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Ein Windrad am Namibrand: Mein Leben in Südwestafrika
Ein Windrad am Namibrand: Mein Leben in Südwestafrika
Ein Windrad am Namibrand: Mein Leben in Südwestafrika
eBook876 Seiten12 Stunden

Ein Windrad am Namibrand: Mein Leben in Südwestafrika

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Über dieses E-Book

1955 landete Elfriede Schumacher als Fremdsprachen-Korrespondentin an der südwestafrikanischen Küste. Ihre spannenden und geschichtsträchtigen Erlebnisse hat die Autorin in diesem wunderbaren Roman zusammengefasst, wobei die Zeitgeschichte einen beträchtlichen Teil des Werkes ausmacht. Heute lebt Elfriede Schumacher in Kapstadt. Gekonnt verpackt die Autorin die stets personenbezogenen schrecklichen Kriegsereignisse in Deutschland, das Leben in Südwestafrika und ein großes Stück deutsche Kolonialgeschichte in einen sehr unterhaltsamen Roman, der abwechslungsreicher und glaubhafter nicht sein könnte.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Kern
Erscheinungsdatum15. Nov. 2012
ISBN9783939478782
Ein Windrad am Namibrand: Mein Leben in Südwestafrika

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    Buchvorschau

    Ein Windrad am Namibrand - Elfriede Schumacher

    Elfriede Schumacher

    Ein Windrad am Namibrand

    Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

    Impressum:

    © 2012 Verlag Kern

    © Inhaltliche Rechte bei der Autorin

    Autorin: Elfriede Schumacher

    Lektorat: Dagmar Radelow

    Verlag u. Herstellung: www.Verlag-Kern.de

    Titelfoto: Matthias Riedel - www.matthiasriedel.de

    Umschlagdesign: www.winkler-layout.de

    1. Auflage, Juni 2012

    1. Digitale Auflage 2012

    Digitale Veröffentlichung: Zeilenwert GmbH

    Printed in Germany

    ISBN: 978-3-939478-81-2

    ISBN: eBook 978-3-939478-78-2

    Die Autorin erklärt, dass alle Geschehnisse und alle Personen ihres Romans völlig frei erfunden sind, mit Ausnahme einiger Personen und Ereignisse der Zeitgeschichte.

    Die Autorin legt sehr großen Wert darauf, dass ihr Buch in der alten deutschen Rechtschreibung erscheint.

    Inhalt

    Cover

    Titel

    Impressum

    Anmerkung der Autorin

    Prolog

    Die Gesundbeterin

    Der Gestellungsbefehl für ein Himmelfahrtskommando

    Feindfahrt – südliches Afrika, Deckname „Seehund"

    Der Geheimdienst ist einem Landesverräter auf der Spur

    Das Inferno

    Trümmerfrauen – Hamburg 1945

    Ein vergilbtes Foto erzählt ein Stück deutsche Kolonialgeschichte

    Deutsche Kolonialgeschichte 1896 bis 1918

    In Südwestafrika ist der Norden die Sonnenseite

    Ein Toast auf den Kaiser in Berlin

    Ein Freßgeschäft floriert immer

    Der Hererokrieg bringt Aufregung ins Kriegsministerium

    Eisenbahnen erschließen das Land

    Eine hoffnungsvolle Epoche geht zu Ende

    Wer seinen Tropenhelm mit auf die Reise nimmt, kehrt immer wieder nach Afrika zurück

    In Baracke 38 D wird ein verstecktes Radio gefunden

    Ein Frontlazarett wird aufgelöst – die Roten rücken näher

    Die englischen MPs holen den Kreisleiter

    In einem Gartenhaus in der Brahmstraße wird ein Verräter erschossen

    Ein Filou aus Lemberg macht Karriere

    Es muß ja nicht unbedingt ein Rolls Royce sein

    In 110 Fuß Tiefe trifft die Bohrmaschine auf eine Wasserader

    Ein Seemannsgrab in der Saldanha Bay

    Ein Gerichtstag hat Folgen

    Wer hat Namibschätze im Dachboden versteckt?

    Eine reiselustige Witwe sorgt für Aufregung

    Rinder mit spitzen Hörnern sind gefährlich.

    Glück kann man nicht kaufen

    Angola-Flüchtlinge wecken Erinnerungen an das deutsche Kriegsende 1945

    Ein junger Leutnant wird mit militärischen Ehren zu Grabe getragen

    Sechs Gräber am Namibrand binden die Lebenden an die Toten

    Erläuterungen

    Prolog

    Am 18. Mai 1986, vormittags elf Uhr, hält vor dem Einfamilienhaus in einer wenig belebten Straße ein Taxi. Der weibliche Fahrgast erhebt sich langsam vom Sitz des Beifahrers und wirft einen prüfenden Blick auf das Anwesen zu ihrer Linken. Die Dame ist nicht mehr jung. In ihr aschblondes Haar mischen sich vereinzelt graue Strähnen, ihre Kleidung ist konservativ, von erstklassiger Qualität und läßt den Stil Coco Chanels erkennen. Auffälligen Schmuck trägt sie keinen. Eine goldene Armbanduhr, die im Stil schon ein wenig veraltet, lugt am linken Handgelenk hervor, eine feine Halskette mit einem Anhänger in der Form eines „Kreuz des Südens" hängt unauffällig auf ihrem beigefarbenen Kaschmirpullover. An den Ohrläppchen glitzern zwei Diamantstecker von je einem halben Karat. Zum sonnigen Maiwetter ganz und gar nicht – das Thermometer im Taxi zeigt auf 25 Grad Celsius – paßt die augenscheinlich winterliche Kleidung des weiblichen Fahrgastes. Ein beigebraun gesprenkeltes Coco Chanel-Kostüm, auch dies schon ein wenig außerhalb des augenblicklichen Modetrends, und ein langärmeliger Kaschmirpullover mit Rollkragen lassen darauf schließen, daß die Dame winterliches Klima hinter sich gelassen hat.

