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ILYRIA: Schatten der Rache
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eBook664 Seiten9 Stunden

ILYRIA: Schatten der Rache

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Über dieses E-Book

Um den Frieden zwischen den Königreichen zu wahren, müssen selbst Außenseiter zu Helden werden. Denn auf der Flucht vor einem Krieg, inmitten von Intrigen, Mord und Verrat, ist es egal, ob man eine Königin oder ein Dieb ist. Wichtig ist bloß, am Leben zu bleiben.
(ILYRIA Band 1)
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum24. Okt. 2020
ISBN9783740797089
ILYRIA: Schatten der Rache
Autor

Leonie Adam

Die junge Autorin veröffentlichte 2020 mit "ILYRIA Schatten der Rache" ihr erstes Buch als Auftakt einer Trilogie. Schon als Kind träumte sie von einer Zukunft als Schriftstellerin und plant, sich in verschiedenen Genres auszuprobieren. Derzeit arbeitet sie am großen Finale der Ilyria-Reihe und bereitet weiter Romanprojekte vor.

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    Buchvorschau

    ILYRIA - Leonie Adam

    Irrtum.

    TEIL 1

    DIE FLUCHT

    Die Strahlen der untergehenden Sonne glitzerten auf der Oberfläche des Grenzflusses. Junge Eichhörnchen spielten im Laub und irgendwo hämmerte ein Specht. Die Blätter der Bäume raschelten in der kühlen Brise, die gerade aufgekommen war. Der Abend war schön – sofern ein Abend eben schön sein konnte, wenn einem der Magen knurrte und man seit Tagen kein Bett gesehen hatte.

    Umsichtig setzte Fin einen Fuß vor den anderen. Seit richtiger Name war Finley Tolsson, doch genau genommen hatte er ihn seit Jahren nicht mehr benutzt. Er gehörte der Vergangenheit an. Einem Leben, das Fin nicht mehr führte. Die Gegenwart bedeutete Freiheit und die war alles, was er wollte.

    Seit einigen Monaten spazierte er nun schon den Grenzfluss auf der Feuerseite Ilyrias entlang. Kam hier und dort unter, erfand diese und jene Geschichte. Lächelte freundlich, während er stahl, was er zum Leben brauchte. Seit ein paar Tagen jedoch war er keiner Menschenseele begegnet. Zuletzt hatte er bei einem unfreundlichen Einsiedler mit einer vergammelten Pritsche hinter dem Ofen Unterschlupf gefunden. Fin wünschte beinahe, er wäre noch etwas länger dortgeblieben. Schlafen konnte er genau genommen überall. Aber seit einem kränklich aussehenden Vogel, den er am vorigen Abend über einem kleinen Feuer gebraten hatte, hatte er nichts mehr zwischen die Zähne bekommen und die gähnende Leere in seinem Magen schmerzte. Sicher – er war Hunger gewohnt. So war das nun einmal. Und er hatte dieses Leben ja mehr oder weniger selbst gewählt. Dieses Leben als Streuner. Als Dieb. Es fühlte sich gut an, in niemandes Dienst zu stehen und dem Leben von Augenblick zu Augenblick zu folgen. Was taten all die hohen Lords und feinen Ladys den ganzen Tag lang? Sie gaben alles, damit der nächste Tag wieder so war, wie der letzte. Was sahen sie schon außerhalb der Burgmauern? Nichts. Die Welt lag vor ihnen, aber sie verkrochen sich in ihren seidenen Gewändern und huldigten einem der Königshäuser. Fin dagegen war nirgends und überall zuhause. Er wollte alle Königreiche sehen und dann entscheiden, wie und wo er seit restliches Leben verbringen wollte. Soweit der grobe Plan.

    Das Leben als Dieb hatte Vor- und Nachteile. Man war frei, konnte tun und lassen, was man wollte, war niemandem unterstellt, musste niemandem die Füße küssen. Tja, aber wenn man erwischt wurde, verlor man im besten Fall eine Hand – im schlimmsten sein Leben. Und doch war es genau das, was den Reiz ausmachte. Jeder Tag war ein Abenteuer. Das lange Verharren an ein und demselben Ort verursachte Fin Kopfschmerzen. Also war er eben ständig unterwegs und hielt jeden Tag nach einem neuen Platz für die Nacht Ausschau.

    Apropos.

    Er blieb stehen und lauschte für einen Augenblick. Im nächsten Moment stahl sich ein Lächeln in sein Gesicht. Na endlich! Er hörte die Stimmen betrunkener Männer, vermischt mit Klängen, die entfernt an Musik erinnerten. In der Nähe musste eine Schänke sein. Mit etwas Glück eine Gaststätte mit einem freien Bett. Heute ist mein Glückstag!, dachte Fin, beschleunigte seine Schritte und wurde bald in seiner Vermutung bestätigt: In einiger Entfernung, auf der anderen Seite eines großen Getreidefeldes, begann ein kleines Dorf. Es musste zu einer der kleineren Lordschaften rund um die Feuerburg gehören. Leichtfüßig lief er über das Feld und hielt auf die grobe Tür eines schäbigen Gasthauses zu. Ein schmutziger, fetter Kerl in verdreckten Lumpen kam in diesem Moment herausgestolpert und schenkte Fin ein zahnloses Lächeln.

    »Wer nich zahl’n kann, fliegt raus, Kumpel. Versuch’s besser nich«, lallte er und pustete Fin seinen abgestandenen Atem ins Gesicht.

    Fin zwinkerte dem Kerl zu, obwohl ihm von dem abartigen Gestank die Galle hochkam und sagte: »Ich kann zahlen, mein Freund. Und ihr solltet dringend ein Bad nehmen.«

    Noch bevor der Fette die Beleidigung verstanden hatte, war Fin durch die Tür ins Gasthaus getreten. Die Holzbänke an den nachlässig gezimmerten Tischen waren voll und bogen sich in der Mitte gefährlich. Es stank nach Schweiß, Bier und Urin. Ein paar runde Frauen mit ausladendem Ausschnitt servierten der grölenden Meute krügeweise Bier. Dieses trübe Gesöff, das so verheißungsvoll in den Krügen schwappte, war genau das, was Fin jetzt begehrte. Dazu gebratenes Fleisch und ein frisches Laken. Was wollte man mehr? Doch zunächst musste er dafür sorgen, dass er für diese Dinge auch zahlen konnte.

    Mit geübtem Blick machte Fin den Tisch ausfindig, an dem die betrunkensten Männer saßen, und näherte sich mit einem zuversichtlichen Lächeln auf den Lippen.

    »Ist hier noch Platz für einen trinkfreudigen Kameraden?«, fragte er einen brutal aussehenden Typen, der am Rand der überfüllten Bank saß und bei Fins Worten den Kopf hob.

    »Du Grünling verträgst noch nicht mal Flusswasser«, murrte der Kerl und bedachte Fin mit einem finsteren Blick. Fin tat, als habe er ihn nicht verstanden und beugte sich näher heran.

    »Wie sagtet Ihr? Grünling?«

    Während der Kerl ihm seinen Bier-Atem ins Gesicht blies und eine ungehobelte Beleidigung knurrte, zog Fin unauffällig ein Messer hervor und schnitt mit einer flüssigen Bewegung den kleinen Lederbeutel ab, den der Kerl am Gürtel trug. Dann lächelte er und zuckte mit den Schultern.

