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Vater, Mutter, Kim
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eBook263 Seiten3 Stunden

Vater, Mutter, Kim

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Über dieses E-Book

Sella beobachtet die Ankunft der Nachbarsfamilie. Sie lebt mit Arild in einem kleinen Haus, die Nachmittagssonne streift nochmal kurz den Garten, dann liegt er im Schatten. Arild bereitet den Griller vor, das Auto der Nachbarn fährt langsam vorbei, man sieht die Eltern, die beiden Brüder. Sie haben sie heimgeholt, denkt Sella, aber ein Platz im Auto ist leer. Ob sie etwas für die Familie backen sollte? Um sie willkommen zu heißen, um Anteilnahme auszudrücken? Später wird sie die frischen Waffeln in Alufolie wickeln und in den Brotkasten legen. Die kleinen Hagelkörner rasseln wie Glassplitter im Regenrohr. Es ist der 29. Juli 2011. Die Leute von der Insel sind endlich wieder zuhause.

Es ist ein stiller, fast ereignisloser Roman, den Eivind Hofstad Evjemo neben jenes Ereignis stellt, das sich brutal und tief in das kollektive Gedächtnis Norwegens geschlagen hat: die Anschläge in Oslo und auf der Insel Utøya. Mit nüchterner Behutsamkeit nähert er sich Sella und Arild an, sucht im Wirrwarr der alltäglichen Dinge und der allgemeinen Trauer nach ihrer ganz privaten, die unter der Anteilnahme wieder aufbricht. Ein berührender, genauer Text über Verlust und Trauer und die hartnäckige Einsamkeit, die zwischen den gewohnten Dingen haust.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Okt. 2019
ISBN9783903081727
Vater, Mutter, Kim

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    Buchvorschau

    Vater, Mutter, Kim - Eivind Hofstad Evjemon

    passiert.

    1. Januar 2014

    Eiskristalle an der Hauswand, das Licht eines Scheinwerfers gleitet darüber und wandert nach unten in die Büsche. Ein gefrorener Spaltklotz steht am Hang. In den Bäumen hüpfen die Elstern von Ast zu Ast. Durch eine Schiebetür aus Glas zeichnen sich die Umrisse einer CD-Hülle ab, ein Fernseher und ein schlecht instand gehaltenes Klavier. Eine leicht geöffnete Besteckschublade.

    Sie würden irgendwann kommen.

    Das Auto blinkt, fährt von der Hauptstraße ab und den Hang hinauf, vorbei an den Häusern der Unternehmer mit Briefkastenverkleidungen aus Eichenholz und mit Blick über die Stadt, vorbei an Reihenhäusern im Blickfeld anderer Reihenhäuser, und weiter, vorbei an einem kleinen Platz mit Bänken, einer Rutsche, einem eingeschneiten Kohlegrill. Ein Straßenbesen wurde scheinbar im Affekt nach draußen geschleudert und absichtlich liegen gelassen. Wärmepumpen an den Hauswänden bohren ihre Eckzähne in die Holzverkleidung und lassen dünne Luft in die Räume strömen. Besuch verabschiedet sich: Der Gastgeber hilft beim Ausparken aus der schmalen Einfahrt. Die Gastgeberin winkt vom Balkon und schwenkt eine Wunderkerze, ein Überbleibsel des gestrigen Silvesterabends. Ein Spielplatz, die Kinder im Bett, die Fenster gekippt. Der Grill der Nachbarn steht noch draußen, obwohl schon Winter ist, die Gasbehälter stehen vor dem Haus wie Munitionsreserven für ein Militärfahrzeug.

    Eine Wäschespinne, ohne Wäsche, ohne Wind.

