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Der letzte Turm vor dem Niemandsland
Der letzte Turm vor dem Niemandsland
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eBook364 Seiten4 Stunden

Der letzte Turm vor dem Niemandsland

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Über dieses E-Book

Fantasyguide – das Crossoverzine – steht für Abwechslung. Die dritte Anthologie bietet sechzehn Geschichten aus sechs Genres. Ob humorvoll oder spannend, düster oder sozialkritisch, in jedem Fall unterhaltsam.
Nur die Geschichte zählt.

Herausgeber und Verleger haben sich gemeinschaftlich entschieden, die Veröffentlichung dieser Anthologie dem Gedenken an Christian Weis (1966–2017), der mit einer seiner letzten Geschichtenveröffentlichungen vertreten ist, zu widmen.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum9. Jan. 2018
ISBN9783957659521
Der letzte Turm vor dem Niemandsland

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    Buchvorschau

    Der letzte Turm vor dem Niemandsland - p.machinery

    4

    Vorwort

    Der Fantasyguide wurde Anfang des Jahrtausends von Chris Weidler ins Leben gerufen. Auch wenn das lange her ist, hat sich an dem Konzept nichts geändert. Der Fantasyguide ist ein Crossover-eZine und widmet sich allen Spielarten der Fantastik. Und nebenbei auch allen Erscheinungsformen, egal, ob es sich um Buch, Spiel oder Film handelt.

    Seit einiger Zeit ist Ralf Steinberg der Betreiber des Fantasyguide, aber das Konzept ist gleich geblieben. Die Welt, gerade die virtuelle, ändert sich rasant, doch der Fantasyguide bleibt ein Fels in der Brandung. Unverrückbar in seinen Grundsätzen, konstant im Design und bemüht, den stetig wachsenden Inhalt nutzbringend online zu halten.

    Im Kern bleibt die Hauptsache ja auch unverändert. Mag sich die fantastische Literatur im Wandel befinden und sich mal in die eine, mal in die andere Richtung entwickeln, hier und da die zu eng gewordene Fessel sprengen, bleibt am Ende doch immer das fantastische Element im Zentrum unserer Interessen.

    2010 brachten wir die erste Sammlung mit Kurzgeschichten heraus, die dem Kompass des Fantasyguide folgten. Quer durch alle Genres sammelten wir Geschichten, manche neu, andere als Wiederveröffentlichungen und das Ergebnis, »Der wahre Schatz«, erschien bei p.machinery, dem Verlag für fantastischen Geschichten.

    2014 folgte der zweite Band. Diesmal konzentrierten wir uns auf Science-Fiction-Storys, aber auch hier legten wir Wert darauf, die volle Bandbreite des Genres zu präsentieren. Zwei Geschichten wurden für den renommierten Kurd-Laßwitz-Preis nominiert, was uns bewies, dass wir bei der Auswahl richtig lagen.

    Mit dem vorliegenden Band kehren wir wieder zu den Wurzeln zurück und scheren uns diesmal nicht um das Genre. Die Geschichte steht im Mittelpunkt und so banden wir in »Der letzte Turm vor dem Niemandsland« einen bunten Strauß von Storys zusammen, die den Leser hoffentlich träumen, schwärmen, schmunzeln oder gar fürchten lassen. Nur eines wollen wir nicht: langweilen!

    Wenn wir Ihren Nerv getroffen haben, Sie sich gut unterhalten fühlten oder auch wenn Ihnen unser Büchlein nicht ganz so gut gefallen haben sollte – scheuen Sie sich nicht, es uns wissen zu lassen. Wir freuen uns über Rückmeldungen an brieftaube@fantasyguide.de. Oder besuchen Sie direkt den Fantasyguide und hinterlassen Sie eine Nachricht im Gästebuch oder im Forum.

    Bis dahin verbleiben wir mit fantastischen Grüßen,

    Ihr Fantasyguide-Team

    Uwe Hermann: Der letzte Turm vor dem Niemandsland

    Die Truhe des Magiers

    Seit Ewigkeiten jagte ich einem weiß geschuppten Drachen hinterher, ohne ihn einholen zu können. Das Tier flog ständig über mir und rastete nur, wenn auch ich schlief. Es wusste, dass ich es verfolgte, und jetzt, wo es endlich müde wurde, hörte ich diesen Ruf.

