Leichte Sprache: Barrierefreie Kommunikation in helfenden und beratenden Berufen
Von Vera Apel-Jösch
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Über dieses E-Book
Ausführlich beleuchtet werden die Handlungsfelder: Soziale Arbeit, Pädagogik, Recht, Verwaltung, Medizin, Pflege, Kultur und Sport.
Barrierefreie Sprache ist elementarer Baustein einer inklusiven Gesellschaft und Bestandteil der UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2006. Sie ist in der Bundesrepublik Deutschland seit 2018 für Teilbereiche des öffentlichen Lebens bereits gesetzlich verpflichtend.
Vera Apel-Jösch
Vera Apel-Jösch, geboren 1959, Volljuristin Selbstständige Trainerin in der Erwachsenenpädagogik Themenschwerpunkte: Kommunikation, Ermutigung, Leichte Sprache, Clownspädagogik Chronisch mit Reisefieber infiziert. Wanderlust.
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Buchvorschau
Leichte Sprache - Vera Apel-Jösch
Über dieses Buch
Sprache als Transportmittel von Information und häufigste Kommunikations- und Interaktionsform bildet die Basis fast aller helfenden Berufe
Spätestens die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006/2009 hat es deutlich gemacht: die Mitgliedsstaaten sind dringend aufgefordert, neben baulichen auch sprachliche Barrieren zu beseitigen. Einige Millionen Menschen in unserem Land stehen vor unüberwindbaren Hürden in der Sprech- und Lesesprache, die ihnen gesellschaftliche Teilhabe an Bildung, Information und Kultur verschließen.
Betroffene der „people first- Bewegung haben sich seit Jahrzehnten auf den Weg gemacht um hier Abhilfe zu schaffen, und es gibt ein aus dieser Betroffenenbewegung heraus geschaffenes festes Regelwerk für die Leichte Sprache. Dieses Buch „Leichte Sprache
will dieses Regelwerk prägnant und mit hoher Praxisrelevanz vorstellen.
Leichte Sprache soll ein verbindendes Element aller Handlungsfelder werden (Gesundheitswissenschaft, Soziale Arbeit, Heilpädagogik, Pflege, Hospiz, Recht) und die unterschiedlichen Professionen und Akteure dieser Handlungsfelder mit den leicht erlernbaren Regeln vertraut machen. Sowohl Mediziner als auch Pflegekräfte, Betreuer, Sozialarbeiter, Heilpädagogen und Hospizkräfte ebnen mit der Nutzung der Leichtsprachlichkeit darauf angewiesenen Klienten den Weg für ein Mehr an selbstbestimmter Partizipation im Gesundheitswesen, in rechtlichen Belangen und in der Pflege. Leichte Sprache schafft so die Voraussetzungen für einen Zuwachs an Teilhabe und Mündigkeit des Patienten/Klienten und damit letztendlich auch für das übergeordnete Inklusionsziel. Neben diesem sozialpolitischen Nutzen findet darüber hinaus im Umgang mit sprachlich eingeschränkten Klienten der längst fällige Paradigmenwechsel statt, der den Klienten wirklich zum Subjekt der medizinischen, juristischen, sozialarbeiterischen oder pflegerischen Betreuung macht.
Leichte Sprache ist im eigentlichen Wortsinne klientenzentriert, im Roger´schen Sinne spiegelt der Helfer die Sprachkompetenz des Klienten. Gelungene interagierende Kommunikation wird sprachlich nur dann möglich, wenn wir zu dieser Spiegelung befähigt sind.
Mit der Nutzung von Leichter Sprache holen wir darauf angewiesene Menschen zurück in das gesellschaftliche Boot von Information, Teilhabe und Bildung. Wir finden so eine Basis für gelingende Kommunikation, und fast immer folgt daraus sehr rasch ein spürbares Empowerment.
Das Buch „Leichte Sprache beleuchtet die rechtliche Situation in Deutschland und führt in die unterschiedlichen „Strömungen
der Leichten Sprache ein. Neben dem Netzwerk Leichte Sprache, das aus der Betroffenenbewegung entstand, hat sich in den letzten Jahren an deutschen Universitäten Forschung zu Leichter Sprache etabliert, welche die akademische (sprich sprachwissenschaftliche) Aufbereitung der Leichten Sprache vorantreibt.
Auch werden in diesem Buch konkrete Handlungsfelder benannt. An vielen Stellen im Gesundheitswesen, in Einrichtungen der Behinderten- und Altenhilfe und im Hospizdienst braucht es konzeptuelle Konkretisierungen. Formulare, Hausordnungen, Einverständniserklärungen, Patientenverfügungen, Einwilligungen in medizinische Eingriffe, Bestattungswünsche, Betreuungsverträge – das Handlungsfeld für die Einführung leicht-sprachlicher Versionen ist riesengroß.