    Den gleichen Gedanken hat auch der Taxifahrer, der seinen Fahrgast vor drei Stunden am Flugplatz Fuhlsbüttel in sein Taxi geholfen und während der Fahrt erfahren hat, daß sie in den nächtlichen Stunden über den afrikanischen Kontinent geflogen ist. Zwar ist der Fahrer selbst noch nicht vom Touristentaumel erfaßt worden, weil seine Einnahmen dies nicht zulassen, doch liegt die südliche Spitze Afrikas für ihn am anderen Ende der Welt und dort, erfuhr er von seinem Fahrgast, sei es zur Zeit Winter. Er greift zügig nach dem kleinen Koffer seines Fahrgastes, schreitet zum Gartentor und öffnet es mit einer einladenden Geste für seinen Gast, der ihn für diese Fahrt im voraus großzügig entschädigt hat.

    Die Dame geht langsam auf das Haus zu, der feine Kies knirscht unter ihren Schuhen, sie blickt von links nach rechts, betrachtet eingehend die Blumen in den Rabatten, als betrete sie hier vertrauten Boden. An der Haustür angekommen, öffnet sie eine handgearbeitete Krokotasche, die auf einen gewissen Wohlstand schließen läßt, zieht einen Bund Schlüssel hervor und öffnet die Tür. Hörbar aufatmend tritt sie ein. Nach zwölf Flugstunden hat sie wieder festen Boden unter den Füßen.

    Der Taxifahrer stellt ihren Koffer auf den ihm zugewiesenen Platz. Nein, sie wird ihn später selbst ins Obergeschoß tragen, sagt sie. Sie fliegt stets mit leichtem Gepäck, ganz gleich, ob sie in Kapstadt oder Windhuk oder Hamburg landet. Sie ist überall zu Hause. Sie vereinbaren, daß er sie am 18. Oktober Punkt zwölf Uhr am Gartentor wieder abholt und drei Stunden später am Flugplatz Fuhlsbüttel absetzt. Für das Einchecken ihres Fluges nach Südafrika bleibt ihr dann ausreichend Zeit. Sie mag keinen Zeitdruck, sagt sie, sie plant im voraus, alles muß Hand und Fuß haben, sie ist für Ordnung. Zuletzt tauschen sie ihre Telefonnummern aus. Dann ist sie allein.

    Sie zieht ihre Kostümjacke aus und legt sie auf einen der Sessel. Es ist warm im Haus, die Sonne scheint durch die großen Fenster, die alte Standuhr im angedeuteten Alkoven rückt auf die zwölfte Mittagsstunde zu. Sie läßt sich nicht in einem der bequemen Clubsessel nieder; sie hat lange genug gesessen, sie beginnt im Raum auf- und abzugehen. Sie kennt hier jeden Stein, erinnert sich an die Geräusche von außen, denn in der nächsten Nachbarschaft hat sich in den vergangenen Jahren nicht viel verändert. Nur der familieneigene Geruch von früher ist nicht mehr da. Es gibt auch die kleinen Zimmer früheren Zuschnitts nicht mehr. Sie haben diesem großen Raum Platz gemacht mit einer „Kitchenet" zum Garten hin.

    Sie hat dieser Veränderung damals zugestimmt, weil sie sich in den zurückliegenden Jahrzehnten an afrikanische Großräumigkeit gewöhnt hat. Zuerst war es die endlose Namibwüste gewesen, danach die 4000 Hektar große Rinderfarm „Morgensonne" und als Schlußlicht der Blick von den Twin-Towers auf die Kapstädter Tafelbucht. Sie öffnet die gläserne Tür zur Südseite und tritt hinaus. Der Garten aber ist unbehelligt geblieben, darauf hat sie bestanden. Die drei Kirschbäume stehen jetzt in voller Blüte, und sie wird auch in diesem Jahr wieder in den Genuß der reifen Kirschen kommen, vielleicht sogar einen Demijohn mit klarem Schnaps und Früchten ansetzen, wie die alte Ahne es zeit ihres Lebens tat. Das Rezept hierfür liegt in der obersten Schublade des Vertiko. Auch den alten Apfelbaum im hinteren Teil des Gartens gibt es noch. Zwar erreichen seine Boskopäpfel nicht mehr die Größe wie früher, doch ist dies immer noch die Apfelsorte, die sie am liebsten ißt. Und wo in der Welt bekommt sie in den Supermärkten noch Boskopäpfel angeboten? Ein tragender Ast aber hat seinen Lebenswillen aufgegeben; er reckt sich nackt und kahl in den Himmel. Der eigne sich nicht mehr zum Aufpfropfen junger Triebe, hat der Gärtner ihr im Vorjahr gesagt, der stürbe langsam von innen ab. Sie nickt und streckt ihren Rücken. Es sind nicht nur Bäume, die altern. Sie selbst hat im April ihr sechzigstes Lebensjahr vollendet.