    »Hilfe!«

    Ich hielt mein Pferd an und lauschte. Die Stimme kam aus einem Laubwald, keine dreißig Meter von der Straße entfernt.

    Über mir verschwand der alte Drache hinter einer Wolkenwand. In der Nähe würde er landen, sich eine Schafherde suchen, und anschließend an einem Fluss sein Nickerchen machen.

    Der Hilferuf wiederholte sich und klang so kläglich wie der einer ertrinkenden Katze. Mein Blick wanderte den Waldrand entlang. Ich sah keine Menschenseele. Ein Trampelpfad, breit genug für einen Reiter, führte von der Straße aus in den Wald hinein. Obwohl sich dort ein Mensch – zumindest der Stimme nach identifizierte ich ihn als solchen – in Gefahr befand, zögerte ich hineinzureiten. Ich musste meine Aufgabe erfüllen. Eine Prinzessin wartete darauf, dass ich mit dem Kopf des Drachens zurückkehrte und wir endlich heiraten konnten. Doch freiwillig würde das Tier ihn mir nicht geben. Mir wurde übel vor Sorge. Warum nur war ich auf das Angebot ihres Vaters eingegangen? Ich hörte noch immer seine Stimme: »Wer mir den Kopf des Drachens bringt, bekommt meine Tochter und das halbe Königreich.« Dabei hatte er verschmitzt gegrinst. Bevor einer der Mitbewerber etwas sagen konnte, war ich aufgesprungen und hatte dem König meine Dienste angeboten. Erst später wurde mir klar, dass außer mir niemand so dumm gewesen war.

    »Bitte! Wenn mich jemand hört, kommt und rettet meine arme Seele!«

    Andererseits konnte meine Geliebte sicher noch etwas warten. Ich lenkte mein Pferd den Trampelpfad entlang in den Wald hinein.

    Der Hilfesuchende musste den Hufschlag gehört haben, denn seine Rufe wurden lauter: »Hallo? Da ist doch wer? Bitte, ich brauche Hilfe!«

    Die Stimme kam aus einem mit Ästen und Blättern abgedeckten Erdloch in der Mitte des Pfades. Darin hockte ein hagerer Mann mit einer Glatze und einem langen, zotteligen Bart. Um ihn herum hüpfte mindestens ein Dutzend Kröten.

    Der Mann sah mich und sprang von einer eisenbeschlagenen Eichenkiste auf. »Endlich! Ich dachte schon, ich müsste den Rest meiner Tage in diesem Erdloch verbringen.« Er schaute argwöhnisch zu mir hinauf. »Du bist doch keiner von den Halunken, die diese Grube ausgehoben haben?«

    Ich schüttelte den Kopf und legte meine Hand auf den Knauf meines Schwertes. »Und du? Bist du einer von ihnen?«

    Er riss empört seine Augen auf. »Ich bin Magnus, angehender Magier der Eisernen Stadt. Ich habe es nicht nötig, Bürger auszurauben.« Er trat an den Rand der Grube. Einige Kröten brachten sich eilig in Sicherheit. »Kannst du mich herausziehen?«

    »Wenn du ein Magier bist, wieso befreist du dich nicht selbst?«

    »Das habe ich versucht.« Er lächelte verkrampft.

    Ich sah die vielen Kröten und verstand. »Dann verwandele dich in einen Vogel. Ein Spruch und du fliegst hinaus.«

    »Wenn ich das könnte, wäre diese Grube nicht voll Kröten.«

    Ich überlegte einen Augenblick. Dann griff ich nach dem Seil, das zusammengerollt an meinem Sattel hing. »In Ordnung, ich zieh dich heraus.«

    Mein Pferd tänzelte unruhig auf der Stelle; augenfällig mit der zusätzlichen Arbeit nicht einverstanden.

