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Frankenstein in Bagdad
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eBook379 Seiten5 Stunden

Frankenstein in Bagdad

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Über dieses E-Book

Saadawis moderne Adaption des Frankenstein-Stoffes ist eine surrealistisch anmutende Satire über die zerstörerische Gewalteskalation in Bagdad, zu der Saddam Husseins Diktatur, Irakkrieg, US-Intervention und der Bürgerkrieg zwischen den Milizen geführt haben. Der Roman wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und u.a. mit dem renommierten International Prize for Arabic Fiction ausgezeichnet und auf der Shortlist des Man Booker International Prize geführt.
SpracheDeutsch
HerausgeberAssoziation A
Erscheinungsdatum2. Dez. 2019
ISBN9783862416295
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    Buchvorschau

    Frankenstein in Bagdad - Ahmed Saadawi

    Soundso

    Streng vertraulich

    Abschlussbericht

    Erstens: Ergebnisse

    Bezüglich der Tätigkeit des Amtes für Beobachtung und Beurteilung, partiell assoziiert mit der Zivilverwaltung der Streitkräfte der internationalen Koalition im Irak, ist die Sonderkommission unter unserer Präsidentschaft und bestehend aus Repräsentanten der irakischen Sicherheitsund Nachrichtendienste und Beobachtern der amerikanischen militärischen Nachrichtendienste zu folgenden Ergebnissen gelangt:

    1. Am 25. September 2005 wurde aufgrund direkten politischen Drucks von irakischer Seite die Einstellung der Tätigkeit des Amtes für Beobachtung und Beurteilung verfügt, teilweise zum Zwecke der Untersuchung, im Rahmen derer unsere Kommission seinen Direktor, Brigadier Surur Muhammad Madschid, und seine Assistenten vorlud, um sie über den Charakter ihrer Arbeit zu befragen, die sie seit der Bildung der zivilen Koalitionsregierung im April 2003 bis zur Durchführung der Befragung geleistet haben. Dabei wurde deutlich, dass das Amt in Bereichen tätig war, die außerhalb seiner Zuständigkeit lagen, die sich auf Verwaltungsangelegenheiten beschränken sollten, nämlich die Archivierung von Informationen und die Speicherung und Aufbewahrung von Dossiers und Dokumenten. Außerdem wurde deutlich, dass dieses Amt, unter der direkten Leitung des genannten Brigadiers, eine Gruppe von Astrologen und Hellsehern beschäftigt und diesen hohe Gehälter ausgezahlt hat, die aus den irakischen Staatsfinanzen beglichen wurden, nicht von amerikanischer Seite. Gemäß Aussagen von Brigadier Madschid bestand die Aufgabe dieser Personen lediglich darin, zu erwartende gefährliche Sicherheitszwischenfälle in Bagdad und in benachbarten Regionen zu prognostizieren. Unklar blieb der Kommission, in welchem Ausmaß die Prognosen Einfluss auf diese zu erwartenden Sicherheitszwischenfälle hatten oder welchen Nutzen die Tätigkeit brachte.

    2. Die Kommission musste feststellen, dass eine gewisse Anzahl der im genannten Amt archivierten Dossiers von dort hinausgelangten, woraufhin alle dort Tätigen zum Zwecke der Befragung in dieser Sache festgenommen wurden.

    3. Bei der Überprüfung der in genanntem Amt verwendeten Computer fand man heraus, dass Dokumente per E-Mail an eine Person geschickt worden sind, die in einigen Schreiben als »der Verfasser« bezeichnet wird. Während der Untersuchung konnte diese Person identifiziert und danach an ihrem Aufenthaltsort im Hotel Fanar in der Abu-Nuwas-Straße festgenommen werden. Jedoch wurden im Rahmen der Befragung keinerlei Dokumente oder Gegenstände gefunden, die auf eine Verbindung zum Amt für Beobachtung und Beurteilung hingewiesen hätten. Man stieß jedoch bei dem »Verfasser« auf den Text einer Geschichte, die er selbst verfasst und sich dabei Materials bedient hatte, das gewissen Dokumenten aus den Beständen des Amtes für Beobachtung und Beurteilung entstammte.