    »Ein anderes Mal, guter Mann«, sagte er, drehte sich um und ließ den Beutel in seinem Ärmel verschwinden.

    Er verzog sich in eine versteckte Nische nahe der Küche, die vom restlichen Schankraum aus nicht gut einzusehen war. Dort saß bereits eine Gruppe mehrerer Männer, die verhältnismäßig gut gekleidet schienen. Fin strich seinen Mantel glatt und stellte zufrieden fest, dass er nicht allzu schmutzig aussah.

    »Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte er höflich. Höflichkeit – so hatte er gelernt – sollte Tugend eines jeden Diebes sein. Es machte so vieles so viel einfacher. »Die anderen Bänke sind voll oder nicht sehr einladend. So hoffe ich, Ihr habt nichts dagegen, wenn ich mich setze?«

    »Ihr seid uns willkommen, Fremder«, sagte einer der Männer.

    »Sagt – wer seid Ihr und was treibt Euch in dieses Drecksloch?«

    »Man nennt mich Robert Lester. Ich gehöre zu einer Truppe von Spielleuten, die hier in der Nähe ihr Lager aufgeschlagen haben. Die anderen sind müde von der Reise, aber ich wollte mir einen geselligen Abend nicht entgehen lassen«, log Fin lächelnd und setzte sich. Die Männer lachten.

    »Da seid Ihr bei uns gut bedient«, lallte ein vollbärtiger Kerl mit bedrohlich spannendem Gürtel. Der Mann, der neben Fin saß, hatte wohl auch schon den einen oder anderen Krug genossen. Er winkte eine der Frauen heran.

    »Ein Bier für meinen Freund Robert Lester!«, rief er ihr zu. Fin lehnte sich zufrieden zurück.

    »Mein Name ist Molvin Decker«, sagte der spendable Fremde.

    »Sprecht, Robert. Wo kommt Ihr her? Wo habt Ihr eure Wurzeln?«

    »Meine Gruppe zieht den Grenzfluss flussaufwärts entlang und spielt mal hier mal dort«, spann Fin seine Geschichte weiter.

    »Unsere Wurzeln sind längst vergessen, wir sind überall zuhause. Einmal waren wir sogar in der Erdburg zu Gast.«

    Eigentlich hatte Fin die Erdburg noch nicht einmal von außen gesehen. Sie stand allerdings auf seiner Liste, galt sie doch als die schönste der vier großen Burgen.

    Die Männer machten ein merkwürdiges Gesicht.

    »Ihr wart kürzlich in der Erdburg, sagt Ihr?«, fragte Molvin Decker. »Behaltet das besser für Euch. Am Ende nimmt man Euch noch fest.«

    Verwirrt sah Fin die Männer an. »Warum sollte man mich festnehmen? Gehört es nicht zu Spielleuten, durch die Königreiche zu ziehen?«

    Molvin Decker beugte sich zu Fin vor und flüsterte: »Habt Ihr es denn nicht gehört? Wenn Ihr durch die Städte und Dörfer zieht, müsstet Ihr doch eigentlich viel Klatsch aufschnappen. Der Frieden in Ilyria ist nicht mehr sicher. Es gibt Gerüchte. Üble Gerüchte.«

    Fin bekam ein merkwürdig klammes Gefühl im Bauch. Der letzte ilyrische Krieg war schon lange her. Viel länger als Fin lebte. Das Blut Tausender und Abertausender hatte angeblich jahrelang die Felder Ilyrias getränkt. Aus diesem Krieg waren die vier Königreiche entstanden, die jetzt durch die natürliche Verzweigung des Grenzflusses voneinander abgetrennt waren. Jedes Königreich hatte seinen Namen und war einer der vier großen Gottheiten gewidmet: Den Göttern von Feuer, Wasser, Erde und Luft. Nun lebten die vier Königreiche vielleicht nicht in Freundschaft, doch aber in Frieden. Seit vielen, vielen Jahren. Und jetzt sollte dieser Frieden gefährdet sein?

    »Was wollt Ihr damit sagen, Decker?«, fragte Fin. »Wer bedroht den ilyrischen Frieden?«

    Decker sah sich unnötigerweise um. Sie saßen in einer versteckten Nische. Niemand würde ihr Gespräch mitbekommen.

    »Wir sind aus dem Dorf und man bekommt so einiges mit, wenn man an den richtigen Stellen hinhört«, raunte er. »Ein fahrender Händler aus einer Stadt an der Wasserburg hat hier am Hofe den engsten Berater des Feuerkönigs mit einem ihm unbekannten Mann reden hören. Er hat es seither jedem erzählt, der es hören wollte: Diese Männer sprachen von Verrat, Mord und Krieg. König Ferrick stellt angeblich im Westen eine Armee zusammen, um die anderen Könige zu stürzen.«

    Fin schnaubte. »König Ferrick? Meine Herren, der Mann lebt auf der Erdburg und regiert das größte Königreich in Ilyria. Ich wage zu bezweifeln, dass er mehr braucht.«

    »Lester, Ihr seid ein naiver Grünling. Wenn einer erst Macht hat, will er mehr davon. Das ist ein Naturgesetz. Aber Ihr wart auf der Erdburg! Sagt uns: Stimmen die Gerüchte?«

    Es war bereits das zweite Mal, dass Fin an diesem Abend als Grünling bezeichnet worden war. Es machte ihn ärgerlich. Seit seiner Geburt an einem stürmischen Wintertag waren mehr als zwanzig Jahre vergangen, trotzdem wurde er von älteren Männern oft nicht für voll genommen. Doch obwohl es ihn ärgerte, korrigierte er seine Gegenüber selten. Als Dieb war es schließlich im Grunde von Vorteil, unterschätzt zu werden.

    »Die Gerüchte höre ich zum ersten Mal«, gab Fin zu und umging somit die eigentliche Frage. Geschickt lenkte er das Gespräch danach auf ein unverfänglicheres Thema und ließ die Männer von sich erzählen. Er bestellte ein gebratenes Huhn, welches erstaunlich gut zubereitet war, bekam noch einen zweiten Krug Bier von Molvin Decker spendiert und bat den Wirt um ein Zimmer. Er zahlte mit den Münzen aus dem Lederbeutel des Fremden, noch bevor dieser bemerkt hatte, dass er bestohlen worden war. Auf dem Zimmer nahm er die wenigen Münzen heraus, die übriggeblieben waren, steckte sie in seinen eigenen Beutel, der jetzt zum Glück nicht mehr gänzlich leer war, und warf den fremden Beutel aus dem Fenster. Genießerisch seufzend streckte er sich auf dem schmalen Bett aus, das bei jeder Bewegung unangenehm ächzte. Es war die bequemste Schlafunterkunft seit langem. Schlafen konnte er dennoch nicht.

    Ihm fiel ein Gespräch ein, das er in einem Dorf auf der anderen Seite des Grenzflusses mit einer Obsthändlerin geführt hatte, während er unbemerkt Äpfel und Trauben von ihrem Tisch in seine Tasche befördert hatte. Fieberhaft versuchte er, sich an ihre Worte zu erinnern. Es war auf dem Gebiet des Wasserkönigs gewesen. So viel wusste er. Aber was hatte die Frau erzählt?