    Das eine Ende des Seils band ich an den Sattelknauf, während ich das andere Ende in die Grube warf. »Halt dich fest, dann ziehe ich dich hinauf.«

    Zu meinem Erstaunen schüttelte er den Kopf. »Ich gehe nicht ohne meine Truhe!« Er deutete auf die alte Eichenkiste hinter sich.

    »Na gut, dann ziehe ich zuerst deine Truhe hinauf.«

    »Damit du dich mit ihr aus dem Staub machst?« Er verschränkte die Arme. »Auf keinen Fall!«

    Ich seufzte. »Was ist denn so Wertvolles in der Truhe, dass du sie nicht zurücklassen willst?«

    »Nichts! Sie ist leer. Und außerdem wurmstichig. Trotzdem gehe ich nicht ohne meine Truhe. Sie ist ein – Familienerbstück.«

    Magier! Ich schüttelte den Kopf.

    »Meinetwegen, dann ziehe ich dich und die Truhe gemeinsam hoch.« Mein Pferd wieherte protestierend.

    Magnus schlang das Seil um die Truhe und dann um seinen Bauch. »Ich bin bereit!«, rief er.

    Ich wendete mein Pferd und drückte ihm behutsam die Hacken in die Flanke. Ich hatte den Rappen erst vor einigen Tagen bei einem fliegenden Händler für einen lächerlich geringen Preis gekauft. Der Verkäufer, dieser Trottel, hatte nicht einmal versucht, zu feilschen. Er sagte, dass Lieselotte viel mehr wert sei, er aber dringend Geld bräuchte. Also hatte ich sie ihm abgekauft.

    Lieselotte schien nicht mehr mit den Arbeitsbedingungen einverstanden zu sein oder litt schlicht an Heimweh, denn anstatt langsam vorwärtszugehen, machte sie einen Satz. Sie schlug einen Haken, der mich seitwärts aus dem Sattel beförderte.

    Magnus schrie auf, als er mitsamt der Kiste ruckartig aus der Grube flog. Die Kröten quakten.

    Ich landete vornüber im Gebüsch. Ein Ast stoppte mich und machte Bekanntschaft mit meinem Kopf. Neben mir schlug die Eichentruhe mit einem Geräusch auf, als zerbräche der komplette Weinvorrat einer Dorfkneipe.

    Das Seil riss und Lieselotte galoppierte davon.

    Verdammter Gaul. Benommen hob ich den Kopf. Zweige schrappten mir über das Gesicht. Mein Rücken schmerzte.

    »Alles in Ordnung?«

    Magnus stand neben mir und streckte die Hand aus. Ich ergriff sie, und er half mir beim Aufstehen.

    Wir blickten Lieselotte hinterher, von der nur noch eine Staubwolke in der Luft hing.

    »Das tut mir leid. Meinst du, dein Pferd kommt zurück?«

    Ich dachte an die unzähligen Male, die Lieselotte versucht hatte, mich abzuwerfen. Plötzlich wurde mir klar, warum der fliegende Händler sofort mit dem Preis einverstanden gewesen war. Wahrscheinlich wusste er, dass er Lieselotte schon bald einem anderen Dummkopf verkaufen konnte.

    Ich hob meinen Hut auf, klopfte ihn an meiner Hose ab, und setzte ihn auf. »Wohl kaum. Um den Gaul ist es auch nicht schade, aber er trägt meine Waffen am Sattel.«

    Magnus schaute überrascht. »Bist du ein Krieger?«

    »Ich bin Hagewind, aus dem Clan der Blutveilchen. Der König hat mich losgeschickt, um einen Drachen zu erlegen. Als Belohnung erhalte ich die Hand seiner Tochter und das halbe Königreich.«

    »Ach, die alte Leier.« Sein Blick wanderte bis zu meinen Zehenspitzen hinunter und wieder hinauf. »Ich habe mir Drachenjäger anders vorgestellt. Vor allem … jünger.«

    »Nur die Guten werden so alt wie ich«, antwortete ich und verschwieg, dass ich eigentlich nur ein einfacher Soldat des Königs war.

    »Nun, ich danke dir nochmals für meine Rettung, aber jetzt muss ich weiter.« Er drehte sich um und schaute zu seiner Truhe hinüber. Sie lag mit offenem Deckel auf der Seite.