    4. Besagte Geschichte ist über zweihundert Seiten lang und in siebzehn Kapitel eingeteilt. Nach der Durchsicht des Textes durch Experten aus den Reihen unserer Kommission konnte festgestellt werden, dass er sich keinerlei Gesetzesverletzung schuldig gemacht hat. Jedoch wurde von der Expertenkommission im Sinne einer Vorsichtsmaßnahme die Empfehlung ausgesprochen, den Text zu konfiszieren und den »Verfasser« vor seiner Freilassung eine Verpflichtung unterzeichnen zu lassen, keine dieser Informationen auf irgendeine Weise publik zu machen und diese Geschichte nicht ein weiteres Mal aufzuschreiben.

    Zweitens: Empfehlungen

    1. Die Kommission empfiehlt, Brigadier Surur Muhammad Madschid mit allen seinen Mitarbeitern aus dem Amt für Beobachtung und Beurteilung zu versetzen und besagtes Amt wieder seiner ursprünglichen Arbeit zuzuführen: der Archivierung und Dokumentation. Außerdem sollten die Astrologen und die Hellseher entlassen werden. Darüber hinaus sollte bezüglich der von besagtem Amt während der letzten Jahre begangenen Fehler Stillschweigen bewahrt und die Dokumente über seine Arbeit unter Verschluss gehalten werden.

    2. Nachdem die Kommission ebenfalls festgestellt hat, dass die Angaben, die der »Verfasser« über seine Identität gemacht hat, nicht der Wahrheit entsprechen, empfiehlt sie seine neuerliche Inhaftierung und eine weitere Befragung mit dem Ziel, seine wahre Identität ebenso herauszufinden wie Informationen bezüglich der Arbeit des Amtes für Beobachtung und Beurteilung und die Personen, die mit ihm innerhalb des besagten Amts kollaboriert haben. Dadurch sollte das Ausmaß der Bedrohung, die dieser Vorgang für das Land darstellt, angemessen beurteilt werden können.

    GEZ.: DER PRÄSIDENT DER KOMMISSION

    Erstes Kapitel

    Die Verrückte

    I.

    Die Bombe detonierte gleich nach Abfahrt des Busses, in dem die alte Elischwa, genannt Umm Daniel, oder Daniels Mutter, saß. Alle Fahrgäste drehten sich um und starrten entsetzt auf die gewaltige, pechschwarze Rauchwolke, die vom Parkplatz am Rand des Tajaran-Platzes mitten in Bagdad aufstieg. Junge Männer rannten zur Unglücksstelle, mehrere Autos prallten aufeinander und stießen an den Bordstein der Verkehrsinsel. Die Fahrer, erschrocken und verwirrt, fanden sich in einer Kakophonie aus Gehupe, Geschrei und Hilferufen wieder.

    Später erzählten die Frauen in Gasse Nr. 7, ihre Nachbarin Elischwa sei wie jeden Sonntagmorgen zum Gottesdienst in die Kirche des Heiligen Odischo in der Nähe der Technischen Universität aufgebrochen, und deshalb hätte sich die Detonation ereignet. Viele glaubten, diese Frau verfüge über eine besondere, segensreiche Kraft, die alles Unheil von ihnen abwende, solange sie sich in ihrer Nähe befände.

    Elischwa saß im Bus, völlig in sich versunken, wie taub, ja, wie nicht existent, als habe sie die schreckliche Detonation nicht gehört, die sich keine zweihundert Meter hinter ihr ereignet hatte. Eingeigelt hockte sie auf ihrem Platz am Fenster, schaute hinaus, ohne etwas zu sehen, und sinnierte über den bitteren Geschmack in ihrem Mund und die düstere Stimmung, die seit Tagen wie ein schwerer Klotz auf ihrer Brust lastete.