    Sie öffnet die Tür, die das Haus vom hinteren Teil trennt. Hier waren früher die Stallungen gewesen, wo die alte Ahne ein Dutzend Hühner hielt, zeitweise auch Enten und Gänse. Aber ohne das Eier legende Hühnervolk war sie nie gewesen. Die Stallungen hat man mitsamt den Grundmauern restlos wegrasiert und an ihrer Stelle einen Neubau hochgezogen, für den jetzt häufig das Wort Dependance herhalten muß. Der Bewohner dieses Anbaues aber hat ihm die Bezeichnung „KIEK UT" gegeben. Eine Holzscheibe mit von Hand geschriebenen schwarzen Buchstaben hängt über dem schmalen Treppenaufgang. Es sieht nach einem Stück Treibholz aus. Auch hier ist ein großer Raum entstanden, aufgeteilt in ein modernes Bad, das anstelle der üblichen Badewanne aber lediglich eine Dusche aufweist, und einen großzügigen Ankleideraum. Sie sieht die bis zur Decke reichenden Wandschränke, einen runden Tisch mit einem Aschenbecher und einer Pfeife, auf einem Tablett stehen ein umgestülptes Glas und eine halbvolle Flasche Black & White Whisky. Und für einen Augenblick wird sie an eine Dependance ähnlichen Zuschnitts erinnert. Zwar hat sie selbst nie in der Villa an der Kapstädter Bucht gewohnt, doch haben die Ideen des langjährigen Villenbesitzers hier eindeutig Pate gestanden.

    Sie steigt die enge Treppe hinauf und steht in einem Raum gleichen Zuschnitts, und doch ist dieser anders. Er hat an drei Seiten Fenster, keine Vorhänge, an der vierten anstelle eines Bettes eine Koje. Sie blickt auf Felder und Weiden, wo schwarz-weiß gefleckte Kühe grasen. Hier hat ihr Sohn sich sein „KIEK UT geschaffen. Günther, ihr Jüngster, hat den Beruf eines Seemanns gewählt. Ein Farmkind ist er nie gewesen, er hat nie in einem Sattel gesessen, weil ein Pferderücken ihm keinen Halt bot. Auch Donkeys hatte er nicht gemocht, die zwar gutmütig dreinblickten und doch so hinterhältig auskeilen konnten. Noch als Sechzehnjähriger hat er die Frage der HPS-Schulleitung in Windhoek, welcher Berufswunsch ihm vorschwebe, mit „ich weiß es nicht beantwortet. Der Knoten war erst geplatzt, als er die großen Ferien mit seiner Großmutter Gesine in Hamburg verbrachte, und diese trotz winterlichen Wetters eine Dampferfahrt nach Helgoland mit ihm unternahm. Sie glaubt auch heute noch, daß es eine Fügung „von oben" war, als Gesine in dem Kapitän des Helgoland-Dampfers einen Fahrensmann ihres verstorbenen Ehemannes Gerrit wiedererkannte. Der hatte dem schlaksigen Jungen aus Afrika eine zeitlang das Steuer überlassen und diesem aus Jux sogar seine Kapitänsmütze übergestülpt.

    Das Seefahrerblut war vom Großvater des Jungen in die Familie hineingetragen worden, denn Gerrits Vorfahren hatten die Ost- und Nordsee auf Schiffen befahren, als diese noch aus Holz gebaut und auf Wind und Segel angewiesen waren. Er war der erste in der langen Kette seiner Vorfahren gewesen, der das Kapitänspatent für Große Fahrt erwarb und auf Schiffen des Hapag Lloyd die Weltmeere befuhr. Daß er sich über Jahre hinweg fast ausschließlich unterhalb der Wasseroberfläche fortbewegen mußte, hatte mit dem U-Boot-Krieg des zweiten Weltkrieges zu tun.

    Sie fährt mit den Fingerspitzen über den Globus, der schon ein wenig vergilbt aussieht, weil er über fünfzig Jahre alt ist und bei Gerrit bereits das Fernweh weckte. Die Geburt seines Enkelsohnes im Jahre 1958 hat er nicht mehr erlebt. In seinem letzten Willen hat er seltsamerweise verfügt, daß seine Asche in der Saldanha Bay ins offene Meer gestreut werden solle. Sie sind bis heute nicht dahintergekommen, weshalb er sich ausgerechnet die Westküste Südafrikas hierfür aussuchte. Aber vielleicht hat auch hier der U-Boot-Krieg eine Rolle gespielt.

    Sie kehrt in das sonnige Erdgeschoß zurück, öffnet die linke Tür des altmodischen Vertikos, greift nach der noch halb gefüllten Flasche und einem Portweinglas und macht es sich in einem der Sessel bequem. Sie muß anfangen, sich in das alte Nest wieder einzugewöhnen wie die Schwalben es seinerzeit taten, wenn diese im Frühjahr aus dem Süden zurückkehrten und in den Stallungen der Ahne ihre Nester neu herrichteten. Sie füllt das Glas randvoll mit der tiefroten Flüssigkeit und leert es in mehreren Zügen. Ein Glas am Tag vom „Aufgesetzten" sei besser als jede vom Arzt verordnete Medizin, hatte die Ahne zeit ihres Lebens behauptet. Die war mit dieser Weisheit zweiundachtzig Jahre alt geworden und hatte ein Krankenhaus nie von innen gesehen.

    Sie streift die Schuhe von ihren Füßen und legt sie auf die gepolsterte Fußbank. Die Frühlingssonne berührt ihre Fußspitzen und sie spürt, wie die Strapazen der schlaflosen Nacht langsam von ihr abfallen. Draußen im Garten zwitschern Vögel, und die alte Standuhr im Alkoven schlägt zwölf dumpfe Schläge. Sie schließt die Augen, und plötzlich ist die Ahne wieder gegenwärtig. „Du wirst dein Leben lang immer wieder in das Nest deiner Vorfahren zurückkehren, hört sie diese flüstern. Diese Worte und die innere Wärme vom „Aufgesetzten verhelfen ihr zu einem leichten Schlaf.