Die Coronapamdemie 2020 hat aktuell massiv verdeutlicht, welche Informationsgefälle es in unserer Gesellschaft gibt. Behindertenverbände mussten leichtsprachliche Coronaregeln erst anmahnen, trotz milliardenschwerer Hilfspakete für die Wirtschaft arbeiteten die besten Übersetzer und Übersetzerinnen ehrenamtlich um Corona-Seiten in Leichter Sprache schnell an die Öffentlichkeit zu bringen. Schüler und SchülerInnen mit Assistenzbedarf blieben bei den Schulschließungen mit Homeschooling außen vor, für die Betreuung zuhause wurde keine Assistenz bezahlt. Sie sehen, es gibt noch viel zu tun.
Zurück zum Buch: Didaktisch arbeitet das Werk mit vielen Beispielen aus der Praxis und einem umfangreichen Anhang, der das komplette Regelwerk der Leichten Sprache abbildet. Immer wieder werden im Text Inhalte zusammengefasst und gegenüber dem Haupttext optisch hervorgehoben.
Es ist mir als Autorin das übergeordnete Anliegen immer wieder leidenschaftlich dafür zu werben, dass Leichte Sprache vermehrt Einzug in unseren gesellschaftlichen Alltag erhält. Leichte Sprache ist ein wesentlicher Bestandteil von gelebter Inklusion und damit menschenrechtsrelevant. Es wäre mir eine Freude, wenn ich Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, anstecken könnte mit dieser Leidenschaft. Lassen Sie uns Verbündete werden für diesen sprachlich niedrigschwelligen Einstieg in Bildung und Informationsgesellschaft. Menschen in helfenden und beratenden Berufen müssen hier Pioniere werden, das schulden wir unserem Menschenbild und unserer Fachlichkeit.
Dieses Buch widme ich meinen Enkelkindern Jona und Lola, beide im Kita-Alter. Sie sind mir stets eine willkommene und liebenswerte Herausforderung um komplizierte Dinge einfach zu erklären.
Quirnbach, im Juli 2020
Vera Apel-Jösch
Über die Autorin: Jahrgang 1959, Volljuristin; Trainerin für interkulturelle Prozessbegleitung; Kommunikationstrainerin; Erwachsenenbildnerin; selbstständige Übersetzerin und Dozentin für Leichte Sprache; NLP-Master (DVNLP); Autorin; Moderatorin; Clownpädagogin und -trainerin für Clowns in der Geriatrie und auf Demenzstationen; Internationale Fachkraft Snoezelen (ISMA-SME); www.apel-joesch.de
Vorwort
Mit diesem Buch von Vera Apel-Jösch schließt sich endlich eine Lücke in den methodischen und konzeptuellen Veröffentlichungen im Bereich der Heilpädagogik und der Sozialen Arbeit. Die von der Autorin ausgewiesene und konsequent verfolgte sozial- und bildungspolitische Begründung zur Leichten Sprache, sowie der didaktische Grundtenor und Grundgehalt beeindrucken hierbei und sind gleichfalls notwendig um die Leichte Sprache nicht nur (diese gleichsam simplifizierend) als Konzept oder als Modell für den „alltagspädagogischen Rucksack" zu nutzen.
Vielmehr kommt es darauf an, aus der Sicht einer konsequenten bildungspolitischen und didaktischmethodisch partizipatorischen Bezugnahme, die Leichte Sprache als Kommunikationsnotwendigkeit und - medium zu verstehen, welches durch ihre auf Normalität und Kommunikation zielende Realisierung eben dieses erreicht: nämlich eine Normalität in der Kommunikation mit Menschen, die nicht über die schwierige Sprache verfügen, beziehungsweise diese nutzen können. Es ist diesem Buch somit eine weite Verbreitung zu wünschen:
nicht nur um die Methode der Leichten Sprache kennen zu lernen und zu erlernen, sondern vielmehr auch um die bildungs- und sozialpolitischen Notwendigkeiten wahrzunehmen, die darin bestehen eine für alle Menschen gleichermaßen verständliche Sprache und Kommunikationsform zu konstellieren und zu nutzen.