    Die Eucharistie am Ende der Messe würde diesen Geschmack hoffentlich vertreiben, und die Stimmen ihrer Töchter und Enkel am Telefon würden die Finsternis lichten und etwas Helligkeit vor ihre umwölkten Augen bringen. Im Allgemeinen wartete Pater Josua auf das Klingeln seines Handys, um ihr dann mitzuteilen, Matilda sei dran. Manchmal, wenn sich Matilda nicht pünktlich meldete, wartete sie eine Stunde lang und bat dann den Pater, Matildas Nummer zu wählen. Das wiederholte sich so seit mindestens zwei Jahren Sonntag für Sonntag. Zuvor waren die Anrufe ihrer Töchter in unregelmäßigen Abständen über den Festnetzapparat der Kirche gekommen. Doch nach dem amerikanischen Raketenangriff auf die Telefonzentrale von Alawija und dem darauf folgenden Einmarsch in Bagdad, samt monatelanger Unterbrechung der Telefonverbindungen und der Verwandlung der Stadt in einen todverpesteten Ort, verspürten ihre Töchter das Bedürfnis, sich allwöchentlich zu erkundigen, wie es der alten Frau ging. Nach einigen schwierigen Monaten lief die Verbindung über das Satellitentelefon, das eine humanitäre Organisation aus Japan Josua, dem jungen Pater der assyrischen Kirche, geschenkt hatte. Später, als Handys aufkamen, kaufte sich auch Josua eines, und fortan wurden die Gespräche mit diesem geführt. Nach der Messe standen die Gemeindemitglieder Schlange und warteten darauf, die Stimmen ihrer Söhne und Töchter zu hören, die über den ganzen Erdball verstreut waren. Häufig kamen auch andere Leute aus dem Viertel, Christen anderer Gemeinschaften, und auch Muslime, um gratis mit ihren Verwandten im Ausland zu telefonieren. Als sich dann immer mehr Leute Handys anschafften, ließ das Interesse an Pater Josuas Telefon nach. Nur die alte Elischwa hielt am sonntäglichen Ritual fest. Sie nahm das kleine Nokia-Telefon in ihre dürre, geäderte Hand, legte es ans Ohr, und sobald sie die vertrauten Stimmen ihrer Töchter hörte, löste sich die Finsternis auf und ihre Seele fand Ruhe.

    Wäre sie gleich am Nachmittag zum Tajaran-Platz zurückkehrt, hätte sie alles so ruhig vorgefunden, wie sie es am Morgen verlassen hatte. Die Gehsteige wären sauber gewesen, die verbrannten Autos weggeräumt, die Toten hätte man in die Gerichtsmedizin und die Verwundeten ins Kindi-Krankenhaus gebracht. Da und dort würden noch ein paar zerschlagene Flaschen herumliegen, würde eine übelriechende Rauchsäule aufsteigen. Ein paar kleine oder größere Löcher im Straßenbelag und andere Spuren des Anschlags würde sie wegen ihres vernebelten Blicks nicht sehen oder nicht zur Kenntnis nehmen.

    Nach dem Ende der Messe wartete Elischwa noch eine Stunde. Sie setzte sich in den an die Kirche angrenzenden Gemeindesaal, und als die Frauen die Platten mit dem mitgebrachten Essen auf den Tisch gestellt hatten, trat sie dazu und aß mit allen anderen, um sich zu beschäftigen. Pater Josua unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, Matilda zu erreichen. Aber es gab keine Verbindung. Vielleicht hatte Matilda ihr Telefon verloren oder es war ihr von jemandem auf der Straße oder in einem Supermarkt in Melbourne, wo sie wohnte, gestohlen worden. Und wahrscheinlich hatte sie es versäumt, sich Pater Josuas Nummer separat zu notieren – jede Erklärung schien gut genug. Der Pater konnte sich keinen Reim darauf machen, redete aber weiter mit Elischwa, um sie zu trösten. Als sich die anderen allmählich auf den Heimweg machten, bot der Mesner, Nadir Schamoni, an, sie in seinem alten Wolga nach Hause zu fahren. Nun war schon die zweite Woche ohne Telefonanruf vergangen. Nicht, dass sie eine reißende Sehnsucht verspürte, die vertrauten Stimmen zu hören. Es war eher eine Gewohnheit, und noch etwas anderes, noch Wichtigeres. Ihren beiden Töchtern konnte sie von Daniel erzählen. Sonst hörte ihr niemand richtig zu, wenn sie von ihrem Sohn sprach, den sie vor zwanzig Jahren im Krieg verloren hatte – nur ihre beiden Töchter und der heilige Georg, der Märtyrer, für dessen Seele sie betete und den sie für ihren ganz persönlichen Heiligen hielt. Vielleicht auch noch Nabo, ihr alter Kater mit dem ausfallenden Fell, der meistens schlief. Sogar die Frauen in der Kirche verhielten sich abweisend, wenn sie von ihrem Sohn zu erzählen begann. Nie gab es etwas Neues. Ständig wiederholte sie die gleiche Geschichte. Auch mit den Nachbarinnen ging es ihr so. Einige erinnerten sich nicht einmal mehr, wie Daniel ausgesehen hatte, obwohl sie ihn gekannt hatten. Letztlich war er nur einer von unzähligen Toten, die im Laufe der Jahre ihre Erinnerung füllten. Und über die Jahre verschwanden viele von denen, die früher einmal die bizarre Überzeugung bestätigt hatten, ihr Sohn, dessen leerer Sarg auf dem Friedhof der assyrischen Ostkirche beigesetzt worden war, lebe noch.