    Die Gesundbeterin

    Glinde, im August 1942

    Margit drehte die letzte Haarsträhne auf den Lockenwickler und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, der an einem Haken an der Wand hing. Sie hatte sich heute etwas Neues ausgedacht. Wenn sie sich am Nachmittag eine Stunde lang in die Sonne setzte, würden die getrockneten Strähnen wie Schillerlocken herabfallen. Was Karl-Heinz wohl dazu sagen würde? Morgen um zwei Uhr nach dem Unterricht in der Handelsschule hatte sie sich in Planten un Blomen mit ihm verabredet. Ihre Mutter Gesine hatte davon keine Ahnung. Die tat Kriegsdienst bei Krause-Stickereien und würde erst kurz vor sechs zurück sein.

    Im Wohnzimmer hörte sie die alte Standuhr die halbe Stunde schlagen. Großer Gott, Punkt zwölf Uhr müsse der Tisch gedeckt sein, hatte Gesine gesagt, und sie solle die Räucherfische mindestens eine Viertelstunde lang auf die sonnige Fensterbank stellen, denn die brauchten vor dem Verzehr etwas Wärme. Auch dürften die Schnapsflasche und die zwei Gläser auf dem Tisch nicht fehlen. Sie griff nach der weißen Schürze und machte sich an die Arbeit. In der Küche hing noch der Duft von ausgelassenem Speck und gerösteten Schalotten. Gesine kochte phantastisch. Ihr Kartoffelsalat war wieder einmal preisverdächtig. Nur um Haaresbreite war ihr die Gelegenheit entgangen, in einem Hamburger Warenhaus die Kantine zu leiten, weil ihr künftiger Ehemann dies verhindert hatte. Sie brauche nicht für andere zu kochen und Geld hinzuverdienen, hatte der Erste Offizier Gerrit Bosch gesagt. Er als angehender Kapitän könne allein für seine Familie sorgen.

    Margit füllte den noch warmen Kartoffelsalat in eine Schüssel und machte sich auf die Suche nach den Fischen. In der Speisekammer unter einem Stück hauchdünner Gaze lagen sie, vor Fett glänzend und herrlich nach Rauch duftend. Ein Halbwüchsiger hatte sie am Vorabend an der Haustür mit der Bemerkung abgeliefert, die alte Frau wisse schon Bescheid und war danach pfeifend davon geradelt. Von der Großtante war lediglich herauszuquetschen gewesen, daß der Vater des Halbwüchsigen, dem mehrere Fischteiche gehörten, mit seinem künstlichen Bein, einem Überbleibsel des ersten Weltkrieges, nicht zurechtkäme und bei ihr gelegentlich um schmerzlindernde Sitzungen nachsuchte. „Bespreken hatte die Großtante ihre Sitzungen genannt, eine plattdeutsche Mundart, die der hochdeutsche Sprachgebrauch mit „Gesundbeten bezeichnete. Selbst Gesine war schleierhaft, was es mit den etwas dubiosen Heilungsmethoden ihrer Tante auf sich hatte, bis sie von einer Nachbarin erfuhr, daß in gewissen Abständen auch das Dreiradgefährt des Kolonialwarenhändlers Ripke am Gartentor der alten Frau hielt und dieser im Schnitt dreißig Minuten dort bliebe, manchmal sogar etwas länger. Natürlich nahm niemand an, daß zwischen dem Händler und der alten Frau sich etwas Ungeziemendes abspielte. Gott bewahre! Die ging auf die Achtzig zu und der Händler war nicht viel jünger. Doch war in Kundenkreisen bekannt, daß diesen in Abständen sehr schmerzhafte Gürtelrosen plagten, die kein Mediziner zu heilen verstand. Und dann war auch noch das Pferdegespann des steifbeinigen Großbauern Serck im Gespräch, von dem man wußte, daß der seit Jahren an offenen Beinen litt. Böse Zungen behaupteten zwar, daran sei die Inzucht in seiner Familie schuld, denn der Bauer hatte bisher keinen einzigen Erben zeugen können, und gelegentliche Seitensprünge hatten auch nichts hervorgebracht.

    Als Gegenleistung für ihr „Bespreken bestand die alte Frau auf die Lieferung von Naturalien mit der Einschränkung, daß nichts aus dem Garten kommen dürfe, denn den habe sie selber, überließ es aber ihren „Patienten selbst zu entscheiden, was die Heilung ihnen wert sei. Und daran änderte auch der Krieg mit seinen streng zugeteilten Lebensmittelrationen nichts. Dies hatte zur Folge, daß Großbauer Serck in der Jagdsaison regelmäßig einen erlegten Hasen und einiges von den Hausschlachtungen über den Gartenzaun warf, Ripke regelmäßig die Regale in ihrer Speisekammer auffüllte, wozu in unabänderlicher Folge eine Flasche klarer Schnaps gehörte, und der Kriegsinvalide, Glatteis und Schnee meidend, zu jedem Jahreswechsel einen seiner Söhne mit einem nach Luft schnappenden Karpfen ins Haus schickte, den die alte Frau unverzüglich in der Regentonne verschwinden ließ, wo Gesine ihn am Silvestermorgen mit Hilfe eines Drahtsiebes wieder herauszufischen versuchte.

    Gemessen an Gesines Stadthaushalt, die sich mit den Kriegszuteilungen einrichten mußte, hing in dieser Speisekammer stets ein Hauch aus alten friedfertigen Zeiten, und die gefüllten Regale trugen untrüglich dazu bei, daß Margit die Wochenendfahrten nach Glinde ohne zu murren ertrug. An den restlichen fünf Wochentagen mußte sie die Schulbank in der Handelsschule in der Schlankrye drücken. Sie warf einen letzten Blick auf den gedeckten Tisch. Nein, sie hatte diesmal die weißen Servietten richtig gefaltet, worauf ihre Mutter großen Wert legte und auf unbedingte Pünktlichkeit. Diese Dinge hatte man ihr anscheinend in der Kolonialschule in Rendsburg eingebläut, denn Margits Patentante, Lotte Hagen in Ascheberg, war genauso ein Pünktlichkeitsapostel. Immerhin, links am Tischrand stand die Schnapsflasche neben den zwei Gläsern. Heute war Bommerlunder an der Reihe.