    Seht Euch vor, wenn Ihr den Fluss überquert, mein Junge. Das Feuer wird geschürt. Es kann erstickt werden. Von allen Elementen. Und doch wage ich kaum zu hoffen. Betet, mein Junge. Betet zu den Göttern, dass sie das Feuer ersticken mögen.

    Fin hatte genickt und gelächelt und nicht im Ansatz verstanden, was die alte Frau ihm sagen wollte. Er hatte sie bloß lange genug abgelenkt, um sich sein Abendessen zu beschaffen. Aber jetzt drangen ihre Worte wieder in sein Bewusstsein. Hatte auch sie davon gesprochen, dass der Frieden Ilyrias gefährdet war? Oder waren es Hirngespinste einer verwirrten Frau gewesen? Unruhig sank Fin in einen leichten Schlaf, der nicht so erholsam war, wie er hätte sein können.

    »Gestampfter Eselmist!«, fluchte Myra Jones lautstark. Na, so funktionierte das schon mal nicht. Sie hatte bis eben versucht, einen Korb mit gewaschener Wäsche, einen Laib Brot, einen kleinen Sack mit Äpfeln und einen Krug mit Milch zu balancieren. Nun – den Staub würde man vom Brot sicher abklopfen können und die Äpfel hatten vorher schon ein paar Druckstellen gehabt. Wenigstens hatte sie die Milch nicht verschüttet.

    »Coly! Verdammt, jetzt hilf mir!«, rief sie.

    Langsam trottete Myras jüngerer Bruder herbei und sammelte die Äpfel vom Boden auf. »Wo hast du die her?«, fragte er neugierig.

    »Sie sind einfach vom Himmel gefallen«, erwiderte Myra, während sie zusah, wie Coly mit einer provozierenden Ruhe die Früchte begutachtete.

    »Du weißt, wie ich das meine. Wo hast du das Geld hergehabt?« Seine helle Kinderstimme klang schrecklich erwachsen, als er das sagte. Er schob die Äpfel in den Sack zurück und hob das Brot auf. Dann trug er beides neben ihr her, während sie zu der Hütte marschierte, in der ihre Familie wohnte. Oder vielmehr, was davon übrig war.

    »Ich hatte ein paar Münzen beiseitegelegt, die Petter gebracht hat. Außerdem konnte ich tatsächlich ein wenig Holz verkaufen. Versteck die Früchte unter deinem Bett, Coly!«, wies sie ihn an.

    Der Junge blieb stehen und schenkte ihr einen strafenden Blick.

    »Du willst sie vor Vater verbergen«, sagte er.

    Myra nickte ohne Zögern. »Bei der schwarzen Winterhexe – Ja! Die Äpfel sind für uns, verstehst du? Petter arbeitet hart.«

    Coly antwortete nicht, aber Myra wusste auch so, dass er nicht einverstanden war. Vermutlich würde er einen seiner Äpfel heimlich mit seinem Vater teilen und dafür sicher wenig Dankbarkeit erwarten können. Edgar Jones war früher ein gutaussehender, kräftiger Mann gewesen, der den Frauen reihenweise die Köpfe verdreht hatte. Aber Augen hatte er nur für eine gehabt.

    Halt Stopp.

    Der Gedanke an ihre Mutter war schmerzhaft, deswegen konzentrierte Myra sich besser auf den Wäschekorb, der ihr fast aus der Hand fiel. Fakt war, dass ihr Vater nicht mehr der Mann von früher war. Er war Holzfäller – oder war es einst gewesen – und verbrachte inzwischen den Großteil seiner Zeit in der Hütte oder in der Dorfspelunke. Die wenigen Münzen, die er mit der Holzfällerei noch verdienen konnte, versoff er. Und dabei vergaß er manchmal ganz und gar, dass zuhause zwei Kinder ernährt werden mussten. Es war nicht so, dass Edgar seine Kinder nicht liebte. Er vergaß nur manchmal ganz einfach, dass sie existierten. Meist dann, wenn ein neuer Krug mit Bier vor ihm stand. Coly und Myra wären längst verhungert, hätte Edgar nicht noch einen weiteren Sohn.

    Petter Jones war der älteste Nachkomme des gebrochenen Mannes und hatte es glücklicherweise geschafft, in die königliche Stadtwache der Erdburg aufgenommen zu werden. Die Burg lag nur einen Tagesmarsch von dem kleinen Dorf entfernt, in dem die Familie Jones lebte. Zu Pferd brauchte man nicht sehr lange. Seinen Lohn brachte Petter stets zu großen Teilen nach Hause und Myra hatte sich der Rolle als Familienoberhaupt angenommen.

    Achtzehn Sommer hatte sie in ihrem Leben gesehen und die heiratswilligen Knaben im Dorf beäugten sie bereits seit Jahren. Denn vollkommen unansehnlich war sie wohl nicht. Schon gar nicht, seit ihr kindliches Aussehen einer nicht unerheblichen Weiblichkeit gewichen war. Aber was sollte man machen? Myra Jones war einfach keine gute Partie. Die Familie hatte kein Geld und das konnte das Mädchen mit den wilden, dunkelroten Locken definitiv nicht mit Liebenswürdigkeit wettmachen. Also blieb eine Heirat aus. Nicht, dass Myra das besonders schade fand. Im Gegenteil. Sollte sie einmal heiraten, dann einen ehrbaren Mann, der ihr eine Zukunft bieten konnte. Eine Zukunft außerhalb dieses ärmlichen Dorfes. Niemals hätte sie diesen Gedanken mit jemandem geteilt. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, Kinder in eine Welt zu bringen, in der sie nur Hunger und Armut erwartete. Sollte sie einmal fortgehen, würde sie Coly mitnehmen. Das hatte sie schon lange beschlossen, obwohl sie nicht sicher war, ob Coly das wollte. Der Junge liebte seinen Vater und konnte die Wut nicht verstehen, die seine große Schwester hegte. Wie sollte er auch? Er hatte den Verfall von Edgar Jones nicht miterlebt. Myra schon. Und Petter auch.

    Wie auch immer.

    In der Hütte angekommen, begann Myra, die gewaschene Wäsche zu falten. Coly schnitt mühevoll das Brot an, das sie gekauft hatte. Es war ein hartes Brot. Schon einige Tage alt. Aber mit der Milch würden sie es aufweichen können.

    Frisches Brot hatten sie seit Jahren nicht gegessen. Zu teuer. Schon dieses hatte mehr gekostet, als Myra hatte ausgeben wollen. Die Äpfel hatte sie äußerst günstig erstanden. Allein deshalb hatte sie sie mitgebracht. Sie schob die gefaltete Wäsche in die große hölzerne Truhe, die in der Ecke neben den Schlafplätzen stand. Dann kniete sie sich an die Feuerstelle und legte ein paar Holzscheite in die Asche. Die Tage wurden kürzer und die Nächte kälter. Sie würden ein Feuer brauchen.

    »Ich habe heute mit dem Müller gesprochen«, sagte Myra unvermittelt.

    Coly sah überrascht von seiner Arbeit auf.

    »Wieso das?«, fragte er.

    »Er leiht mir sein Pferd für einen Ritt zur Erdburg«, antwortete seine Schwester.