    Das Auto bremst und biegt in einen schmaleren Schotterweg ein, gibt wieder ein wenig Gas und Kies fliegt auf, ein Geräusch von Maiskörnern, die im Topf zu Popcorn aufplatzen. Vor dem Haus angekommen, wendet der Fahrer schnell und routinemäßig, indem er in den Hof des Nachbarn einfährt, und bringt das Auto zum Stehen. Arild steigt aus und geht auf das Haus zu. Über dem einen Arm hat er seinen Anzug, im anderen hält er eine Tasche mit einer Flasche Barbaresco. Er trägt ein rotes Hemd und eine Anzugshose, seine Haare sind ungekämmt. Dann steigt sie aus: öffnet die Tür, setzt einen unsicheren Schritt auf den Boden und richtet sich auf, indem sie sich vom Sitz hochschiebt. Sella ist nach der langen, kurvenreichen Fahrt ein wenig bleich im Gesicht. Ihre Schuhe hatte sie vor der Abfahrt nicht gewechselt, hatte es einfach nicht geschafft, und sie im Hotel gelassen. Jetzt befinden sie sich in einer Ablage unter dem Empfangstisch, aber Sella weiß, dass sie sie niemals abholen wird. Daher steht sie jetzt in schwarzen Festtagsschuhen vor dem Haus und sieht in den Himmel. Die Kälte zieht ihr unter das Kleid, widerstandslos beginnt der Körper zu frieren. Sie denkt: Ist es wahr, dass Sterne das Echo von Sonnen sind, die vor Millionen von Jahren versiegt sind? Und wenn es so war: Wer hatte ihr das nochmal erzählt? Arild steckt den Kopf aus der Haustür und verschließt das Auto per Knopfdruck.

    „Jetzt steh doch nicht hier draußen, du frierst doch", sagt er.

    Nein, das sagt er gar nicht. Er geht nur noch einmal nach draußen und fingert mithilfe seines Schlüssels den Klingelknopf heraus, den irgendjemand eingedrückt hat, während sie fort waren. Ein Zettel hängt auch daneben: Klingel kaputt. Anklopfen! Smiley.

    Eine Sternschnuppe huscht ohne Schweif über den Himmel. Musste man sich jetzt etwas wünschen? Sie kneift die Augen zusammen, irgendetwas muss man sich wünschen, man weiß ja nie. Sie geht auf das Haus zu, die leichten Gardinen hängen zur falschen Jahreszeit, und es ist alles ihre Schuld. Die Leitungen des Rasensprengers bersten diesen Winter schon zum dritten Mal in drei Jahren.

    Sie ist so erschöpft, so über die Maßen erschöpft.

    Arild kommt aus dem Keller, eine Tiefkühlpizza in der Hand.

    „Eine der Gefriertruhen ist durchgeschmort, sagt er. „Der ganze Boden da unten ist voller Blut.

    Und sie wollte doch einfach nur zu Hause ankommen und sich hinlegen. Jetzt steht sie in der Waschküche und lässt Eimer mit Wasser volllaufen. Geht mit jeweils einem Eimer in der Hand die Treppe hinunter. Arild hat überall Licht gemacht, aber es ist immer noch zu dunkel zum Arbeiten. Regale mit Koffern, Taschen und Winterausrüstung, die niemand mehr braucht, Strandstühle, einer davon mit verkohlter Armlehne nach dem Einsatz eines Einweggrills. Schatten wandern über die grauen Zementwände, zwei Menschen verrichten mit ihren Händen unfreiwillige Arbeit.

    Die Katze taucht auf, wie jedes Mal, wenn die Kellertür offen steht. Sie reckt die Nase, ist aber blitzschnell verschwunden, als Arild einen Eimer umstößt.

    „So eine Scheiße", ruft er.

    Das Wasser fließt unter die alten Ordner mit Rechnungen. Spinnen bewachen die Ecken mit langen Beinen, hier liegen die Schulbücher von Kim. Einmal hatte sie versucht, sich von ihnen zu trennen, es aber gleich bereut, als sie zu Bett gegangen war. Noch in derselben Nacht war sie aufgestanden, hatte sich angezogen und alles wieder hineingetragen. Und hier stapeln sich die Bücher jetzt, wie in einem Lager der einfachsten Grabsteine der Welt.

    Sella geht in die Hocke, taucht den Lappen in die Pfütze, wringt ihn aus. Das Wasser in einem der beiden Eimer ist schon dunkelrot. Arild ist gereizt, er drückt den Lappen hart gegen den Boden. Sella geht ins Bad, um mehr Küchenrolle zu holen, greift stattdessen zu einem Stapel Handtücher in allen Farben, die man sowieso wegschmeißen kann. Ihre Wangen sind blutverschmiert. Sie sollte sich besser umziehen, aber sie zieht das Neujahrskleid nicht aus, es tut doch jetzt nichts zur Sache.