Didaktische Hinweise und partizipatorische Möglichkeitsräume gehen in dieser Veröffentlichung von Vera Apel-Jösch somit Hand in Hand und folglich eine gelungene Verbindung ein mit den diese begründenden Annahmen über die sozial- und bildungspolitische, sowie anthropologische Verortung der Leichten Sprache im Kontext der Arbeit und des gemeinsamen Lebens mit Menschen welche als beeinträchtigt gekennzeichnet werden. Ein solchermaßen verstandenes, und hier vorliegendes, Modell zur Leichten Sprache realisiert die Postulate zur (nun auch und erst recht bildungspolitisch zu verstehenden) Inklusion konsequent und in hohem Maße. Auf diesem Hintergrund ist eine Einbindung der Leichten Sprache in den curricularen Verlautbarungen und Programmen sämtlicher Ausbildungen und Studiengänge des Sozial- und Gesundheitswesens zu fordern. Auch hierfür – für das Lehren und Lernen der Leichten Sprache – leistet dieses Buch eine gute Grundlage.
Münster, im Mai 2020
Prof. Dr. Heinrich Greving
Inhaltsverzeichnis
Einführung: Plädoyer für Leichte Sprache
Grundlagen: Was ist Leichte Sprache?
2.1 Beschreibung der Leichten Sprache
2.2 Lesbarkeit
2.3 Verstehbarkeit
2.4 Regelerläuterungen mit Beispielen
2.5 Bebilderung
2.6 Geschlechtergerechtigkeit und Geschlechtsneutralität in der Leichten Sprache
2.7 Leichte Sprache als Instrument der „Enthinderung"
2.8 Ende der Exklusion (Segregation)
2.9 Klientenzentrierte Kommunikation
2.10 Persönliche Erfahrungen mit Prüflesern
2.11 Sprache und Macht
2.12 Prüfsoftware
2.13 Wann ist eine Übersetzung gut?
2.14 Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler
2.15 Abgrenzung zur Einfachen Sprache
2.16 Literatur mit Leseerleichterungen
2.17 Barrierefreiheit im Internet
Für wen ist Leichte Sprache gut?
3.1 Menschen mit Lernbeeinträchtigungen
3.2 Menschen mit einer Behinderung des Hörvermögens
3.3 Menschen mit einer Behinderung des Sehvermögens
3.4 Menschen mit Aphasie
3.5 Menschen mit einer dementiellen Erkrankung
3.6 Funktionale Analphabeten
3.7 Ungeübte Leser und Leserinnen
3.8 Migranten und Migrantinnen
Geschichte und Verbreitung der Leichten Sprache
4.1 Geschichte der Leichten Sprache
4.2 Die Gesetzeslage in Deutschland
4.3 Gesetzestexte und Justiziabilität
4.4 Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern
Konzepte und Methoden
5.1 People First – Mensch zuerst
5.2 Inclusion Europe
5.3 Netzwerk Leichte Sprache
5.4 Forschungsstelle Leichte Sprache Universität Hildesheim
5.5 Universität Hohenheim
5.6 Betroffenenbewegung kontra Akademisierung?
5.7 Leichte Sprache als Erwerbszweig und Geschäftsmodell
Handlungsfelder
6.1 Handlungsfeld Medizin
6.2 Handlungsfeld Recht und Verwaltung
6.3 Handlungsfeld Soziale Arbeit und Pädagogik
6.4 Handlungsfeld Kultur und Sport
6.5 Handlungsfeld Pflege und Hospiz
6.6 Handlungsfeld Alltag
Arbeitsbeispiele und best practice
Perspektiven
Anhang
9.1 Regelwerk der leichten Sprache im Überblick
9.2 Übungsaufgaben
9.3 Logos, Prüfsiegel und Lizenzen
9.4 Abkürzungsverzeichnis
9.5 Literatur- und Quellenverzeichnisverzeichnis
„Nichts ist leichter als so zu schreiben, dass kein Mensch es versteht; wie hingegen nichts schwerer, als bedeutende Gedanken so auszudrücken, dass jeder sie verstehen muss".
Arthur Schopenhauer
1 Einführung: Plädoyer für Leichte Sprache
Erstveröffentlicht: Beitrag Fachtagung Hospiz-Dialog-Nordrhein-Westfalen, Alpha NRW, Hagen 2016; Hospiz-Dialog NRW. Oktober 2016 Ausgabe 69. Sonderausgabe: Hospizkultur und Palliativversorgung in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung; Autorin: Vera Apel-Jösch
Ausgangslage
Franz Kafka wird der nachfolgende Ausspruch zugeschrieben: „Ein Buch muss eine Axt sein für das gefrorene Meer in uns."
Treffend beschreibt der Dichter, welche brachiale Kraft Bücher und damit Worte haben können. Nicht umsonst sprechen wir ja auch von „Wortgewalt", wenn jemand über einen großen Fundus an Wörtern und eloquentem Ausdruck verfügt. Wörter können Eis brechen, Wörter können Brücken bauen und Mauern einreißen.
Aber sie können auch genau das Gegenteil bewirken.