    Der Junge legte das Messer auf den Tisch, mit dem er das Brot zu schneiden versucht hatte, und fragte: »Glaubst du wirklich, der König wird dir dieses Mal Geld geben?«

    »Zum Teufel, Coly! Es ist egal, was ich glaube«, rief Myra aus. »Wir brauchen Geld und ich kann diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen!«

    Coly kam zu ihr hinüber und half ihr dabei, das Feuer zu entzünden. Erst als die ersten Flammenfinger emporzüngelten, antwortete er: »Du reitest zum vierten Mal dort hin. In den ersten beiden Jahren durftest du nicht einmal vortreten und letztes Jahr wurdest du ausgelacht. Was macht dich so sicher, dass es dieses Mal anders läuft?«

    Myra fuhr ihrem kleinen Bruder liebevoll durchs Haar.

    »Wurdest du schon so weise geboren, kleiner Mann?«

    »Sag du es mir«, antwortete er grinsend.

    Myra machte wieder ein ernstes Gesicht. »Es gibt diese Chance nur einmal im Jahr. Und Vater wird sicher nicht reiten.«

    An einem Tag in jedem Jahr gab es die Möglichkeit, als Teil des königlichen Volkes aus dem Gebiet der Erdburg vor den König zu treten und eine Bitte hervorzubringen. Bürger aus den großen Städten und Lordschaften hatten diese Möglichkeit oft, deshalb blieben sie dieser Veranstaltung meist fern. Aber jede Frau und jeder Mann – ja, jedes Kind – aus den Dörfern und von der Straße kam, sofern möglich, und trug das jeweilige Leid vor. Tatsächlich waren Myras Hoffnungen denkbar gering, aber je älter Coly wurde, desto mehr aß er. Und je mehr er aß, desto deutlicher wurde die Knappheit des Geldes, das der Familie zur Verfügung stand. Bis Coly eine Lehre beginnen oder sich auch für die Stadtwache melden konnte, würde noch eine lange Zeit vergehen. Also musste Myra alles Mögliche tun, um an ein paar Münzen zu kommen. Unehrliche Wege kamen nicht infrage. Also musste sie reiten. Und die Leute im Dorf hatten genug Mitleid mit den beiden Kindern des alten Säufers, dass sie in jedem Jahr von irgendjemandem ein Pferd geliehen bekam.

    Es war Jahre her, dass die Familie Jones ein eigenes Pferd besessen hatte. Es war in den guten Jahren gewesen, da Edgar Jones an jeden im Dorf sein gut gehacktes Holz verkauft hatte. Sein Name stand damals für ausgezeichnete Qualität und faire Preise. Heute stand er für Verfall und Verlust. Das Pferd hatten Petter und Myra schweren Herzens vor einigen Jahren auf dem Markt verkauft, als der Hunger sie seit Tagen geplagt hatte. Als das Geld ausgegeben war, war Petter zur Erdburg losgezogen und hatte um Anstellung gebeten. Zunächst hatte man ihn natürlich ausgelacht. Ein Knabe aus den Dörfern um Lord Willas‘ Herrenhaus, kaum Bildung, bloß ein paar Muskeln vom Holzhacken. Aber Petter hatte sie schließlich überzeugt. Immerhin hatte er eine einzigartige Stärke, die ihn auszeichnete.

    Es tat Myra stets im Herzen weh, ihren großen Bruder wieder fortreiten zu lassen, wenn er seinen Lohn zu ihnen gebracht hatte. Petter fehlte ihr ganz schrecklich. Aber Jammern nützte nichts. Das hatte sie schon früh gelernt.

    Edgar Jones war noch immer nicht nach Hause zurückgekehrt, als Myra und Coly schließlich am Feuer saßen und ihr Brot in der Milch aufweichten. Es dauerte lange und sättigte wenig, aber für Fleisch fehlte das Geld und weder Myra noch Coly waren in der Lage zu jagen. Der Wald war zudem ein ganzes Stück entfernt und auf den Feldern rund um Ryna – dem Dorf, in dem sie lebten – fand man allerhöchstens eine Feldmaus.

    Es kam nicht selten vor, dass die Frau des Fleischers Coly heimlich ein paar Würste zusteckte, die nicht gut geraten waren, aber trotzdem schmeckten. Doch Coly wurde immer größer und immer älter und seine niedliche Kindlichkeit, die die Herzen der Dorfbewohner erweichte, verschwand nach und nach. Elf Jahre war er alt. Schmal und kraftlos, mit weichen Händen und einem wachen Blick. Myra fragte sich oft, was die Zukunft für ihn wohl bereithalten würde. Oder für sie selbst.

    Als die Dunkelheit das Licht des Tages vertrieb, legten Myra und Coly sich neben die glimmende Glut des ausgehenden Feuers und versuchten zu schlafen. Coly kuschelte sich eng an seine Schwester und Myra strich über sein Haar, bis er eingeschlafen war. Dann lag sie wach und wartete, bis ihr Vater in die Hütte getorkelt kam. Sie stellte sich schlafend und lauschte seinem Schnaufen, als er sich schwerfällig fallen ließ, um in den Schlaf zu sinken. Sie konnte das Bier riechen, das seinen Atem tränkte. Erst überlegte sie, etwas zu sagen und ihn zurechtzuweisen, aber das konnte nur hässlich enden und Coly schlief so selig. Also machte auch Myra die Augen zu.

    Sie erwachte am frühen Morgen vom Gezwitscher der Vögel. Sie rappelte sich auf, schlich auf Zehenspitzen durch die Hütte und öffnete die Holztruhe. Dort zog sie ihr elegantestes Kleid hervor. Es hatte einmal ihrer Mutter gehört und sie trug es nur zu besonderen Anlässen.

    Ein Besuch bei Hofe war ein solcher Anlass.

    Mit dem Stoffbündel unter dem Arm lief sie den schmalen ausgetretenen Pfad bis zu dem kleinen Bach entlang, der sich am Rande Rynas vorbeischlängelte. Sie folgte seinem Lauf eine Weile und erreichte schließlich einen ausladenden Baum. Dort stieg sie in das eiskalte Wasser und begann sich zu waschen. Sie zog sich bis aufs Unterhemd aus und schrubbte sich mit bloßen Händen den Schmutz von der Haut. Klitschnass und mit tropfenden Haaren stieg sie schließlich in das Kleid. Es lag an der Hüfte ziemlich eng an. Ihre Mutter war ein wenig schmaler gewesen, als sie selbst. Der Stoff war von einer blauen Farbe, die wunderbar zu Myras dunkelroten Haaren passte, sie jetzt so tropfnass fast schwarz aussahen. Die Haare ihrer Mutter hatten dieselbe Farbe gehabt.

    Zurück in der Hütte stieg Myra in die einzigen Stiefel, die sie besaß. Braune, ausgetretene Lederstiefel von geringer Qualität, aber neue waren teuer und Geld war bekanntermaßen knapp. Sie versuchte, ihre wirren Locken, die langsam zu trocknen begannen, mit den Fingern zu entknoten, gab aber schließlich auf und suchte einen schweren Wollumhang aus der Truhe, den sie sich um die Schultern warf. Sie packte einen Lederbeutel mit ihrem Apfelanteil, um sich unterwegs zu stärken, und rüttelte als letzte Amtshandlung ihren Vater grob an der Schulter wach. Stöhnend erwachte Edgar Jones und fuhr sich mit der Hand durch das verdreckte, blonde Haar.

    »Was ist denn los?«, murrte er.