    Das Ganze dauert über eineinhalb Stunden. Zuerst müssen sie die Gefriertruhe mit dem Fleisch ausräumen. Einige Male müssen sie die Truhe verrücken, um an alles heranzukommen, und damit verteilen sie Blut und dreckiges Schmelzwasser noch mehr über dem Boden. Das Gefühl, niemals fertig zu werden. Die Schneehuhnherzen rutschen in ihren Gefrierbeuteln herum wie glitschiger Mozzarella, die Hühnchenfilets aus Schweden riechen nach offenen Wunden. Aber noch schlimmer steht es um das Fleisch, das sie für spezielle Anlässe aufgehoben hatte: Fleisch vom Elch, vom Kalb, einen ganzen Truthahn. Sogar die Lammkeulen müssen sie wegwerfen. Sie muss einige Male raus zur Mülltonne. Es tropft aus den Beuteln, ein Tropfen Hühnerbrühe läuft ihr zwischen die Brüste. Sie übergibt sich hinter der Mülltonne. Als sie hereinkommt, fragt Arild, hast du geweint, nein, das fragt er gar nicht; sie erkennt an seinem Blick, dass er es vermutet. Er hatte ja schon immer ein Auge dafür.

    Warum sie unbedingt im Hotel in Røros hatten Silvester feiern müssen, konnte sich Arild am besten selbst beantworten. Er hatte von einem Einfall gesprochen und gesagt, man könne das ja einfach mal machen, und so hatten sie für die Silvesternacht ein großes Zimmer für zwei Personen mit Westbalkon und einer Badewanne gebucht. Er habe so viel Gutes über das Hotel in Røros gehört, und Morten habe das Buffet vorzüglich genannt. Und was hätte eine arme Frau anderes tun können, als die Lammkeulen einzufrieren, die sie gekauft hatte? An irgendeinem Sonntag im Januar würde man sich über ein besseres Mittagessen doch wohl ebenso freuen wie jetzt nach den ohnehin schwer im Magen liegenden Festtagen. Im Kühlschrank waren die letzten Reste des Weihnachtsessens. Das flache Rippchen auf seiner Untertasse, wie alte Eisenbahnschienen, in einer Pfütze aus weißem Fett. Daneben eine Portion Sauerkraut (es war ein schöner Abend gewesen, er war ruhig vorübergegangen, dachte sie zufrieden). Die Lammkeulen waren ruiniert, die Gefriertruhe musste ihren Geist aufgegeben haben, als sie losgefahren waren, meinte Arild: „Oder bevor wir uns überhaupt ins Auto gesetzt haben."