    Magnus wurde blass. »Nein!«, kreischte er. Er schlug sich die Hände vors Gesicht und wandte sich ab. »Mach sie zu! Mach sie zu!«, rief er.

    Ich riss mein Schwert aus dem Gürtel und sprang in Erwartung eines Angriffs herum. Doch aus der Truhe kroch kein Dämon, keine Rauchschwaden kräuselten sich über ihr und warnten vor dem Eintreffen eines Untoten. Ja, nicht einmal eine zornige Schwiegermutter krabbelte heraus. Trotzdem wimmerte Magnus, als stünde das Ende der Welt bevor.

    Ich steckte mein Schwert zurück in den Gürtel. »Wovor hast du solche Angst? Da ist doch nichts.«

    »Doch! Doch! Doch!« Ohne hinzuschauen, streckte er die Hand aus und deutete auf die Eichenkiste. »Du verstehst das nicht, aber ich darf den Inhalt der Truhe nicht sehen, sonst war alles umsonst!« Er wimmerte weitere Worte in seinen langen Bart.

    Ich verstand wirklich nichts, aber eindeutig fürchtete er sich vor der Truhe.

    Vorsichtig ging ich zu ihr hinüber, doch in ihrem Innern gab es nichts, das seine Panik erklärte. Ich entspannte mich. »Wovor hast du solche Angst? In deiner Truhe liegen doch nur Scherben.« Ich nahm eine heraus und hielt sie hoch.

    Sein Wimmern setzte aus. »Scherben?« Er senkte die Hände und schaute zu mir herüber. Dann ließ er sich plötzlich auf die Knie sinken und jammerte erneut. Tränen liefen ihm über das Gesicht. »Alles war umsonst! Die ganzen Jahre … alles für die Katz’. Warum hast du mich nicht in dem Loch verenden lassen? Das wäre wenigstens ein ehrbarer Tod gewesen, aber nein, du musstest mich ja retten.«

    Was zur Hölle meinte dieser komische Kauz nur?

    Plötzlich bemerkte ich eine Bewegung auf der Oberfläche der Glasscherbe. Ich hob sie hoch … und erschrak.

    Ich sah durch sie hindurch und erblickte mich selbst, wie ich auf Lieselotte heranritt. Wie war das möglich? Ich senkte die Glasscherbe und der Weg lag verlassen vor mir.

    Mein Magen zog sich zusammen. Mehrmals holte ich tief Luft. Dann hielt ich mir erneut die Scherbe vor das Gesicht. Nun sah ich mich und mein Pferd direkt vor mir. Mein Ebenbild löste das Seil vom Sattel, während Lieselotte mit tänzelnden Schritten und zusammengekniffenen Augen ihren Unmut ausdrückte. Ich schwenkte die Scherbe herum und blickte in die Grube. Dort unten stand Magnus. Seine Lippen bewegten sich, aber ich hörte kein Wort.

    Meine Beine flatterten. Die Scherben in der Kiste waren nicht nur ein Haufen einfacher Glasscherben. Sie mussten magisch sein. Sie erlaubten einen Blick zurück in die Vergangenheit!

    Heilige Scheiße.

    Noch nie hatte ich etwas Ähnliches gesehen. Ich schaute auf den Scherbenhaufen in der Eichentruhe. Kein Wunder, dass Magnus ihnen eine so große Bedeutung beimaß. Ihr Verkauf würde ein Vermögen einbringen.

    Wieder betrachtete ich das Glas in meiner Hand. Etwas dicker als das Fensterglas der Schlösser. Das Glas – sofern es sich darum handelte – ließ eine leichte Tönung erkennen. Die Vorderseite schimmerte braun, während die Rückseite in einem Blauton glänzte. Ich drehte es herum und schaute durch die andere Seite hindurch.