    Myra bemühte sich, ruhig und bestimmt zu klingen. »Ich reite zur Erdburg und werde erst heute Abend zurück sein. Ich erwarte von dir, dass du Coly nicht allein lässt. Verstehst du mich?«

    »Sicher, wirke ich taub? Wirst du vor Sonnenuntergang zurück sein?«

    Myra seufzte. »Ich weiß es nicht. Bei den Göttern, Vater. Du wirst doch wohl einen einzigen Abend im Jahr zuhause verbringen können. Bleib nüchtern, bis ich zurück bin. Ich verlange dein Versprechen!«

    Ein ärgerlicher Ausdruck glitt über Edgars Gesicht und er stieß scharf die Luft aus, was die Hütte mit einem schalen Geruch erfüllte, der Myras Magen zum Rebellieren brachte.

    »Ich bin dein Vater, Myra«, knurrte er. »Ich verlange von dir, dass du mir keine Vorschriften machst.«

    Myra lächelte kalt. »Zum Teufel mit dir! Ich verlasse mich auf dich. Lass es kein Fehler sein.«

    Als sie aufstand, um die Hütte zu verlassen, sah sie, dass Coly erwacht war. Wirr stand ihm das gleiche blonde Haar vom Kopf ab, das auch ihr Vater besaß. Sein Blick machte ihr Vorwürfe, aber er sagte nichts. Sie winkte ihm zum Abschied und trat aus der Hütte. Nach wenigen Schritten hörte sie Colys Stimme.

    »Myra, warte!«

    Sie drehte sich um. Coly kam auf nackten Füßen auf sie zu gerannt und warf sich ihr in die Arme. »Bleib nicht zu lange fort, ja?« Er lächelte und Myras Herz drohte zu schmelzen.

    »Ich habe dir doch versprochen, dass wir morgen den Bach überqueren und auf die großen Bäume hinter dem Dorf klettern«, sagte sie. »Sehe ich aus, wie eine verfluchte Sabberhexe, die ihre Versprechen bricht?«

    Coly lachte glockenhell und schüttelte den Kopf. »Versprichst du mir noch etwas, Myra?«, fragte er mit ernster Miene.

    »Kommt ganz drauf an, was du verlangst, kleiner Zwerg.«

    Ein spitzbübisches Grinsen umspielte seine Mundwinkel.

    »Versuch, nicht so viel zu fluchen.«

    Jetzt war Myra diejenige, die lachte. Sie gab ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf und drückte ihm dann einen Kuss auf den Scheitel. »Versprochen! Ich werd’s versuchen.« Sie winkte ihm noch einmal zum Abschied, dann durchquerte sie das Dorf, holte das Pferd ab und schwang sich hinauf.

    Zunächst führte der Ritt sie durch Felder und Wiesen und sie genoss den Wind, der spielerisch an ihren Haaren zerrte. Hinter dem Herrenhaus von Lord Willas lenkte sie das Pferd auf den offiziellen Handelsweg der Burg. Hier begegneten ihr die ersten anderen Menschen. Am Rand des Weges lungerten Dutzende Landstreicher und Heimatlose herum, die auf eine Spende derer hofften, die sich auf dem Weg zum König machten. Einige Bittsucher waren zu Fuß unterwegs und würden noch lange bis zum Schloss brauchen. Myra war froh, ein Pferd zu haben, obwohl der alte Sattel des Müllers unangenehm scheuerte.

    Als die Sonne bereits hoch am Himmel stand, kam endlich die prächtige, königliche Erdburg in Sicht. Myra war schon hier gewesen, aber der Anblick war jedes Mal aufs Neue atemberaubend. »Ja, Teufel aber auch…«, murmelte sie leise.

    Die Erdburg, in der König Ferrick mit seiner Familie und seinem Hofstaat lebte und regierte, war ein wunderschönes Bauwerk. Umringt von dichtem Mischwald aus alten Eichen und hohen Nadelbäumen, bemoosten Steinen und einer dicken Mauer. Mit ihren hohen Türmen und verzierten Dächern wirkte die Erdburg, wie aus einer der fantastischen Sagen, die das alte Kräuterweib im Dorf immer erzählte. Myra hatte schon lange die Vermutung, dass die gute Frau einige ihrer eigenen Kräuter in einer für ihren Verstand ungesunden Menge konsumierte, aber ihre Geschichten waren immer unterhaltsam. Die Erdburg galt jedenfalls als die schönste der großen vier Burgen. Myra hatte die anderen noch nicht gesehen, aber sie mochte gern glauben, was sie gehört hatte. Die Erdburg strahlte Macht und gleichzeitig etwas so Einladendes aus, dass Myra sich zu ihr hingezogen fühlte. Glücklicherweise war sie am heutigen Tage tatsächlich eingeladen.

    Sie trieb ihr Pferd an und führte es quer durch die Stadt Terraya, die die königliche Burg beherbergte. Je näher sie dem Burgtor kam, desto kleiner waren ihre Hoffnungen, dass sie heute würde sprechen dürfen. Hunderte Menschen strömten auf das Tor zu. Jeder mit einer wichtigen Bitte. Jeder mit einer eigenen Geschichte.

    »Verflucht noch eins, so wird das nichts, du alter Gaul«, erklärte sie dem Pferd und es hob den Kopf, als hätte es sie verstanden. »Wünsch mir Glück. Hoffentlich meinen es die Götter heute gut mit mir.«

    Sie trat dem Tier mächtig in die Seite und bahnte sich eilig einen Weg bis fast direkt vor das Tor, sodass ein paar Wartende dort panisch zur Seite sprangen. Der Gestank war dort bestialisch. Da hätte ich mich nicht einmal waschen müssen!, dachte Myra resigniert. Menschen aus jeder Lebenslage mit und ohne Dach über dem Kopf waren hergekommen. Und nicht jeder hatte sich dafür herausgeputzt. Wenn sie so einen Blick schweifen ließ, kam Myra zu dem Schluss, dass kaum einer sich überhaupt gewaschen hatte. Aber das war egal. Denn sie waren alle hier. Und jeder von ihnen konnte Myra die Chance nehmen, vor dem König zu sprechen.

    Eine Handvoll Männer der Stadtwache standen unter dem Tor und ließen einen nach dem anderen hinein. Bloß einige wenige wurden fortgeschickt, weil sie sich unschicklich verhielten. Ein Mann lief splitterfasernackt davon. Myra grinste, als sie darüber nachdachte, ob er sich vom König wohl ein paar Kleider erbeten hätte. Ein paar Stallburschen eilten hin und her, um die Pferde derer zu versorgen, die nicht zu Fuß angereist waren. Die Tiere wurden auf eine Wiese am Waldrand gebracht. Als Myra an der Reihe war, wurde der Gaul des Müllers weggeführt und sie selbst wurde weiter gewunken. Sie trat durch das Burgtor und sah sich aufmerksam um, aber sie konnte ihren großen Bruder nirgends entdecken. Schade.

    Hatte in der Stadt noch erregtes Geplapper geherrscht, so war es auf dieser Seite der Burgmauer andächtig still. Die Anhörungen waren bereits in vollem Gange und niemand wollte Gefahr laufen, so kurz vor dem Ziel hinausgeworfen zu werden. Langsam schob sich die Menge auf den großen Vorhof der Burg zu. Dort war ein kreisrundes Podium aufgebaut worden, das wieder von Stadtwächtern umrundet war. Petter war auch hier nicht dabei.