    Um acht Uhr hatten sie im Restaurant des Hotels zu Abend gegessen. Drei Gänge. Zur Vorspeise Lachs in Dillmarinade mit Senf und Zitrone, serviert auf dem leicht süßlichen, papierenen Brot der Region. Als Hauptgericht hatte es Rentiersteak in Rotweinsauce gegeben, mit Silberzwiebeln, süß eingelegten Birnen und Mandelkartoffeln. Zum Dessert Schokoladenfondant mit einer Sauce aus Beeren, Kaffee und Cognac. Den Cognac hatten sie dann mit nach nebenan genommen, in einen Raum mit Kaminfeuer und einer Ansammlung anderer Gäste. Ausgestopfte Tierköpfe hingen an den Wänden, sie hatten sich in tiefe Ledersessel sinken lassen, deren Armlehnen von den Brandlöchern abendlicher Zigarren gezeichnet waren. Genau genommen hatte sie den Cognac mitgenommen, er hatte einen Kaffeelikör und ein Stückchen italienischen Gewürzkuchen bestellt; und das Kaminzimmer hatte streng genommen nicht direkt nebenan gelegen, sondern am Ende eines Korridors mit dicken Teppichen, und war von Vanille-Zimt-Stumpenkerzen beleuchtet worden. Kurz vor zwölf waren sie dann mit dem Fahrstuhl nach oben auf das Dach gefahren, wo sie das Hotelpersonal erwartet hatte, die Daumen unter den Champagnerkorken. Die anderen Gäste hatten sich schon eingefunden, Frauen mit Wunderkerzen, Männer mit braunem Alkohol in fettigen Gläsern. Dort hatten sie einander zugenickt, in einer Art Schicksalsgemeinschaft, auf dem Dach dieses Hotels in Røros. Die Kälte hatte im Gesicht gestochen. Røros, Norwegens kältester Ort, ohne Zweifel. Man hatte ihr eine Wunderkerze in die Hand gedrückt, und gleich danach ein Sektglas, das sie dem Kellner entgegenstrecken konnte, wenn er mit der sprudelnden Flasche vorbeikam. Er war ungefähr in Kims Alter gewesen. Schon nach ein paar Schlucken hatte sie sich angetrunken gefühlt und den Rest Arild gegeben. Sella und Arild hatten mit den Anderen die Sekunden heruntergezählt und sich Punkt zwölf einen Kuss gegeben. Sie hatte Arilds kalte Wangen gespürt und gleich einen kleinen Tropfen von seiner Nasenspitze gewischt. Die Umarmungen der Fremden waren ihr unangenehm gewesen, Wange an Wange, aber es war Teil des Rituals. Arild hatte sie im Arm gehalten, während man unten in Røros die Raketen abfeuerte; ein schöner Anblick, wie die magische Stadt da unten im Nebel lag und leuchtete. Nachdem dem Feuerwerksmeister des Hotels der Zündstoff ausgegangen war, und er seine Schutzbrillen abnahm, waren die Leute fröstelnd ins Haus zurückgegangen. Arild und Sella waren langsam die Treppen zu ihrem Zimmer hinabgestiegen – der Fahrstuhl war von lärmenden Jugendlichen blockiert – und hatten sich dort auf die Bettkante gesetzt und eine kleine Flasche Prosecco geleert, die Sella dabeihatte. Im Fernsehen lief die Übertragung der Neujahrsfeierlichkeiten, sehr weit weg von Røros, und sie legten sich früh schlafen in dieser ersten Nacht des neuen Jahres.

    Es ist nach drei, als Arild endlich das Licht ausmacht, die Tür schließt und den Keller verlässt. Sie stellt die Eimer in die Waschküche und wirft die Lappen in den Schnee. Er schenkt sich ein Glas Cola ein und liest das Programmheft über die laufende Vierschanzentournee. Sie geht ins Badezimmer, zieht das Kleid aus und übergibt sich erneut, dieses Mal eine kleine Menge ins Waschbecken. Sie wäscht sich die Hände, steckt das Kleid in eine Tüte und stellt sie raus auf den Gang. In der Küche hat sich Arild auf einen Stuhl gesetzt und sein Kopf bewegt sich langsam nach unten.

    „Du solltest nicht mehr so lange hier sitzen bleiben", sagt sie.

    Er blickt sie aus roten, leicht unfokussierten Augen an. Eine Frau im Türrahmen in Nachtwäsche aus Fleece. Er sagt: „Ich komme gleich", und wendet sich wieder der Zeitung zu.

    „Also, Gute Nacht."

    Sie legt sich hin, zieht die Decke ganz über sich, reibt ihre Beine an der Matratze, damit es wärmer wird, und bemerkt gar nicht, dass Arild kommt und sich hinlegt.

    Ein Geräusch vor dem Haus weckt sie. Arild sitzt schon aufrecht im Bett. Sie sieht seine Augen im grauen Licht.

    „Was ist das?", fragt sie.

    „Schhh", sagt er.

    „Wie spät ist es?"

    „Schhh!"

    Er fährt aus dem Bett und hastet aus dem Zimmer. Reißt die Haustür auf und schlägt sie wieder zu. Es muss ein Tier sein, das jetzt den Abhang herunterläuft – bestimmt nur eine Katze, denkt Sella –, direkt unter dem Schlafzimmerfenster, und Arild läuft auf dem harten Schnee hinterher. Dann wird die Garagentür geöffnet und etwas Schweres herausgetragen, etwas fällt zu Boden, es hört sich an wie ein Bleigewicht, und die Garagentür wird wieder zugeschlagen. Als er wieder ins Schlafzimmer kommt, umgibt ihn eine Wolke kalter Luft.

