ich auch. Mach rasch, es ist gleich sieben," mahnte Isa. Ange seufzte und versuchte, noch einmal zurückzutauchen in den Traum. Vergeblich, er war schon fern und verschwommen.

    Die Turnhalle war voller Staub, man bekam einen ganz trockenen Hals davon, und das Klavier war erbärmlich verstimmt. Ange hieb darauf ein, während ihr das Genick schon steif war von dem ewigen Umdrehen, dem dauernden Hinüberspähen zu den Mädels, die ihren Reigen übten — sicher zum fünfundsiebzigsten Mal dieselbe Stelle. Und wieder klappte sie nicht! Es war zum Verzweifeln — konnten sie es denn nicht begreifen, daß bei diesem Takt die Bälle fliegen mußten und nicht erst beim nächsten ...

    „ Halt, nochmal! Änne, du mußt besser aufpassen, in euerm Kreis ist immer ein heilloses Durcheinander, — Elsa, kannst du denn den Ball nicht fangen? Nein, bleib in der Reihe, Marthe wirft ihn dir hinüber — ja, so. Also nun aufgepaßt — eins — zwei —"

    Die Tür ging. Ange wandte sich nicht um, wenn es der Chef war, kam er ja wieder mal im richtigen Moment. Aber sie konnte nichts dafür, er hatte ja schließlich die Idee gehabt, einen Reigen mit roten und blauen Bällen einzuüben — Blaubeeren und Preißelbeeren sollten sie darstellen, und die Mädels würden in Dirndelkleidern auftreten, mit Kopftüchern und Beerenkörbchen. Isa und sie waren sich darüber einig, daß das ein alberner und gottverlassener Kitsch sei, aber er fand es nun einmal heimatverbunden und volkstümlich. Sogar die Musik hatte er dazu herausgesucht, solch klebrigen Walzer — es konnte einem schlecht werden, wenn man ihn nur hörte. Den mußte sie nun spielen, immer wieder, immer wieder —

    „ Ange, einen Augenblick!"

    „ Ach, du, Isa. Gott sei Dank. Was ist denn?"

    „ Ich wollte nur mal sehen, wie weit ihr seid — na, es geht ja einigermaßen. Und du sollst nachher gleich mit dem Chef fahren, er ist nur noch essen gegangen —"

    „ Ach— sagte Ange schwach und ließ die Hände auf den Tasten liegen, wo sie lagen, „und ich dachte die ganze Zeit: Wenn doch wer käme und mich mitnähme — wahrscheinlich malt man mit solchen Gedanken den Teufel an die Wand!

    „ Scheint so. Du bist wohl ziemlich durchgedreht?"

    Nicht mehr als sonst. Aber nun eine Landpartie mit ,Ihmʼ, danke verbindlichst —"

    „ Es hilft nichts, weißt du, mach Schluß hier, wir machen uns noch rasch ein paar Brote. Du hast ja wiedermal nicht naß, nicht trocken im Leibe seit früh —"

    „ Und du, mein Herzchen? fragte Ange resigniert. „Ich schätze, nicht ein Gramm mehr. Das ist unser Los auf Erden.

    Sie klappte im Sitzen den Klavierdeckel zu und drehte den Schlüssel herum. Einen Augenblick blieb sie noch sitzen, die Schultern ein wenig nach

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