    Zwei Stunden später saß sie im Garten in der warmen Augustsonne. Gesine und die Großtante hielten ihre zweistündige Mittagsruhe. Im Haus und Garten wurde am Nachmittag nicht mehr gearbeitet. Sie zog die Wickler vorsichtig heraus und ließ ihre Locken auf die Schulter fallen. Herrlich sahen sie aus! Auch Karl-Heinz würde begeistert sein. Sie hatten sich vor sechs Wochen bei einer Kinovorstellung in der Neuen Blumenburg kennengelernt. Ob der Platz zu ihrer Linken noch frei sei, hatte er sie höflich gefragt, obwohl er die Platzkarte doch in der Hand hielt. Ein junger Soldat in Feldgrau, einen Kopf größer als sie, sein blondes Haar militärisch kurz gestutzt und mit einem gut geschnittenen Gesicht, hatte sich neben sie gesetzt. Sein gewinnendes Lächeln und seine ebenmäßigen weißen Zähne hatten es ihr besonders angetan, und sie hatte sich auf den ersten Blick in diesen jungen Soldaten verliebt.

    Nach der Kinovorstellung hatte er sie in eine kleine Eckkneipe eingeladen, wo sie sich bei einem rot gefärbten Kriegsgetränk Einzelheiten ihres noch kurzen Lebens schilderten. Er sei 22 Jahre alt und habe sich für eine Laufbahn beim Finanzamt entschieden, hatte Karl-Heinz gesagt. Seiner Familie läge das Beamtensein im Blut, alle seien Staatsdiener gewesen. Zu Geld und Gütern habe es daher keiner von ihnen gebracht. Aber Finanzämter würde es immer geben, die gingen nie pleite, hatte er seine Familiengeschichte lachend beendet. Und welche Zukunftspläne schwebten ihr vor?

    Sie sei für zwei volle Jahre auf eine Handelsschule verbannt worden, hatte Margit geantwortet und dabei das Gesicht verzogen. Wozu sie in ihrem späteren Leben wohl über eine doppelte Buchhaltung Bescheid wissen müsse. Dabei interessiere sie sich für kunstgewerbliche Dinge, überhaupt für Kunst. Die Wochenenden verbrächte sie mit der Mutter bei einer Großtante auf dem Lande, wo sie vom nächtlichen Fliegeralarm verschont blieben. Auch säßen sie dort an einem reichlich gedeckten Tisch, denn die alte Frau verstünde etwas vom Heilen schmerzender Gürtelrosen. Karl-Heinz hatte aufmerksam zugehört und genickt. Ein Onkel seiner Mutter sei Imker in der Lüneburger Heide und unterhielte sich mit seinen Bienenvölkern. Als Schuljunge habe er oft die langen Sommerferien dort verbracht.

    Beim nächsten Treffen hatten sie sich unter einem alten Kastanienbaum verabschiedet. Die Eisdiele hatte bereits geschlossen, denn es ging auf zehn Uhr zu und hier, unter dem grünen Dach der alten Kastanie, hatten sie sich zum ersten Mal geküßt. Es waren Küsse voll Schüchternheit und Scheu gewesen, erinnerte sie sich Jahre später, und doch waren sie der Beginn einer zarten Liebesbeziehung, wie sie nur zwischen sehr jungen Menschen entsteht, denen der Sinn nach Geld und Gütern noch fremd war. Zehn Glockenschläge der kleinen Kirche, die wenige Monate später Bomben zum Opfer fallen sollte, hatten Margit in die Wirklichkeit zurückgeholt. Sie müsse gehen, hatte sie geflüstert, ihre Mutter wisse nichts von dieser Verabredung. Die wähnte sie mit einer Schulfreundin im Kino.

    Margit verließ ihren Platz an der Sonne und beschloß, ihrer Mutter während der Heimfahrt reinen Wein über ihre heimlichen Treffen mit Karl-Heinz einzuschenken. Auch Gesine würde Karl-Heinz leiden mögen, ihn vielleicht an einem Abend in der Woche zum Essen einladen, wenn sie wieder mit gefüllten Taschen aus Glinde heimkehrten.

    Der Gestellungsbefehl für ein Himmelfahrtskommando

    Hamburg, im April 1943

    Die zwei Jahre auf der ungeliebten Handelsschule waren geschafft. Die letzten Prüfungsbögen lagen ausgefüllt vor ihr, und jetzt kam noch der Fragebogen dran, den Rektor Hausmann mit der Begründung ausgeteilt hatte, man wolle an höherer Stelle wissen, welche Berufswünsche jungen Schulabgängern vorschwebten, bevor diese ihre ersten selbständigen Schritte unternahmen.

    Das klingt verdächtigend großzügig, dachte Margit und rümpfte die Nase, wo doch sonst jedem Volksgenossen von höherer Stelle vorgeschrieben wird, was er zu denken habe, wo er dem Staat dienen und daß er für diesen notfalls auch sterben müsse.