    Über dieses Hirngespinst redete Elischwa mit niemandem mehr. Sie wartete einfach darauf, die Stimme von Hilda oder Matilda am Telefon zu hören, die das Geplapper ihrer Mutter ertrugen, ganz gleich wie seltsam es ihnen auch vorkam. Die Töchter begriffen, dass die Erinnerung an den verstorbenen Sohn für ihre Mutter eine Überlebenshilfe war, nichts weiter. Das brauchte man nicht mit ihr zu diskutieren, man konnte einfach ja und Amen sagen.

    Nadir Schamoni fuhr sie bis an den Zugang zu Gasse Nr. 7 in Batawin, nur wenige Schritte von ihrer Haustür entfernt. Alles war ruhig. Der Todestanz war seit vielen Stunden zu Ende, doch seine Spuren waren noch deutlich sichtbar. Vielleicht war es die bisher stärkste Detonation in der Gegend gewesen. Der alte Mesner fühlte sich beklommen. Wortlos hielt er neben einem Elektromast, an dem Blutspritzer und Büschel von Kopfhaaren klebten. Menschliche Überbleibsel nur ein paar Handbreit von seiner Nase und seinem dichten, weißen Schnurrbart entfernt.

    Elischwa stieg aus und grüßte wortlos zum Abschied mit der Hand. In der stillen Gasse hörte sie nur ihre eigenen schweren Schritte auf den Steinen und dem herumliegenden Abfall. Sie legte sich eine Antwort für Nabo zurecht, der sicher hinter der Haustür lauerte und zu ihr aufblickte, als wollte er sie fragen: »Nun, was gibt’s Neues?«

    Wichtiger noch, legte sie sich einen Tadel für ihren Fürsprecher zurecht, den heiligen Georg, der ihr am Abend zuvor eines von drei Dingen versprochen hatte: Sie würde eine erfreuliche Nachricht erhalten, sie würde Ruhe finden und ihre Qual würde enden.

    2.

    Im Gegensatz zu vielen anderen glaubte Umm Salim, Elischwas Nachbarin, allen Ernstes, diese alte Frau sei eine Gesegnete, die Hand des Barmherzigen liege auf ihrer Schulter, wo immer sie gehe und stehe. Sie konnte viele Vorkommnisse anführen, die das bestätigten, und auch wenn sie die Alte hin und wieder kritisierte oder schlecht von ihr dachte, war das immer nur für einen Moment lang. Wenn sie mit ihr und anderen Frauen aus der Gasse in ihrem schattigen Hof zusammensaß, breitete sie ihr einen aus Stoffresten geflochtenen Teppich aus, stützte sie mit zwei Baumwollkissen, eines von rechts und eines von links, ab, und schenkte ihr mit eigener Hand Tee ein. Dabei war sie voll des Lobes über sie.

    Zuweilen übertrieb sie ein wenig, wenn sie erklärte, ohne ein paar von Gott gesegnete Bewohner, darunter Umm Daniel, hätte Gott das Viertel schon längst vom Erdboden verschwinden lassen. Doch diese tiefe Überzeugung glich dem Rauch der Wasserpfeife, die sie sich während der Plaudernachmittage zu Gemüte führte. Er stieg auf, waberte in dicken, weißen Schwaden, die sich rasch wieder auflösten, über dem Hof, bevor sie hinaus in die Gasse gelangten, wo viele in der alten Elischwa nichts weiter als eine tüdelige, vergessliche Greisin sahen. Nicht einmal die Namen der Männer hier könne sie sich merken, obwohl sie einige von ihnen schon ein halbes Jahrhundert kannte. Mitunter schaue sie sie völlig entgeistert an, als wären sie aus dem Nichts im Viertel aufgetaucht.

    Umm Salim und einige gutherzige Frauen, die sich eifrig um Elischwa bemühten, waren immer wieder aufs Neue verzweifelt, wenn diese deutliche Hinweise auf ihren Altersschwachsinn lieferte, indem sie seltsame, bizarre Vorfälle aus ihrem Leben erzählte, die kein vernünftiger Mensch glauben konnte.