    „Wildkatzen. flüstert er. „Haben natürlich das Fleisch gerochen.

    Oder eigentlich ist sie sich nicht sicher, ob er das sagt, denn sie schläft, oder sie tut so, als würde sie schlafen. Ihre Augen sind geschlossen, sie sieht Herden wilder Tiere vor sich, wie sie jetzt in der Dunkelheit anhalten und wittern, ob der Verfolger noch in der Nähe ist, oder ob sie sich wieder zum Haus begeben und sich über die Mülltonnen hermachen können. Aber Arild hat einen Autoreifen auf den Deckel gelegt und das Ganze mit einer Plane umhüllt, um die Tonne halbwegs zu verstecken.

    Sella putzt sich die Zähne, ihr Mundwinkel ist eingerissen. Sie spuckt Blut. Sie geht in die Waschküche und riecht an den Eimern. Der Geruch von Blut und Seife provoziert einen milden Brechreiz, aber sie kann ihn gerade noch kontrollieren. Danach schrubbt sie ihre Hände mit desinfizierendem Spiritus, stellt die Eimer in den Schnee auf der Treppe und fühlt sich bereit für den Tag. Arild ist schon auf und sitzt beim Frühstück. Im Radio erzählt ein Junge von einem Unfall mit einem Feuerwerkskörper, wie ausdrücklich er es jetzt bereut; im einen Moment ein gesunder und lebendiger Student, im nächsten ein Invalide, ein schlafloser Achtzehnjähriger, der plötzlich gezwungen ist, seine komplette Zukunft neu zu überdenken. „Das ist es echt nicht wert, sagt er, „setzt verdammt nochmal Schutzbrillen auf! Am Ende der Sendung zieht der Radiosprecher eine Bilanz der Neujahrsrede des Staatsministers: „Sieht so aus, als könnte das ein gutes Jahr für unsere Geldbeutel werden, sagt er. „Und die Kommunalverwaltung wird hoffentlich alles tun, um das Wachstum noch weiter anzukurbeln.

    Arild gibt ihr den Kulturteil – mit einem Lächeln schiebt er ihn über den Tisch –, lehnt sich vor, stützt sich auf die Ellbogen, den Blick auf die Zeitung gerichtet, wo der Star-Skispringer auf einer Doppelseite abgebildet ist. Ab und zu sieht sie zu ihm hin, wie er isst, gleich fertig, das Kratzen des Löffels am Grund der Schüssel. Dann hebt er die Schüssel an, stellt sie seitlich auf und schiebt den Löffel in die Flüssigkeit am Boden, wo sich der letzte Rest Milch mit der Süße von Honey Smacks und Marmelade vermischt hat.

    „Hast du etwas von Ivar gehört?"

    „Er hat auf Godlia gefeiert."

    „Und, war es gut?"

    „Er wollte nicht mit mir reden. Der Pfleger meinte, er sei draußen, Raketen sammeln."

    „Ah."

    Nach den Nachrichten wird angekündigt, dass es im heutigen Neujahrsprogramm um Verlust gehe, man wolle mit einer Familie über die Katastrophe 2011 sprechen. Sella sieht auf, legt die Zeitung beiseite.

    „Hör mal", sagt sie.

    Er starrt auf die Zeitung: „Hmm."

    „Das sind unsere Nachbarn."

    Zuerst hört man die Stimme des Vaters. Sella hat bereits Anfang August ein Radiointerview mit ihm gehört, darin hatte er kritisiert, wie die Gedenkveranstaltungen abliefen. „Zu viel Show, an uns Betroffene wird dabei wenig gedacht, hatte er gemeint. Auch mit gebrochener Stimme hatte er einen sicheren und würdigen Eindruck gemacht. „Da läuft etwas nicht richtig, wenn wir das Gefühl haben, dass man nicht an uns denkt, hatte er bestimmt gesagt. „Was wir jetzt brauchen, ist Ruhe." Später wurde diese Aussage in allen nationalen Medien verbreitet. Was wir jetzt brauchen, ist Ruhe. Unter dem Zitat eine Nahaufnahme, die durch die Medien ging. Eine der ersten Fotografien, die zeigten, wie der Terroranschlag Gesichter verändert hatte.