    Das hatte sie am eignen Leib erfahren, als Karl-Heinz eines Abends, es war im Januar gewesen, völlig unerwartet in Gesines Wohnung erschien, um sich zu verabschieden. Seine Einheit würde am nächsten Tag verlegt werden, hatte er gesagt. Wie bei der Wehrmacht üblich, war das Wohin geheim. Karl-Heinz und seine Kameraden hofften aber, nicht nach Rußland zu müssen. Gesine hatte rasch ein gehöriges Stück vom noch warmen Napfkuchen abgeschnitten und in Pergamentpapier eingewickelt, für unterwegs, hatte sie gesagt. Auch sie hatte den blonden Jungen gemocht. Für Margit aber war eine Welt zusammengebrochen. Als sie im Treppenhaus voneinander Abschied nahmen, war sie in Tränen aufgelöst gewesen. Er werde ihr regelmäßig schreiben, hatte er versprochen. Jetzt erhielt sie zweimal im Monat einen Feldpostbrief. Seine Einheit war nach Frankreich verlegt worden, nicht an die Ostfront. Wenigstens das war tröstlich. Aber auch dieser Krieg würde einmal zu Ende gehen, hatte Paul Schröder gesagt, als Gesine ihn zu einer Tasse Hagebuttentee einlud. Zumindest seit dem Fall von Stalingrad sei es den Bonzen in Berlin klar geworden, daß es ihnen demnächst persönlich an den Kragen gehen würde. Gesine hatte Margit hinterher beschworen, um Himmels Willen kein Wort über Pauls Äußerung nach draußen zu tragen. Als Polizist geriete der in unvorstellbare Schwierigkeiten, man würde ihn vielleicht sogar erschießen.

    Konnte es wirklich sein, überlegte Margit, daß man dann sagen und tun und lassen konnte, was man wollte? Sie zog den Fragebogen näher heran und begann zu schreiben. Drei Wochen später stellte sie fest, daß sie sich damit in ein Hornissennest gesetzt hatte.

    Von meinen Vorfahren mütterlicherseits habe ich handwerkliches Geschick vererbt bekommen;

    In der Höheren Handelsschule bekam ich das Rüstzeug für den kaufmännischen Teil vermittelt;

    Jetzt suche ich eine Lehrstelle, wo ich meine handwerklichen Talente erweitern kann;

    Mein Berufswunsch geht in die Richtung Konfektion (Mode) oder Kunsthandwerk (Graphik)

    Sie unterschrieb den Fragebogen mit ihrem vollen Namen, setzte ihre Adresse darunter und beschloß, die Fragebogenangelegenheit daheim mit keinem Wort zu erwähnen. Ihre Mutter würde sich wieder einmal über ungelegte Eier aufregen. Draußen auf dem Schulhof standen die Schülerinnen noch eine Weile beisammen und lachten über ihre unterschiedlichen Berufswünsche. Gabriele Finke, ein dunkelhaariger, etwas zigeunerhafter Typ, zog buchstäblich eine Szene ab. Sie wolle eine Größe am Schauspielhimmel werden und mit Gustav Gründgens später auf der Bühne stehen, sagte diese und warf sich dabei in die Pose einer Duse, woraufhin die Mädchen lachend in alle Himmelsrichtungen davonstoben.

    Gabriele hat das Talent dazu, glaubte auch Margit, und machte sich auf den Heimweg in Richtung Isebekkanal. Als sie den letzten Brückenpfeiler erreichte, begannen die Sirenen aufzuheulen. Schon wieder ein Tagesangriff, stellte sie verärgert fest. Sie war hungrig und beschloß, rasch die Straße zu überqueren und in der kleinen Bäckerei eine Bienenstichschnitte zu kaufen. Das tat sie oft. Daher trug sie die 50 Gramm Brotmarken stets bei sich. Doch nach den ersten Schritten sah sie die Verkäuferin die Ladentür verschließen und in Richtung Goebenstraße davoneilen. Dort mußte auch sie schnellstens Schutz suchen, denn in der Goebenstraße stand ein Luftschutzbunker.

    Am nächsten Morgen blickte sie ungläubig auf die Straßenseite, wo am Vortage noch der Bäckerladen zu sehen war. Ein Bombenteppich hatte den gesamten Häuserkomplex in Schutt und Asche gelegt.

    „Luftminen, sagte die Besitzerin des Papierwarengeschäfts und schob Margit die Tagesausgabe des „Merkur zu. „Zum Glück sind die meisten Minen in den Isebekkanal gefallen. Sonst gäbe es auch diesen Laden nicht mehr." Margit klemmte sich die Zeitung unter den Arm und verließ den Laden. Etwas in ihrer unmittelbaren Nähe hatte sich über Nacht verändert. Es sollte Schlimmeres folgen.

    Drei Wochen nach Schulabschluß fiel ein an Margit Bosch gerichtetes Schreiben durch den Türschlitz. Wehrbereich Altona, las sie. Ihr wurde augenblicklich klar, was dies Schreiben für sie bedeutete. Gabriele Finke hatte ihren ehemaligen Mitschülerinnen bei der Abschlußfeier ihren Gestellungsbefehl gezeigt und dazu bemerkt, daß sie dann eben mit einem Soldaten auf der Bühne stehen würde und nicht mit Gustav Gründgens.

    Gabriele Finke war anscheinend durch nichts klein zu kriegen, bei Margit aber löste der Brief Panik aus. Als sie am Abend ihre Mutter die Etagentür öffnen hörte, lief sie ihr weinend entgegen. „Mama, ich habe einen Gestellungsbefehl erhalten, rief sie, „als Wehrmachtshelferin.

    Gesine Bosch zog die Tür leise ins Schloß und legte den Schlüssel auf die Flurgarderobe. „Komm mit in die Küche, sagte sie und zog ihre Halbschuhe von den Füßen. „Ich muß den Brief sehen. Sie zog eine Haarnadel aus ihrem Knoten und fuhr damit unter den Verschluß. Gesine las noch ohne Brille. „Nein, die wollen dich nicht als Blitzmädchen einziehen, Margit. Was die vorhaben, ist weit schlimmer. Du sollst als Flakhelferin im Raum Hamburg eingesetzt werden."