    Manche spotteten darüber, doch Umm Salim und ihre Freundinnen bedrückte es. War doch eine aus ihrem Kreis dabei, ans andere, finstere Ufer hinüberzuwechseln. Was nichts anderes hieß, als dass sie alle sich diesem unheimlichen Ufer einen weiteren Schritt näherten.

    3.

    Es gab vor allem zwei Männer im Viertel, die nicht im Geringsten davon überzeugt waren, dass Elischwa etwas Besonderes an sich hatte. Für sie war sie einfach nur eine hoffnungslos verrückte Alte. Einer der beiden war Faradsch, Makler und Inhaber des Immobilienbüros Rasul in der Hauptgeschäftsstraße in Batawin. Der andere war der Trödler Hadi, ihr Nachbar, der in einem halb zusammengefallenen Haus direkt neben ihr hauste.

    Faradsch hatte während der vergangenen Jahre Elischwa immer wieder erfolglos zu überreden versucht, ihr altes Haus zu verkaufen. Sie weigerte sich einfach, ohne irgendwelche Gründe zu nennen. Was bewog eine alte Frau wie sie bloß dazu, allein mit einem Kater in einem Haus mit sieben Zimmern zu wohnen?, fragte sich der Makler. Warum tauschte sie es nicht gegen eine kleinere Wohnung, in die mehr Licht und Luft strömte? Außerdem hätte sie dadurch etwas Geld und könnte ihre noch verbleibenden Tage genießen.

    Faradsch erhielt nie eine befriedigende Antwort. Auch der Trödler, ein Mann in den Fünfzigern, heruntergekommen, ungepflegt und ständig nach Alkohol stinkend, drängte sie, ihm die alten Möbel und Antiquitäten zu verkaufen, mit denen ihr Haus vollstand: zwei mächtige Pendülen, mehrere Teakholztische unterschiedlicher Größe, Teppiche, Decken, mehr als zwanzig kleine, über das ganze Haus verteilte handtellergroße Statuetten der Jungfrau mit dem Kind aus Gips und Elfenbein und vieles andere, das richtig in Augenschein zu nehmen und zu registrieren der Trödler nie Gelegenheit gehabt hatte.

    »Wozu brauchst du den alten Kram, der zum Teil aus den Vierziger-Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammt? Wieso verkaufst du ihn nicht und machst es dir mit dem Putzen und Abstauben leichter?«, fragte der Trödler einmal und verschlang dabei ihr Mobiliar mit seinen Augen. Doch die alte Frau schob ihn mit Nachdruck und ohne ein weiteres Wort zur Tür. Sie drängte ihn hinaus und schloss hinter ihm ab. Es war das einzige Mal, dass er Elischwas Haus von innen sah. Und er behielt es als eine Mischung aus Kuriositätenkabinett und Antiquitätenlager in Erinnerung.

    Beide Männer setzten ihre Versuche fort, doch da das Auftreten des Trödlers zumeist völlig ungehobelt war, stieß er mit seinen Bemühungen auch bei den Nachbarn und Bekannten auf keine Sympathie. Der Makler dagegen versuchte mehrfach, die Frauen aus dem Umfeld von Umm Daniel für sich einzuspannen. Von Veronika Munib, der armenischen Nachbarin, die manchmal bei Umm Salims Teekränzchen dabei war, hieß es, Faradsch habe sie bestochen, damit sie Elischwa vorschlug, zu Umm Salim und ihrem alten Ehemann zu ziehen. Auch mit Umm Salim und anderen hatte er gesprochen. Faradsch gab die Hoffnung nicht auf. Hadi dagegen machte sich immer wieder auf der Straße mit seinem Vorschlag direkt an die alte Frau heran. Da sie jedoch nicht darauf einging, hörte er irgendwann damit auf und beschränkte sich darauf, ihr im Vorübergehen verächtliche Blicke zuzuwerfen.

    Elischwa beließ es nicht bei der bloßen Ablehnung der Angebote. Sie bedachte die beiden Männer mit ihrem Hass. Sie wünschte sie auf den Grund der ewigen Hölle und sah in ihnen zwei habgierige Gestalten mit schmutzigen Seelen – untilgbare Tintenflecke auf einem billigen Teppich.