Worte können ebenso eine Barriere sein wie ein zu hoher Bordstein oder eine Treppe für einen Rollstuhlfahrer. Dann nämlich, wenn die Leserin und der Leser oder die Hörerin und der Hörer nicht in der Lage sind, unseren Worten zu folgen, sie zu verstehen oder den Gesamtinhalt eines Textes aufzunehmen. Manchmal scheitert es sogar schon an der bloßen Lesbarkeit. Zu Vieles ist kleingedruckt oder auf durchscheinendem Papier oder mit wenig Kontrast.
Millionen Menschen in unserem Land stehen vor dieser Barriere. Lange blieben sie stumm, klaglos, aus Scham oder Ohnmacht. Spätestens aber seit der UN-Resolution zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen aus dem Jahr 2009 ist es schwarz auf weiß nachzulesen:
Menschen mit einer kognitiven oder anderweitigen Beeinträchtigung muss der gleichberechtigte Zugang zu Informationen ermöglicht werden, sei es durch Blindenschrift, Gebärdendolmetscher oder eben auch durch Leichte Sprache.
Definition
Leider hat sich der Begriff „Leichte Sprache" und das Wissen um seinen Inhalt noch nicht flächendeckend in unserem Kulturraum verbreitet. Leichte Sprache, was ist das? Leichte Sprache ist eine Sprache in einem einfachen Deutsch. Sie zeichnet sich durch ein festes Regelwerk aus und ermöglicht einer großen Anzahl von Menschen, sie zu verstehen. Die Sätze sind kurz, die Schrift ist in einer augenfreundlichen Größe und Gestaltung, Fremdworte werden vermieden oder erklärt. Leichte Sprache ist grammatikalisch korrekt und keine Kindersprache, sie richtet sich an den erwachsenen Menschen.
Zielgruppen
Nutznießer Leichter Sprache sind sehr viele Zielgruppen. Da sind jene Mitbürgerinnen und Mitbürger, die eine Lernbeeinträchtigung haben. Menschen mit einer Lernbeeinträchtigungen sind selten geübte Leser: es ist noch gar nicht so lange her, da traute man Menschen mit einem Down-Syndrom kaum zu, überhaupt Lesen und Schreiben zu lernen.
Fast alle Menschen mit einer Lernbeeinträchtigung können sich nicht sehr lange konzentrieren, und da kommen kurze Sätze und verständliche Worte dem Gehirn sehr entgegen. Eine weitere Zielgruppe der Leichten Sprache sind Menschen mit einer Beeinträchtigung der Sinnesorgane. Der sehbehinderte Mensch oder der Mensch mit einer Sehschwäche profitiert von der großen Schrift und der deutlich verbesserten Lesbarkeit und übersichtlichen Textgestaltung. Menschen mit Gehörlosigkeit oder einer Schwerhörigkeit nützt Leichte Sprache auch. Wenige verfügen über einen elaborierten Wortschatz in der Lesekompetenz. Dazu muss man wissen, dass Gebärdensprache kein Übersetzen wie bei einem Fremdsprachenübersetzer ist. Es gibt nicht die Eins-zueins-Entsprechung mit einer Gebärdenvokabel.
Infolgedessen ist der Wortschatz des hörbeeinträchtigten Menschen auch in der Lesevariante häufig eingeschränkt.
Unser Land ist multikulturell, es gibt Mitbürgerinnen und Mitbürger, die als Sprachanfänger der deutschen Sprache zu uns kommen und von Texten profitieren, die ihrer aktuellen Sprachkompetenz entgegenkommen.
Und dann gibt es noch eine Zielgruppe, die oft verschwiegen wird. Ich spreche von den Menschen, die funktional analphabetisch sind. Will heißen: Ein erschreckend hoher Prozentsatz von Menschen in unserer Gesellschaft – und wir sprechen hier auch über Einheimische – hat eine ganz geringe Lese- oder Schreibkompetenz und damit eine hohe sprachliche Teilhabebarriere. Diese Menschen haben sich schon in der Schule mit Deutsch schwergetan, waren immer wenig literarisiert und verloren nach und nach auch noch diese mühsam erlernten Fähigkeiten. Dieser funktionale Analphabetismus liegt nach einer aktuellen Studie (LEO Studie 2018 - Leben mit geringer Literalität, vorgestellt am 07.05.2019; Rhein-Zeitung vom 08.05.2019) bei etwa 6,2 Millionen Menschen. 6,2 Millionen Menschen in Deutschland verstehen Texte nur auf basalem Niveau. Insgesamt 10,6 Millionen erwachsene Menschen in Deutschland können zusammenhängende Texte zwar verstehen, aber dennoch nicht gut lesen