    Vor mir sah ich eine Horde grobschlächtiger Kerle, die auf Magnus einprügelten. Ich selbst lag hinter ihm, mit einem Schwert im Bauch. Ich schrie auf und torkelte zurück. Himmel, das war nicht die Vergangenheit! Ich hätte mitbekommen, wenn mir jemand ein Schwert in den Bauch gerammt hätte. Aber wenn der Blick durch diese Seite mir nicht die Vergangenheit zeigte, was sah ich dann? Plötzlich begriff ich: die Zukunft. Ich ließ die Glasscherbe fallen und sprang auf. Ich riss das Schwert aus meinem Gürtel. Mein Blick suchte den Waldrand ab. Noch war von den Halunken nichts zu sehen. Ich hob die Scherbe wieder auf und rannte zu Magnus hinüber.

    »Wir müssen hier weg!« Ich schüttelte ihn an der Schulter.

    Magnus schniefte. »Ich will nicht mehr leben, jetzt, wo ich weiß, was in der Truhe ist.«

    Ich riss ihn hoch. »Das wirst du auch nicht mehr lange, wenn wir uns nicht verstecken. Hier taucht gleich eine Horde Halunken auf, um uns auszurauben und zu töten.«

    Er starrte mich verstört an.

    Die Zeit reichte nicht für Erklärungen. Ich zog ihn mit mir, hinter einen Dornenbusch, der uns den Blick auf den Feldweg erlaubte.

    »Meine Kiste liegt noch immer dort«, flüsterte Magnus.

    Kaum hatte er den Satz beendet, trat eine Gruppe finsterer Gestalten aus dem gegenüberliegenden Waldrand auf den Weg.

    »Hier war jemand!«, knurrte ein dicker Mann mit einer Armbrust in der Hand und deutete auf Magnus’ Truhe.

    Magnus und ich sahen, wie er sich über die Eichentruhe beugte. »Ist nur ein Haufen zerbrochenes Glas drin.«

    Ein anderer Mann schaute in die Grube, während ein dritter den Weg nach Spuren absuchte.

    Eine weitere Gestalt tauchte vor uns auf. Zuerst sahen wir nur ihren Rücken, breit wie das Kreuz eines Bären. Der Neuankömmling maß einen Kopf mehr als die anderen und trug eine mit Drachenzähnen bestückte Keule. Er drehte sich um und wir erblickten sein finsteres Gesicht.

    »Sucht den Wald ab, vielleicht sind sie noch in der Nähe!«, befahl er.

    Magnus und ich duckten uns tiefer hinter den Dornenbusch. Ich hielt mein Schwert fest.

    »Und jetzt?«, flüsterte der Magier.

    Wieder schaute ich durch die Scherbe. Ein Schwertschlag zerteilte das Gebüsch vor mir und ein Mann mit einem hässlichen Gesicht und einem Helm aus dem Schädelknochen eines Greifs schien mich durch das Glas hindurch anzublicken. Ich zuckte erschrocken zusammen.

    »Komm!« Wieder packte ich Magnus an seiner braunen Jacke und zog ihn mit mir. Leise huschten wir tiefer in den Wald hinein. Hinter einem umgestürzten, efeubewachsenen Drachenbaum pressten wir uns flach auf den Boden. Von hier aus sahen wir nur noch einen Teil des Weges.

    Mehrere Männer deckten die Grube erneut ab. Die Eichenkiste mit ihrem vermeintlich wertlosen Inhalt trugen sie in den Wald hinein und ließen sie liegen.

    Ein Schwertschlag zerteilte den Dornenbusch, hinter dem wir gerade eben noch gekauert hatten. Die Gestalt mit dem Knochenhelm tauchte dahinter hervor.

    »Was ist?«, fragte der Mann mit der Drachenzahnkeule vom Weg her. Wir konnten ihn nicht sehen, aber wir hörten seine grollende Stimme.

    Der Knochenhelmträger zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, hier wäre etwas, aber ich habe mich getäuscht.«

    »Sucht weiter! Wer diese Eichentruhe zurückgelassen hat, muss noch in der Nähe sein!«

    »Was machen wir, wenn sie uns finden?«, flüsterte Magnus.

    »Keine Ahnung. Kennst du irgendwelche Zaubersprüche, mit denen du sie vertreiben kannst?«

    Er schüttelte den Kopf. »Solche Magie kommt erst nach den Verwandlungssprüchen.«

    Der Mann mit dem Knochenhelm schaute in unsere Richtung. Ich hielt die Luft an. Der Halunke konnte auf diese Entfernung unmöglich unsere geflüsterten Worte gehört haben. Trotzdem kam der Mann näher.