    Der Liste derer, die Elischwa hasste und verfluchte, könnte man noch den Barbier Abu Saidun hinzufügen. Er war der Parteimensch, der ihren Sohn am Kragen ins Unbekannte geschleppt hatte. Er war schuld daran, dass sie ihren Sohn Daniel verloren hatte. Doch Abu Saidun hatte sie seit Langem nicht gesehen. Sie hatte ihn schon vor vielen Jahren aus den Augen verloren, und niemand sprach in ihrer Gegenwart über ihn. Seit er die Partei verlassen hatte, quälten ihn zahlreichen Leiden, die ihm keine Zeit mehr ließen, sich um die Angelegenheiten im Viertel zu kümmern.

    4.

    Als die Bombe auf dem Tajaran-Platz detonierte, war Faradsch zu Hause. Drei Stunden später, gegen zehn Uhr morgens, öffnete er die Tür seines Immobilienbüros und bemerkte die Risse in der großen Scheibe des Vorderfensters. Er verfluchte sein Unglück, obwohl er entlang der Straße viele zerschlagene Scheiben und zahlreiche beschädigte Schaufenster gesehen hatte. Abu Anmar, der Inhaber des al-Uruba-Hotels auf der gegenüberliegenden Straßenseite, stand in seiner Dischdascha völlig entgeistert auf dem Trottoir, inmitten von Glassplittern. Die Detonation hatte die oberen Fenster seines alten, in die Jahre gekommenen Hotels zerstört.

    Faradsch kümmerte sich nicht um Abu Anmar, auf dessen Gesicht sich die Spuren seines Schockzustands abzeichneten. Er hegte keinerlei Sympathie für den Hotelier, und zwischen ihnen gab es keine persönlichen Kontakte. Sie standen sich auf entgegengesetzten Seiten gegenüber wie unerklärte Rivalen. Abu Anmar hatte, wie viele Hotelbesitzer in Batawin, von Arbeitern, Studenten und Leuten aus der Provinz gelebt, die Krankenhäuser und Arztpraxen in der Gegend aufsuchten. Doch da die meisten der ägyptischen und sudanesischen Migrationsarbeiter im Verlauf des letzten Jahrzehnts weggezogen waren, mussten sich die Hotels mit wenigen Dauergästen als Hauptkunden begnügen: Fahrer von Überlandbussen, Angestellte und Arbeiter, die in den Restaurants in Bab al-Scharki und der Saadun-Straße, den Schusterwerkstätten, auf dem Trödelmarkt oder den wenigen kleinen Fabriken arbeiteten, und ein paar Studenten, die den Studentenwohnheimen entkommen wollten. Doch auch von ihnen verschwanden die meisten nach der amerikanischen Invasion im April 2003, und viele der Hotels blieben praktisch leer. Mitten in dieser Krise tauchte dann plötzlich Faradsch, der Makler, auf und versuchte, sich der noch verbliebenen potentiellen Kunden von Abu Anmar und anderen Inhabern kleiner und mittelgroßer Hotels zu bemächtigen.

    Faradsch nutzte die chaotischen Zustände und das Fehlen jeglicher Staatlichkeit und riss sich zahlreiche Häuser mit unklaren Eigentumsverhältnissen unter den Nagel. Diejenigen, die sich dazu eigneten, baute er zu billigen kleinen Gästehäusern um und vermietete sie zimmerweise an Arbeiter und Leute, die aus den Provinzen kamen, oder an Familien aus den benachbarten Vierteln, die vor konfessionellen Auseinandersetzungen oder alten Blutfehden geflohen waren, die nach dem Verschwinden des früheren Regimes wieder aufflammten.

    Abu Anmar konnte nichts anderes tun als jammern und klagen. Er war selbst in den 1970er-Jahren aus dem Süden zugewandert und besaß in der Hauptstadt weder Verwandte noch Freunde, die ihm hätten helfen können. Früher einmal hatte er sich auf die Autorität der Regierung stützen können. Faradsch dagegen verfügte über Verwandte und Bekannte in großer Zahl, auf die er sich nach dem Verschwinden des Regimes stützen konnte, mit deren Hilfe er seine Autorität ausübte und sich bei allen Respekt verschaffte. Er behauptete, seine Übernahme der verlassenen und aufgegebenen Häuser sei vollkommen legal, obwohl alle wussten, dass er keinerlei Papiere besaß, die ihn als Eigentümer der Liegenschaften oder als Pächter des Staats hätten ausweisen können.