    Jetzt war es mit Margits Fassung gänzlich vorbei. Sie setzte sich an den Küchentisch, legte ihren Kopf auf die verschränkten Arme und begann hemmungslos zu weinen. Gesine Bosch war kein Freund schneller Entschlüsse. Bei Krause-Stickereien, wo sie seit einem Jahr beschäftigt war, kamen ihr fast täglich Ereignisse zu Ohren, die immer mit dem Krieg zu tun hatten. Auch Meta Jürgens, ihre Kollegin, hatte ihren Teil abbekommen, nachdem ihre Wohnung in Hasselbrook Bomben zum Opfer fiel und sie mit ihren Kindern in ihr Elternhaus nach Rissen zurückgekehrt war.

    „Das lasse ich mir nicht gefallen", sagte sie nach einer Weile. Ihr Ehemann auf einem U-Boot irgendwo im Atlantik, sie in einem kriegswichtigen Betrieb, und jetzt griff der Krieg auch noch nach ihrer Tochter. Sie mußte blitzschnell handeln, sonst würden sie Margit in zwei Wochen einkleiden.

    „Und was willst du tun?", fragte Margit und suchte in der Schürze nach einem Taschentuch.

    „Ich werde morgen früh Tante Lotte anrufen. Du wirst auf dem Hagen-Hof das vom Staat vorgeschriebene Pflichtjahr antreten. Und zwar sofort."

    Margit sog hörbar die Luft ein. „Wird Tante Lotte zustimmen? Onkel Hinnerk ist schließlich ein hohes Tier in Hitlers Partei."

    „Sie ist deine Patentante, Margit, erwiderte Gesine und machte eine wegwerfende Handbewegung, „zwischen dich und deine Patentante stellt sich keine Partei. Daran anschließend werde ich die Dienststelle in Altona aufsuchen und denen dort sagen, du hättest dein Pflichtjahr auf dem Hagen-Hof bereits angetreten.

    Margit nickte. „Das könnte klappen. Alles, was mit der Landwirtschaft zu tun hat, ist doch kriegswichtig. Oder?"

    „Es muß klappen, erwiderte Gesine. „Und jetzt laßt uns anfangen zu essen. Es ist gleich acht Uhr. Es gab aufgewärmten Kohl mit einem Zipfel geräucherten Speck vom Großbauern Serck. Es duftete verführerisch, doch keine der beiden Frauen verspürte rechten Appetit.

    Am nächsten Morgen verließ Gesine ihre Wohnung eine halbe Stunde früher als üblich. Sie hatte in den Nachtstunden einen Plan gefaßt, den sie zeitlich einhalten mußte. Zwanzig Minuten vor der gewohnten Zeit stand sie an ihrem Arbeitsplatz. Meta Jürgens erschien aus Gewohnheit als erste und schloß die Tür zum Werksraum auf. Gesine besaß einen Zweitschlüssel. Für Notfälle. Meta war seit zwei Jahren bei Krause-Stickereien beschäftigt und zur Vorarbeiterin aufgestiegen. Gesine hatte sich vom ersten Arbeitstag an mit ihr verstanden. Ob Gesine wohl den Papierkram übernehmen und mit den Zulieferern verhandeln und notfalls die Ware in Empfang nehmen würde, hatte Meta gefragt. Sie selbst wolle liebend gern für den praktischen Teil verantwortlich bleiben.

    Gesine war auf den Vorschlag sofort eingegangen. Noch lieber hätte sie einen Kantinenbetrieb übernommen. Eine Kantine aber gab es bei Krause-Stickereien nicht. Die Stickerinnen verzehrten ihre Brotschnitten an ihren Arbeitsplätzen, einige brachten Rhabarbersäfte in Flaschen, andere heißen Tee in Thermoskannen mit. Fast alle Frauen rauchten, auch Meta, stellte Gesine zu ihrer Verwunderung fest.

    „Meta, kann ich dich kurz sprechen?, fragte sie und zog die Kollegin in einen abgeteilten Raum, wo ihr Schreibtisch stand. Hier war sie sicher, daß niemand mithörte. „Ich muß jetzt gleich nach Altona fahren und dort etwas Dringendes regeln. Sie teilte Meta Jürgens mit, um welche dringende Sache es sich handelte.

    „Was sagst du da? Flakhelferin? Meta Jürgens schlug vor Entsetzen beide Hände vors Gesicht. „Das ist ja das reinste Himmelfahrtskommando, Gesine. Davon mußt du deine Tochter wegholen, unbedingt.

    Gesine überlegte, ob sie Meta anlügen und so tun sollte, als ob Margit bereits auf dem Weg nach Ascheberg sei, fühlte sich bei dem Gedanken aber nicht wohl. Meta war eine zu ehrliche Haut. Die belog man nicht. „Margit fährt morgen mit dem Zug und wird auf einem Bauernhof in Holstein mit dem Pflichtjahr beginnen. Der Koffer ist schon so gut wie gepackt. Und nun kommt dies dazwischen."

    Meta nickte mitfühlend. „Die Sache kannst du nicht hinauszögern. Wenn die bei der Flak deine Tochter erstmal zu fassen haben, lassen sie die so leicht nicht wieder los."

    „Der Vormittag könnte mit draufgehen, gab Gesine zu bedenken. „Würdest du für mich die Telefongespräche annehmen?

    „Selbstverständlich tue ich das, entrüstete sich Meta und zog ihren ärmellosen Kittel über. „Du, warte mal, da fällt mir was ein. Sievers Import-Export riefen gestern kurz nach Dienstschluß an. Ich glaube, du warst gerade aus der Tür. Sie begann Gesines Schreibtisch nach einer Notiz abzusuchen. „Hier ist es. Die Goldfäden für die Kriegsmarine sind eingetroffen. Für heute haben wir noch genug, aber morgen brauchen unsere Frauen die. Sievers haben ihre Büros irgendwo am Hafen. Ich glaube am Vorsetzen."