    Ich hob das Schwert.

    Magnus zitterte, dass ich Angst bekam, die Halunken würden sein Zähneklappern hören.

    »Hier sind Hufabdrücke!«, rief eine Stimme vom Weg her, und Knochenhelmträger drehte sich um.

    »Ein Reiter ist hier lang geritten«, fuhr die Stimme fort.

    »Wir folgen ihm!«, befahl der Mann mit der Keule.

    Lieselotte! Ich schickte ihr ein Dankgebet hinterher. Nie wieder würde ich mich beschweren, dass sie mich abgeworfen hatte. Sie war jeden Taler wert, auch wenn unsere gemeinsame Zeit nur kurz währte.

    Die Halunken sammelten sich und verschwanden, um meinem Pferd zu folgen.

    Ich hob die Glasscherbe und blickte in alle Richtungen. Von ihnen würde auch in nächster Zeit nichts mehr zu sehen sein.

    Ich atmete auf und erhob mich.

    Magnus schaute hoch. »Sind sie weg?«

    Ich nickte. »Keine Sorge, die folgen meinem Pferd.«

    »Der Magie sei Dank!« Er lächelte verlegen. »Ich meine … tut mir leid um dein Pferd.«

    Wir gingen zurück zum Waldrand und schauten in die Richtung, in die die Halunken verschwunden waren.

    »Kanntest du die Bande?«

    Er verzog das Gesicht. »Sehe ich aus, als ob ich aus dieser Gegend käme?«

    So sah er in der Tat nicht aus. Genau genommen hätte man ihn mit seiner braunen Hose, der gleichfarbigen Jacke, den hohen Stiefeln und dem wild wuchernden Bart eher für einen Zwerg halten können – wäre er nicht so groß gewachsen gewesen.

    Ich half Magnus, die Eichenkiste aus dem Wald zu tragen. Wir sammelten die Glasscherben ein und legten sie zurück in die Truhe.

    »Scherben«, sagte er kopfschüttelnd, als hätte er tatsächlich keine Ahnung gehabt, was sich in der Truhe befand. Niedergeschlagen schloss er den Deckel.

    »Danke für deine Hilfe. Ich verschwinde, bevor die Halunken zurückkommen.« Er nickte mir kurz zu und ging um die Truhe herum. Vorne an der Eichenkiste hing ein Ledergeschirr, das er sich um den Oberkörper schlang. Seine Muskeln spannten sich. Das Leder knarrte, und die Eichentruhe bewegte sich wie ein Schlitten über den holprigen Waldboden.

    »Moment mal! Du willst doch nicht verschwinden, ohne mir zu erzählen, was es mit der Truhe auf sich hat!«

    Er zögerte. Dann drehte er sich um und seufzte auf tiefster Seele. »Na gut, immerhin hast du mir zweimal das Leben gerettet.«

    »… und Lieselotte verloren.«

    Magnus nickte. »Richtig.« Er stellte einen Fuß auf die Eichentruhe und fuhr sich nachdenklich durch den langen Bart. Sein Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an. »Ich habe dir erzählt, dass ich in der Ausbildung bin. Mein Meistermagier gab mir diese Eichentruhe. Er befahl mir, durch das Land zu reisen, bis ich meine Bestimmung finden würde. Ich musste die Truhe ziehen und durfte sie niemals öffnen oder etwas über ihren Inhalt erfahren, sonst wäre meine Ausbildung sofort beendet.« Wieder stand er kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Das war heute auf den Tag genau vor dreiundzwanzig Jahren.«

    »Dreiundzwan…?« Mein Mund klappte auf. »Du ziehst seit dreiundzwanzig Jahren diese Truhe durch die Gegend?« Diese Zahl verblüffte mich.