    Auf einem Balkon standen Stühle, auf denen mehrere Personen in hübschen Gewändern saßen, aber Myra konnte sie aus dieser Entfernung noch nicht gut erkennen. Es musste sich um die königliche Familie handeln. Auf dem Podium stand ein alter gebrechlicher Mann, der um das alleinige Wirtschaftsrecht für ein Stück Land bat, welches er sich zuvor mit einem verhassten Nachbarn geteilt hatte. Myra spitzte die Ohren, um die Antwort des königlichen Sprechers zu hören, dem der König seine Meinung zugeflüstert hatte.

    »Der König fragt, warum ihr das Land nicht weiterhin teilt.«

    Der Alte stand mit dem Rücken zu ihr, so ging seine Erklärung im leisen Gemurmel der Menge unter, aber der König lehnte daraufhin seinen Antrag ab.

    Myra folgte der Menge in Richtung Podium. Sie schluckte, als sie sah, wie viele Menschen hier schon standen und warteten. Vermutlich würde sie, wie in den ersten zwei Jahren, gar nicht an die Reihe kommen. Aber sie würde es versuchen müssen. Sie hatte Respekt vor all den Schicksalen der anderen Menschen, aber es reichte ein kurzer Gedanke an Coly und sie war bereit, jeden hier auszustechen. Der alte Mann trat bekümmert vom Podium und überall reckten Menschen ihre Hände, um als Nächstes an die Reihe zu kommen. Myra auch, aber der Stadtwächter, der die Auswahl traf, rief einen ausgezehrten Jungen herbei, der um Lebensmittel bat und vom König ein Rind geschenkt bekam, das er entweder verkaufen oder verspeisen konnte.

    Und so ging es weiter.

    Manche wollten Geld, Speisen oder eine Unterkunft. Andere baten um Arbeit oder Privilegien. Einige kamen mit Konflikten, die gelöst werden wollten, noch andere verlangten absurde Gesetze. So ging es den ganzen Tag. Die Sonne wanderte über den Hof hinweg, ließ die Schatten die Richtung wechseln und stetig länger werden. Enttäuschte Menschen, jung und alt, verließen die Burg, hoffnungsvolle Gesichter kamen hinzu. Einige gaben auf und machten sich unverrichteter Dinge auf den Heimweg.

    Myra spielte seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, es ihnen gleich zu tun. Sie war müde, ihr taten die Füße vom langen Stehen weh und ihre Blase zwickte unangenehm. Aber sie hatte sich inzwischen recht nah ans Podium vorgearbeitet und mochte die Hoffnung nicht gerade jetzt aufgeben. Die Stadtwächter wirkten immer genervter und auch die Königsfamilie, die sie inzwischen gut erkennen konnte, wurde unruhiger und wollte den Tag vermutlich schleunigst zu einem Ende bringen. Sie hatte sich immer wieder umgesehen, Petter aber nirgends erblicken können. Zu dumm. Sein Anblick hätte ihr Kraft geschenkt.

    Als das Podium wieder einmal leer war, deutete der Stadtwächter, ein junger Bursche in Petters Alter, vollkommen unerwartet in ihre Richtung. »Ihr, mit den roten Haaren. Hinauf!«

    Myra konnte ihr Glück kaum fassen. Zur Sicherheit sah sie sich noch einmal um, aber in ihrer näheren Umgebung war sie die Einzige mit rotem Haar. Etwas unbeholfen ob der steifen Glieder kletterte sie auf das Podium. Nicht fluchen!, schärfte sie sich Colys Bitte ein und verneigte sich tief vor der königlichen Familie. Von hier oben hatte sie einen guten Blick auf die hohen Gesichter.

    König Ferrick saß in der Mitte. Sein stolzes, kräftiges Gesicht ließ nicht erkennen, was er dachte. Er sah irgendwie nett aus, auch wenn er am heutigen Tage schon so viele Menschen mit leeren Händen nach Hause geschickt hatte. Zu seiner Rechten saß seine Königin. Laryn war ihr Name, wenn Myra sich recht entsann. Auf seiner anderen Seite saßen die zwei Kinder. Ihre Namen kannte Myra nicht. Aber es waren ein Mädchen in ihrem Alter und ein jüngerer Knabe. Myra fragte sich, ob diese beiden Kinder wohl die beste Wahl für die königliche Thronfolge waren. Der Sohn war ein schmalgesichtiger, bleicher Knilch, der wohl unter dem Gewicht einer Königskrone zusammenbrechen würde. Und die Tochter wirkte ebenso zierlich. Doch dies war nicht der rechte Moment, darüber nachzudenken.

    Myra räusperte sich und sagte die Worte, die sie im Geiste immer wieder durchgegangen war: »Ich bin Myra Jones aus dem Dorf Ryna der Lordschaft Willas. Ich bedanke mich für die Ehre, heute sprechen zu dürfen.«

    Der königliche Sprecher warf ihr einen desinteressierten Blick zu. »Was ist euer Anliegen, Maria?«

    »Myra«, korrigierte Myra ohne recht darüber nachzudenken.

    »My wie Mais und Ra wie… Nun, einfach Myra.« Ein Flüstern ging durch die Menge und Myra bemerkte, dass die Königstochter hinter vorgehaltener Hand kicherte. Schnell sprach sie weiter. »Ich lebe mit meinem jüngeren Bruder und meinem Vater in einer kleinen Hütte. Früher war mein Vater ein guter Holzfäller, aber seit dem Tod meiner Mutter hat die Trauer ihn in ein tiefes Loch gezogen, aus dem er nur selten einen Schritt hinauswagt. Wie Ihr sehen dürftet, Majestät, eigne ich mich kaum zum Holzfällen und mein Bruder ist noch zu jung dafür. Mein älterer Bruder gibt uns zwar große Teile seines Lohns, aber…«

    Der königliche Sprecher unterbrach sie. »Ihr habt einen älteren Bruder, der Arbeit hat?«

    Vielleicht hätte sie das nicht sagen sollen, aber sollte sie lügen?

    »Ja. Er gehört zur königlichen Stadtwache«, gab Myra zu.

    Der Sprecher verzog das Gesicht zu einem boshaften Grinsen. Er trug einen ausladenden Schnauzbart, der bei dieser Grimasse in Schieflage geriet.

    »Wollt Ihr unserem hohen König also vorhalten, er zahle seinen Soldaten nicht genug?«, fragte er.

    Das war eine gemeine Frage. Nicht fluchen! Myra hatte Colys Stimme im Hinterkopf, während sie antwortete und versuchte, ihre Verärgerung zu verbergen.

    »Bei allem Respekt und der Hochachtung, die ich für unseren hohen König hervorbringe, komme ich doch nicht umhin, Euch darauf hinzuweisen, dass diese Frage wirklich hundsgemein ist.«

    Ein weiteres Raunen ging durch die Menge und ein Stadtwächter machte sich schon bereit, sie beim kleinesten Zeichen des Königs vom Podium herunter zu zerren. Myra ignorierte das.

    »Wenn ich Eure Frage bejahe, so werft Ihr mir die Beleidigung unseres hohen Königs vor. Wenn ich verneine, so werdet Ihr mich fragen, warum das Geld dann nicht reicht. Ich will dem vorbeugen, wenn Ihr mich lasst, und die Frage umgehen, indem ich Euch schnell meine Situation weiter erkläre.«

    Jetzt lachte die Prinzessin sogar leise, sodass Myra es höhen konnte. Sie blendete es aus.