    Faradsch konnte seinen wachsenden Einfluss auch gegenüber der alten Elischwa ins Feld führen. Er hatte ihr Haus nur zweimal von innen gesehen und war sofort davon angetan. Höchstwahrscheinlich war es von irakischen Juden gebaut worden, darauf deutete seine Architektur hin: ein Innenhof, umgeben von mehreren Zimmern auf zwei Stockwerken, mit einem Keller unter einem der Räume, die zur Gasse hin lagen. Eine von geriffelten Holzsäulen getragene Galerie vor den Zimmern im Obergeschoss bildete zusammen mit dem Eisengeländer mit seinen eingelegten Holzpfosten ein hübsches Ensemble. Typisch waren auch die zweiflügeligen Holztüren mit eisernen Riegeln und Schlössern und die Holzfenster mit dunklen Eisenstäben und farbigem Glas. Der Boden war mit prächtigen Ziegelplatten ausgelegt und die Zimmer waren mit kleinem schwarzweißen, schachbrettartig angeordneten Fliesenmosaik ausgekleidet. Der Hof war nach oben offen, die Öffnung war früher mit einem weißen Tuch überspannt, das man im Sommer wegnahm, das es aber jetzt nicht mehr gab. Das ganze Haus sah nicht mehr so aus wie früher, doch es war immer noch solide und die Feuchtigkeit hatte ihm noch nicht so zugesetzt wie anderen Häusern in der Gasse. Der Keller war irgendwann zugeschüttet worden, aber das war nicht von Bedeutung. Für Faradschs Vorhaben am ärgerlichsten war ein völlig eingestürztes Zimmer im oberen Stock. Viele Ziegel waren heruntergefallen und häuften sich an der Mauer des fast gänzlich zerstörten Nachbargebäudes, in dem der Trödler Hadi hauste. Auch das Bad im oberen Stock war kaputt. Für Restauration und Reparatur würde Faradsch einiges Geld aufbringen müssen. Aber es wäre die Sache wert.

    Hin und wieder dachte er, diese alleinstehende, schutzlose alte Christin aus dem Haus zu werfen wäre eine Kleinigkeit und innerhalb einer halben Stunde erledigt. Aber eine innere Stimme warnte ihn vor einer solchen Ungesetzlichkeit, die viele Leute vor den Kopf stoßen würde. Ein solch niederträchtiges Vorgehen könnte der Tropfen sein, der das Zornesfass ihm gegenüber zum Überlaufen brächte. Lieber sollte er warten, bis sie starb. Dann hätte niemand außer ihm den Mut, das Haus zu betreten, von dem alle wussten, dass er ein Auge darauf geworfen hatte. Niemand würde etwas dagegen einwenden, dass es in seinen Besitz überging.

    »Gooott beschüüütze diiich!«, rief Faradsch weithin hörbar über die Straße Richtung Abu Anmar, wobei er die Laute in die Länge zog. Er sah, wie Abu Anmar die Hände gen Himmel hob, wie zum Gebet, als wollte er ein Amen auf die frommen Worte des Maklers setzen. Vielleicht rief er auch wirklich Gott an, bat ihn aber, den da drüben zu sich zu nehmen, diesen raffgierigen Schleimer, den das Schicksal hierhergeführt hatte und der ihm nun ständig gegenüberstand.

    5.

    Elischwa vertrieb den Kater vom Sofa in der Wohnstube und wischte mit der Hand seine Haare weg, die sie in Wirklichkeit gar nicht sehen konnte. Doch wenn sie ihm mit der Hand über den Rücken fuhr, bemerkte sie, dass er ständig Haare verlor. Das war ihr überall gleichgültig, nur nicht an ihrem Stammplatz auf dem Sofa gegenüber dem Bildnis des heiligen Georg, das zwischen zwei kleineren grauen Bildern in geschnitztem Holzrahmen hing: demjenigen ihres Sohnes und demjenigen ihres Mannes. Es gab noch zwei Bilder in gleicher Größe. Auf einem war das Abendmahl zu sehen, auf dem anderen die Kreuzabnahme Jesus. Außerdem drei Miniaturen, Tintenkopien von mittelalterlichen Ikonen. Einige der dargestellten Kirchenheiligen, die vor vielen Jahren von ihrem Mann aufgehängt worden waren, kannte sie nicht einmal dem Namen nach, einige im Salon, einige in ihrem Schlafzimmer, einige in Daniels verschlossenem Zimmer und einige verteilt in den unbenutzten Zimmern.