    Nun wurde Magnus zornig. »Ja«, fauchte er, »und dann treffe ich dich und all die Jahre waren umsonst! Warum musstest du nur in die Truhe schauen? Was soll ich jetzt machen? Ich kann doch nichts anderes als Magie.«

    »Aber dreiundzwanzig Jahre?«

    »Eine Ausbildung zum Magier braucht Zeit. Nur die wenigsten Menschen bekommen überhaupt die Möglichkeit dazu.«

    Ich dachte an den Tag, an dem ich dem König versprochen hatte, ihm den Kopf des weißen Drachens zu bringen. Eine Idee reifte in mir.

    »Vielleicht war es Vorhersehung, dass wir uns getroffen haben?«, sagte ich.

    »Vorhersehung?« Er lachte schallend. »Was verstehst du denn davon? Du bist doch nur ein Drachenjäger, der es auf die Hand einer Prinzessin und ihre Mitgift abgesehen hat.«

    Ich nickte. »Das stimmt, ich jage einen Drachen. Und zwar schon sehr lange – um genau zu sein: Heute auf den Tag sind es dreiundzwanzig Jahre.«

    Jetzt starrte Magnus mich verblüfft an. »Das ist unmöglich! Niemand würde eine so lange Zeit einem Drachen hinterherjagen.«

    »Oder eine Eichentruhe durch das Land ziehen«, konterte ich. »Dein Meistermagier hat dir gesagt, dass deine Ausbildung vorüber ist, wenn du die Truhe öffnest. Vielleicht meinte er damit nicht ›beendet‹, sondern ›abgeschlossen‹.«

    Magnus runzelte die Stirn. »Aber ich fühle mich nicht wie ein Magier.« Er dachte nach.

    Auch ich überlegte. Wollte ich den Rest meines Lebens einem Drachen hinterherlaufen, von dem ich wusste, dass ich ihn nie einholen würde? Was für eine schreckliche Vorstellung. Ich fasste einen Entschluss und griff nach dem hinteren Ende der Eichenkiste. »Ich begleite dich!«

    »Wolltest du dem König nicht den Kopf des Drachens bringen und seine Tochter heiraten?«

    »Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube nicht, dass die Prinzessin nach dreiundzwanzig Jahren noch auf mich wartet.«

    Er nickte. »Und wohin sollen wir?«

    »Ich habe von einem Zimmermann oben an der Grenze zum Niemandsland gehört, der seit Jahren an einem gewaltigen Turm arbeitet.«

    »Und?«

    »Ein fliegender Händler erzählte mir, dass die Leute ihn für verrückt halten, weil sein Turm Hunderte von Fensteröffnungen besitzt, aber keine einzige Scheibe. Angeblich wartet der Mann seit Jahren auf ein besonderes Glas.«

    Magnus’ Augen leuchteten. »Seit dreiundzwanzig Jahren?«

    Ich nickte.

    Im Gasthaus »Zur Specksuppe«

    Die Sonne kratzte im Osten noch nicht einmal an den Spitzen des Himmelgebirges, da verfluchte ich meine vorlaute Zunge bereits. Wieso hatte ich mich nur angeboten, diese Eichenkiste zu schieben? Längst kämpfte ich gegen die Müdigkeit und mein Rücken schmerzte von der gebückten Haltung. Außerdem wuchs meine Sorge, dass die Halunken unserer Spur folgen würden. Selbst ein Blinder konnte die tiefen Furchen, die die Eichenkiste hinterließ, nicht übersehen.

    Gegen Abend erreichten wir ein reetgedecktes, windschiefes Fachwerkhaus. An seinen verfaulten Holzbalken wuchsen Moose und Flechten, und in seinem Dach klafften mehr Löcher als in meinen Socken. Über dem Eingang hingen ein paar Bretter mit dem Namen der Spelunke: »Zur Specksuppe«. Ich konnte kaum noch die Augen offenhalten, also suchte ich meine letzten Taler zusammen, in der Hoffnung, dass sie für eine Übernachtung reichten.

    Ich öffnete die Tür.

    Aus dem Inneren schlug uns grölender Lärm entgegen. Ein betrunkener Elf schlief neben dem Eingang seinen Rausch aus. Ein halbes Dutzend zwielichtiger Gestalten saß an Tischen herum (oder lag darunter). Überall floss der Alkohol in Strömen.