    »Mein Vater taugt nicht mehr, die Familie zu ernähren, stattdessen will er selbst ernährt werden. Mein kleiner Bruder soll zu einem Mann heranwachsen, der das Familiengeschäft weiterführen kann. Das geht nicht, wenn er hungert. Mein großer Bruder arbeitet hart, aber damit lassen sich keine vier Menschen sättigen.«

    Der König sprach leise mit seinem Sprecher, der sich dann wieder nach vorn beugte und sein Urteil verkündete. Myra hielt gespannt den Atem an.

    »Der König ist bereit, euch einen starken Mann zu vermitteln, den ihr anstellen könnt, um euer Geschäft wiederaufzunehmen.«

    »Und womit soll ich den entlohnen?«

    Die Frage war heraus, ohne dass Myra darüber nachgedacht hatte. Die Menge verstummte atemlos. Alle starrten sie an. Jeder Einzelne in Hörweite hatte fest geglaubt, Myra wäre nicht so töricht, nach einem solchen Angebot noch weiter zu sprechen. Sie selbst hatte auch nicht damit gerechnet. Aber ihr flinkes Mundwerk war ihrem Verstand zuvorgekommen. Selbst der königliche Sprecher war verwirrt, dass er noch immer nicht mit ihr fertig war. Der Stadtwächter stand nun schon halb auf dem Podium, jederzeit bereit Myra hinauszuwerfen, womöglich sogar abzuführen. Die Menge genoss das Schauspiel, dessen war Myra sich sicher.

    »Seid Ihr sicher, dass ihr dieses großzügige Angebot unserer Majestät ablehnen möchtet, Mädchen?«, fragte der Mann mit dem Schnauzbart.

    »Keineswegs«, sagte Myra mit aller Höflichkeit, die sie aufbringen konnte. »Und ich bitte um Verzeihung, wenn ich aufsässig erscheine. Ich frage mich bloß, wie ich das Angebot annehmen soll. Kein Arbeiter schafft ohne Lohn. Und einen Lohn bin ich nicht in der Lage zu zahlen.«

    Der Sprecher verlor sichtlich die Geduld. »Nun, mein Kind. Ferrick Lengston, König der Erdburg, Herrscher über die Ländereien und Lordschaften um Terraya und des gesamten Königreichs der Erde, kann nicht jedem arbeitslosen Untertan den Unterhalt zahlen. Wenn ihr den Arbeiter nicht nehmen wollt, geht ohne nach Hause.«

    So ein arroganter Mistkerl! Myra konnte sich nicht mehr zügeln. »Teufel aber auch!«, rief sie. »Ich kann doch nichts dafür, dass ich kein Holzfäller bin! Wenn Ihr einem arbeitslosen Untertanen nichts zahlen wollt, so gebt ihm Arbeit!«

    Damit sprang sie vom Podium und wollte eigentlich davonstürmen, wurde aber natürlich durch die dichte Menge und den Stadtwächter gebremst, der sie am Arm packte. Es tut mir so leid, Coly!, dachte sie. Jetzt würde sie vermutlich weggesperrt werden, wegen Beleidigung des Königs oder einer anderen Sache, die sie sich im Eifer ihrer Wut hatte zu Schulden kommen lassen.

    Ein Geräusch durchbrach die erwartungsvolle Stille, die ihre Worte hinterlassen hatten. Gelächter. Die Prinzessin an der Seite des Königs lachte. Myra warf ihr einen grimmigen Blick zu. Diese verwöhnte Göre hatte noch nie für irgendetwas arbeiten müssen. Die Königstochter verstummte, beugte sich vor und flüsterte dem schnauzbärtigen Mann etwas zu, der sich daraufhin kurz mit dem König beriet und sich dann leicht verstimmt zu der Menge umdrehte.

    »Myra Jones, man bietet euch Arbeit in den persönlichen Diensten von Prinzessin Alissa Felyzia Lengston, Tochter des Königs der Erdburg, an.«

    Petter Jones traute seinen Ohren kaum und das musste schon etwas heißen. Er war am heutigen Tage zur Patrouille auf der Burgmauer eingeteilt worden und konnte nicht viel von den Anhörungen im Innenhof sehen. Stattdessen hatte er aufmerksam gelauscht. Das konnte er sowieso am besten. Aber was er gerade gehört hatte, war kaum zu glauben.

    »Hey, Petter!«

    Ein hochgewachsener blonder Mann in den Farben der Stadtwache eilte auf Petter zu.

    »Jonah!«, grüßte Petter überrascht.

    Jonah Emmerick hatte fast zeitgleich mit Petter bei der Stadtwache angefangen. Sie hatten die kurze Ausbildung gemeinsam durchgestanden und waren inzwischen Freunde.

    »Ist das deine Schwester da unten?«, fragte Jonah. Petter nickte, wenn er auch noch nicht wirklich begriffen hatte, was dort gerade passiert war. »Hast du gehört, was der König ihr angeboten hat? Ach, was frage ich. Natürlich hast du es gehört. Wir tauschen den Posten, wenn du willst. Ich bin unten im Hof eingeteilt. Dann kannst du zu ihr.«

    »Vielen Dank, das ist wirklich nett von dir«, bedankte Petter sich, salutierte und hastete die Mauer entlang, bis er die Stufen fand, die hinunter in eine Gasse führten.

    Edgar Jones‘ ältester Sohn war im Grunde kein schlechtaussehender Mann. Doch galten die meisten Blicke, die ihm zugeworfen wurden, nicht seinem freundlichen Gesicht, sondern seinen Ohren. Groß, rötlich und abstehend zogen sie die Aufmerksamkeit auf sich. Seine Mutter hatte ihm stets erzählt, schon als sie ihn das erste Mal am Tag seiner Geburt in ihren Armen gehalten hatte, hätten seine übergroßen Ohren sie zum Lachen gebracht. Dazu das rotblonde Haar und die grünen Augen hatten sie an eine nordische Sage der damals noch nicht ganz so alten Kräuterfrau erinnert, die von einem frechen Kobold in den Bergen erzählte. Und nach diesem Kobold hatte sie ihn benannt. Petter. Eine unglückliche Entscheidung, wie er manchmal fand.

    Er blieb einen Augenblick stehen und horchte. Denn zu einer Sache waren seine großen Ohren wirklich hervorragend geeignet: Er hörte überdurchschnittlich gut. Dieser Umstand hatte dafür gesorgt, dass er als Mann niederer Herkunft in der Stadtwache aufgenommen worden war. Seine Kollegen amüsierten sich über seine Fähigkeit genauso, wie sie sie schätzten. Petter hatte sich damit abgefunden, leistete ihm sein Gehör doch oft gute Dienste. So auch jetzt.

    »Bei allen sabbernden Waldgnomen! Ich fasse es nicht! Verflucht noch eins!«

    Er grinste und lief um zwei Ecken, immer der Stimme folgend, die er nur zu gut kannte. »Na, wenn das nicht meine liebreizende Schwester ist«, sagte er laut, als er sie erblickte.