    Die Mutter sitzt etwas weiter vom Mikrofon entfernt, als hätten sie vorher vereinbart, dass überwiegend er spricht. Ihre Stimme klingt distanzierter, nach innen gerichtet. Sella fand schon immer, dass sie eine sehr schöne Frau war. Schnell und dynamisch. Der Vater erzählt, dass er im Naturschutzverband als Aufseher von Gewässersystemen, Bachläufen und Flüssen arbeite und durchschnittlich 231 Tage im Jahr unterwegs sei.

    „Ich habe tatsächlich nachgezählt, sagt er. „Rückblickend hätte ich gern mehr Zeit für die Familie gehabt. Das tut vielleicht jetzt am meisten weh, zu wissen, dass man vieles aus dem Leben des Kindes nicht mitbekommen hat. Das Gefühl, nicht da gewesen zu sein, als es drauf ankam.

    Er erzählt von Tagen oben auf der Finnmarksvidda und stundenlangen Fahrten mit dem Schneescooter, nur um irgendeinen Bachlauf auszumessen, den niemand kannte, außer vielleicht die Samen im Umkreis. Und er habe damals schon gedacht: Mit der Familie wäre es jetzt noch besser.

    Er habe die Kinder oft mitnehmen wollen, damit sie wussten, was er eigentlich machte, und um ihnen diese unglaublichen Orte zu zeigen.

    „Im Unterschied zu früher, sagt er, „möchte ich jetzt viel öfter zu Hause sein. Mir fallen kleine Dinge auf. Ich freue mich zum Beispiel, wenn ich sehe, wie einer Sportlerin gelingt, wofür sie lange trainiert hat, oder wenn ich an einem Sonntagmorgen ein Sauerteigbrot backe und es meiner Frau ans Bett bringen kann.

    Der Journalist stellt die nächste Frage.

    „Ja, ich habe mich draußen in der Natur immer sehr wohl gefühlt, auf langen Skitouren zum Beispiel. Aber nach allem, was passiert ist, hat sich das auch geändert, vielleicht finde ich inzwischen den Gedanken an die Natur besser als die Natur selbst. Es fühlt sich an, als sei die Natur zu groß geworden, zu bedrohlich, ich bin auf jeden Fall ängstlicher geworden."

    Die Mutter übernimmt. Sie sagt, sie sei jetzt regelmäßig auf dem Reiterhof, wo die Tochter zuletzt Reitstunden genommen hatte.

    „Dafür bin ich sehr dankbar, sagt sie. „Das hat mir viel bedeutet. Sie sagt, dass sie neulich am gleichen Reitkurs teilgenommen habe wie die Tochter einige Jahre zuvor.

    „Damals habe ich sie einfach immer vor dem Stall rausgelassen und bin heimgefahren."

    Sie erinnert sich, dass die Tochter dann jedes Mal zu den anderen Mädchen gelaufen sei, die fröstelnd in der Winterkälte vor dem Stall standen. Heute bereue sie es, sich nicht mehr Zeit genommen zu haben, nicht ausgestiegen zu sein, um zu hören, was für das Training geplant war. „Nein, stattdessen bin ich weitergefahren, weil ich irgendetwas zu tun hatte."

    Sie atmet lange aus.

    Es sei wichtig gewesen, die Orte ihrer Tochter aufzusuchen. Die Gerüche und Gefühle dort wahrzunehmen.

    „Ich wollte ihr auf diese Weise näherkommen."

    Sie selbst habe am Anfang große Angst vor Pferden gehabt. Habe sich sehr lange die verschiedenen Techniken zeigen lassen, sei immer ängstlich gewesen, wenn sie alleine in den Stall ging, den Sattel anlegte und den Gurt unter dem Bauch festzog, bis sie das Tier hinausführte. „Man übt sich in Selbstkontrolle! Aber die gleiche Angst", sagt sie, „muss meine Tochter am Anfang auch gehabt haben. Die Angst, einen Fehler zu machen, das Pferd zu verschrecken. Immerhin gibt es einen enormen Kräfteunterschied. Aber die Tatsache, dass sie diese Angst überwunden haben muss, genau wie ich, lässt mich an den Pferden festhalten. Heute Abend werde ich zum Beispiel wieder

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