    Wir traten ein und die Eichenkiste schrappte lautstark über die Bohlen des Fußbodens.

    Der Wirt, ein Hüne von einem Mann, mit dem Blick eines Meuchelmörders, schaute hinter seinem Tresen hervor. Er sah uns und sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Der Krug in seiner Hand fiel zu Boden und zerbrach. Die Gespräche der Gäste verstummten.

    »Frau!«, brüllte der Wirt in ohrenbetäubender Lautstärke.

    Alle Blicke richteten sich erst auf ihn und dann auf uns. Plötzlich wurde es totenstill.

    Unauffällig legte ich die Hand an mein Schwert. Magnus verkrampfte sich.

    Eine hintere Tür sprang auf und eine junge Goblinfrau schaute herein. Sie stieß einen Schrei aus, als sie Magnus und mich sah.

    Der Wirt nahm etwas von der Wand und kam hinter dem Tresen hervor. Vor uns blieb er stehen. Sein Blick fiel auf die Eichenkiste. Dann sah er Magnus an: »Bist du der Magier?«

    Magnus nickte verblüfft.

    »Dann musst du der Drachenjäger sein.« Er schaute mich an.

    »Woher kennst du uns?«, fragte ich argwöhnisch zurück.

    Statt einer Antwort drückte er mir einen Gegenstand in die Hand. »Das ist euer Schlüssel für Zimmer 13! Wenn ihr morgen früh geht, lasst die Tür offen. Meine Frau und ich ziehen von hier fort. Wir haben nur noch auf euch gewartet.« Er drehte sich zu der Goblinfrau herum: »Frau, packe unsere Sachen und fahr das Fuhrwerk vor! Wir können endlich von hier verschwinden.« Dann wandte er sich an seine Gäste. »Und ihr macht, dass ihr hier rauskommt. Wir haben geschlossen!«

    Ein betrunkener Zwerg, der gegen die überraschende Geschäftsaufgabe protestierte, flog kurzerhand durch ein Fenster. Die anderen Gäste erhoben sich murrend und verließen einer nach dem anderen die Spelunke.

    »Und vergesst die Betrunkenen nicht!«, brüllte der Wirt ihnen hinterher.

    Rasch wurden noch der Elf und ein paar schnarchende Gäste unter den Tischen hervorgezogen.

    So schnell, wie Magnus und ich die Spelunke betreten hatten, leerte sie sich.

    Der Wirt warf seine Schürze auf den Tresen. »Dann lebt wohl.«

    »Moment«, hielt ich ihn zurück. »Woher wusstest du, dass wir kommen würden?«

    »Mir wurde nur gesagt, dass ich einem Magier mit einer Eichenkiste und einem Drachenjäger ein Zimmer geben solle.« Er kratzte sich am Kinn. »Das war vor …« Er überlegte. »… dreiundzwanzig Jahren. So lange haben wir in diesem Loch auf euch gewartet.« Er knirschte mit den Zähnen. »Ihr hättet euch ruhig etwas beeilen können.«

    Draußen fuhr ein Pferdegespann vor und der Wirt ging hinaus.

    Magnus schluckte. »Das ist … unheimlich.«

    Ich nickte. Ein kalter Schauer wanderte meinen Rücken hinunter. »Lass uns unser Zimmer suchen. Ich bin todmüde.«

    Es stellte sich heraus, dass wir keinen Schlüssel brauchten. Es gab in der Spelunke weder Zimmernummern noch Schlösser. Trotzdem fanden wir unsere Kammer auf Anhieb. Eine dicke Staubschicht und unzählige Spinnweben zeugten davon, dass sie ebenfalls seit dreiundzwanzig Jahren auf uns wartete. Magnus und ich ließen uns todmüde inmitten der Spinnweben aufs Bett fallen. Eine dicke Staubschicht deckte uns zu, doch da schliefen wir bereits.

    Mich weckte das Geschrei eines Esels. Ich öffnete die Augen und sah über mir einen Raben, der durch ein Loch im Dach zu mir herunterschaute. Magnus kauerte neben dem Bett über seiner Eichenkiste und schnarchte. Ich streckte die Arme und stand

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