    Myra stand auf einem kleineren Hof vor der Burg. Ein paar Stadtwächter und Dienstmädchen hasteten umher, aber seiner Schwester war deutlich anzusehen, dass sie nicht wusste, was sie hier sollte. Bei seinen Worten drehte sie sich um. Ihre Augen weiteten sich erfreut.

    »Mensch, Petter! War das ein Witz? Verdammt, hast du etwa an deinem Humor gearbeitet?«, fragte sie grinsend.

    »Wie ich höre hat dir immer noch niemand den Mund ausgewaschen, obwohl die Frauen aus dem Dorf das schon seit Jahren vorhaben.«

    »Teufel aber auch, das sollen die mal versuchen.« Myra lachte und fiel ihrem Bruder um den Hals. Es war ein wunderbares Gefühl, seine Schwester in den Armen zu halten.

    »Ich habe gehört…«, begann Petter, doch Myra unterbrach ihn sofort und löste sich aus der Umarmung.

    »Selbstverständlich hast du das! Kannst du mir jetzt auch noch sagen, was ich machen soll?«

    Petter lächelte. Myra war schon als Wildfang geboren worden. Sobald sie die Sprache erlernt hatte, hatte sie sich jeden Fluch und jedes Schimpfwort im Dorf abgeguckt und nachgeplappert. Das gefiel ihr immer am besten. Und Petter liebte diese Eigenschaft. Nicht einen Moment lang hatte er sich Sorgen gemacht, dass sie vielleicht nicht dazu in der Lage sein würde, sich um Coly zu kümmern, wenn er selbst hier am Hofe lebte und diente. Myra Jones fand immer einen Weg, sich irgendwie durchzubeißen. Die Leute im Dorf, die den Teufel fast so sehr fürchteten, wie den Tod selbst, sprachen stets liebevoll davon, Myra würde nach ihrem Ableben auf direktem Weg in die Hölle marschieren und Satan würde sie als alte Freundin willkommen heißen. Myra selbst konnte sich darüber bloß amüsieren. »Sollten die Götter mich wahrlich so sehr hassen, werde ich wenigstens nicht frieren«, pflegte sie darauf zu erwidern. Auf alles hatte sie eine Antwort, aber jetzt brauchte sie den Rat ihres großen Bruders. Für ein Dienstmädchen war Myra nicht gemacht. Das wussten sie beide. Aber Prinzessin Alissa wollte sie in ihre persönlichen Dienste stellen und das war eine Ehre, die man nicht so leichtfertig ablehnte. Außerdem bedeutete es mehr Geld. Mehr Geld für Coly, der dann allein mit seinem Vater in Ryna bleiben würde. War Coly alt genug, um die Situation allein zu meistern?

    Petter überlegte laut.

    »Wenn du die Arbeit annimmst, bekommst du mehr Geld, du hast eine sichere Unterkunft und genießt viele Vorzüge. Zum Beispiel Seife, warme Mahlzeiten und beheizte Zimmer. Allerdings wird Coly allein mit Vater sein. Wenn du die Arbeit ablehnst, wirst du dich weiter um Coly kümmern können, allerdings hast du dann mit deinem Ritt hierher nichts erreicht und zudem die Prinzessin beleidigt.«

    Myra stöhnte. »Petter, ehrlich. Das weiß ich alles. Du sollst mir sagen, was ich tun soll.«

    Es erfüllte ihn gleichermaßen mit Stolz und Furcht, dass seine kleine Schwester seine Hilfe benötigte. Bevor er antworten konnte, kamen jedoch zwei seiner Kameraden der Stadtwache um die Ecke und blieben verdutzt stehen.

    »Petter Jones! Ist das deine Geliebte?«, fragte der eine. Die beiden grinsten, als Petter erschrocken den Kopf schüttelte. »Das war ein Witz, Jones. Bloß ein Witz. Ihr seid einander wie aus dem Gesicht geschnitten. Nun… sie hat wahrlich kleinere Ohren, worüber sie vermutlich nicht gerade unerfreut ist.«

    »Ziegenbart und Mäusepest!«, rief Myra und schien für einen Moment ihre Sorgen vergessen zu haben. »Da habt ihr absolut recht!«

    Leicht verdutzt starrten die beiden Männer Myra an und schienen sich sogleich an ihren eigentlichen Auftrag zu erinnern. »Myra Jones? Wir sollen Euch in die Gemächer der Dienstmädchen führen, um Euch Kleidung und einen Schlafplatz zuzuweisen.«

    Petter dachte blitzschnell nach. »Geh mit ihnen mit«, raunte er ihr leise zu.

    »Was? Ist das dein Ernst?«, fragte Myra entgeistert.

    »Denk an Coly!«

    »Verflucht, Petter! Ich tue doch nichts anderes.«

    »Dann geh mit. Nimm den Job an. Denk daran, wer du bist. Würde Myra Jones sich wirklich so eine Gelegenheit entgehen lassen?«

    Myra grinste ihn an. »Bei Satans fleckigen Unterhosen, das würde sie nicht!« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und folgte den beiden Stadtwächtern dann über den Hof in eine Gasse, die ins Innere der Burg führte.

    Petter blieb einen Moment lang unschlüssig stehen und ließ die Situation auf sich wirken. Er hatte gewusst, dass Myra erneut versuchen würde, vor dem König zu sprechen. Aber dass sie dieses Mal erfolgreich sein würde – und dann noch auf diese Art und Weise – hatte er nicht im schönsten Traum zu hoffen gewagt. Würde sie hier zurechtkommen? Er horchte einen Moment lang und konnte erahnen, dass der Sprecher des Königs gerade einem armen Bauern etwas Land versprach. Dann entschied er, dass er Jonahs altem Posten auf dem Hof noch ein Weilchen fernbleiben konnte, und nahm eine Abkürzung in die Burg zu den Gemächern der Dienstmädchen. Es dauerte nicht lange, bis seine Schwester und die Stadtwächter wieder in seine Hörweite gerieten.

    »Hier sind Eure Gemächer. Helen wird Euch den Rest erklären, Euch Kleidung zuweisen und Euch einarbeiten. Habt Ihr noch Fragen?«

    Helen war eine ältere Frau, die nach eigener Aussage bereits seit Anbeginn der Zeit in der Erdburg schuftete. Sie hatte als Wäscherin angefangen, war dann zur Küchenhilfe aufgestiegen und betreute inzwischen die Gemächer der königlichen Familie und beaufsichtigte die Dienstmädchen. Myras ungewohnt leise Stimme holte Petter aus seinen Gedanken.

    »Werde ich… ich meine, werde ich hierbleiben müssen? Sofort?« Sie dachte an Coly. Natürlich tat sie das.

    »Ihr solltet Eurem kleinen Bruder einen Brief schreiben, Myra Jones. Ihr seid Petters Schwester. Wir werden einen Reiter finden, der Eure Worte überbringt.«

    »Aber…ich kann nicht schreiben und Coly kann nicht lesen.«

    Petter spürte Myras Anstrengung, nicht zu fluchen oder unhöflich zu werden. Die beiden Männer hatten ihr ein nettes Angebot gemacht und sie bemühte sich, ihre Gunst nicht zu verlieren.

    »Ihr habt wahrlich stets noch ein Widerwort, Mädchen. Euer Bruder hatte Recht, als er uns von Euch erzählte. Bittet den ersten Gehilfen des Kochs, Eure Worte niederzuschreiben. Er ist des geschriebenen Wortes

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