    Hier saß sie fast jeden Abend, um ihren fruchtlosen Dialog mit dem heiligen Märtyrer aufzunehmen, der trotz seines Engelsgesichts nicht sehr spirituell auftrat. Er trug eine schwere silberne Rüstung, die seinen ganzen Körper bedeckte, einen federbuschgekrönten Helm, unter dem sein dichtes, blondes Haar hervorquoll, und hielt eine spitze Lanze in die Luft. Diese Kriegergestalt saß auf einem kräftigen Schimmel, der sich mit angewinkelten Vorderbeinen aufbäumte, um dem Maul eines gefräßigen Drachen auszuweichen, der in einer Ecke des Bildes auftauchte und offenbar Hengst und Heiligen samt allen kriegerischen Accessoires verschlingen wollte.

    Elischwa ignorierte die verwirrenden Einzelheiten. Sie setzte die Brille mit den dicken Gläsern auf, die ihr um den Hals hing, und betrachtete das ruhige Engelsgesicht, das keinerlei Emotionen zeigte. Der Heilige war weder zornig noch verzweifelt, weder träumerisch noch glücklich. Er erfüllte nur in göttlicher Ergebenheit seine Aufgabe.

    Elischwa genügte es nicht, ihren Fürsprecher einfach nur zu betrachten. Sie behandelte ihn wie einen Verwandten, wie ein Mitglied dieser zerrissenen und zerstreuten Familie, das einzige Wesen, das bei ihr geblieben war, neben Kater Nabo und dem Geist ihres Sohnes Daniel, der sicher eines Tages zurückkehren würde. Andere hielten sie für eine einsame Frau, doch sie selbst glaubte fest, dass sie mit drei Wesen zusammenlebte, drei Geistern mit solcher Macht und Präsenz, dass sie keinen Grund hatte, sich einsam zu fühlen.

    Elischwa war wütend, weil ihr Fürsprecher keines seiner drei Versprechen eingelöst hatte, Versprechen, die sie ihm nach Nächten tränenreichen Bittens und Bettelns abgerungen hatte. Sie war sicher, dass ihr nicht mehr viel Zeit auf Erden blieb, und sie wollte ein Zeichen ihres Herrn über das Schicksal ihres Sohnes: Lebte er und würde zurückkehren, oder war er tot? Im letzteren Fall erführe sie gern, wo er begraben war, wo seine sterblichen Überreste ruhten. Sie war bereit, ihren Fürsprecher herauszufordern, wollte ihn beim Wort nehmen, aber sie wartete auf den Einbruch der Nacht. Bei Tageslicht sah das Bild des Heiligen nur aus wie irgendein Bild, leb- und bewegungslos. Bei Nacht jedoch tat sich ein Tor auf zwischen ihrer Welt und der anderen. Der Herr stieg herab, nahm in der Figur des Heiligen Gestalt an und sprach durch ihn zu diesem verzweifelten Schaf, das die Herde nach und nach verlassen hatte und das schon fast in den gähnenden Schlund des Glaubenszweifels gefallen war.

    Bei Nacht im Schein der Öllampe sah sie das wellige alte Bild hinter dem matten Glas. Aber sie sah auch die Augen und das schöne, weiche Gesicht des Heiligen. Nabo, irritiert maunzend, verließ das Zimmer. Die Haltung des Heiligen blieb unverändert, sein langer Arm hielt noch immer die Lanze in die Höhe, doch plötzlich waren seine Augen auf sie gerichtet und sein Blick traf sie.

    »Du bist ungeduldig, Elischwa. Ich habe dir gesagt, der Herr wird deiner Seele Ruhe geben und deiner Qual ein Ende setzen; oder du wirst Nachrichten hören, die dich frohlocken lassen. Doch niemand kann dem Herrn den rechten Zeitpunkt vorschreiben.«

    Damit begann eine halbstündige Debatte zwischen Elischwa und dem Heiligen, dessen weiche Gesichtszüge sich danach wieder verhärteten, dessen träumerischer Blick als Zeichen der Erschöpfung durch dieses fruchtlose Gespräch wieder erstarrte. Elischwa sprach vor dem großen Holzkreuz in ihrem Schlafzimmer noch ihre üblichen Gebete und vergewisserte sich, dass Nabo auf dem kleinen Teppich mit dem Tigermuster lag. Danach ging sie

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