    Gesine nickte. „Ich weiß, Meta. Ich war schon mal da. Ich will nur schnell das Heft mit den Bezugscheinen einstecken und bringe die Goldfäden gleich mit."

    Zehn Minuten später betrat sie die Wohnung der Nachbarn. Paul und Erna Schröder waren für fünf Tage zu Verwandten an die Ostsee gefahren. Paul war bei der Hamburger Polizei beschäftigt und besaß ein Telefon. Es war ein Diensttelefon. Gesine wählte das Fernamt und nannte dem Fräulein vom Amt die Nummer des Hagen-Hofes bei Ascheberg.

    „Wird es lange dauern?" erkundigte sie sich.

    „Ungefähr fünfzehn Minuten", antwortete eine angenehme Frauen­stimme.

    Zehn Minuten später verließ sie aufatmend Schröders Wohnung und betrat ihre eigene. Auf den Betten im Schlafzimmer sah sie den offenen Koffer liegen. Margit hatte also schon mit Packen begonnen, stellte sie fest, doch von ihrer Tochter selbst keine Spur. Sie entdeckte sie auf dem Balkon, wo sie Blusen und Sommerröcke auf Leinen zum Trocknen hängte. Margit steckte den Kopf zur Tür herein, als sie ihre Mutter in der Küche stehen sah.

    „Ich dachte, du wärst auf dem Weg nach Altona?", sagte sie.

    „Dahin gehe ich jetzt. Ich mußte zunächst Meta Jürgens über mein Vorhaben aufklären. Danach habe ich von Onkel Pauls Telefon aus mit Tante Lotte telefoniert. Sie holt dich morgen um zwei Uhr am Bahnhof Ascheberg ab." Gesine öffnete die Tür zur Speisekammer und zog eine geräucherte Dauerwurst vom Haken.

    „Was willst du denn mit der Wurst anstellen?", fragte Margit.

    Gesine zog ohne zu antworten zwei Bogen eines „Merkur" vom Vortage hervor und begann die Wurst vorsichtig darin einzudrehen, drückte die Papierrolle prüfend an ihre Nase, griff nach zwei weiteren Zeitungsseiten und wiederholte den Vorgang.

    „Wohin willst du mit der Wurst?, wiederholte Margit ihre Frage. Sie hatten diese vor drei Wochen aus Glinde mitgebracht und ihre Mutter hatte sie mit den Worten „unsere eiserne Ration sofort in der Speisekammer verschwinden lassen. Und nun verschwand diese Kostbarkeit erneut in einem Wust alter Zeitungen.

    „Die nehme ich mit zur Dienststelle nach Altona und werde deine Freistellung damit eintauschen. Das Leben eines jungen Mädchens gegen eine Dauerwurst."

    Margit bekam es mit der Angst zu tun. „Machst du dich damit nicht strafbar?" Ihre Mutter begann hier ein Ding zu drehen.

    „Mir bleibt keine andere Wahl, Margit. Dein Leben hängt im Augenblick von einem Stück Papier ab, und der diensthabende Soldat in Altona weiß es. Ich werde ihm sagen, du hättest mit deinem Pflichtjahr auf einem kriegswichtigen Gut in Holstein bereits begonnen. Der Soldat drückt einen Stempel auf deinen Gestellungsbefehl und läßt diesen in den Akten verschwinden."

    „Und wozu brauchst du dann die Wurst?"

    „Um unnötige Nachfragen zu umgehen. Tante Lotte spielt das Spiel mit, falls er dort nachfragen sollte. Und jetzt stell nicht auch du noch unnütze Fragen."

    Margit setzte einen Schmollmund auf und begann die restlichen Wäschestücke festzuklammern. Der Vergleich mit einer Dauerwurst war nun wirklich alles andere als schmeichelhaft, stellte sie fest.

    * * *

    Lotte Hagen band die Zügel fest und hängte der alten Mary den Futtersack um. Die Stute hatte eine Verschnaufpause redlich verdient. Sie warf einen Blick auf die Bahnhofsuhr. Eine halbe Stunde vor vier war es. Auf alle Fälle war sie pünktlich zur Stelle. Sie ging zum Schalter und klopfte mit dem Zeigefinger gegen die geschlossene Scheibe „Schönen guten Tag, Hugo. Ich erwarte Besuch. Hat der Zug aus Hamburg Verspätung?"

    Der Mann mit der roten Schirmmütze wies auf ein schwarzes Telefon, das ihn mit anderen Bahnhöfen verband. „Vor zwei Minuten hat man mich angerufen, Frau Hagen. Er soll in dreißig Minuten hier sein."

    „Wunderbar. Und vom Waggon mit dem Kunstdünger schon eine Spur?"

    Der Bahnhofsvorsteher hielt ein Stück Papier in die Luft. „Den Frachtbrief hab’ ich schon. All zu weit weg kann der Waggon dann nicht mehr sein. Zu um fünf hat man mir noch einen Güterzug gemeldet. Ich rufe Sie sofort an, sobald der Waggon mit dem Kunstdünger da ist."

    „Verbindlichen Dank, Hugo. Das wird mir sehr helfen." Sie würde diesem hilfsbereiten Mann demnächst wieder eines von den fetten Suppenhühnern ins Haus schicken. Hugo Hass tat seit zwanzig Jahren Dienst auf diesem Bahnhof. Seit acht Jahren trug er die rote Mütze des Vorstehers, nachdem sein Vorgänger pensioniert worden war. Die meisten Beamten der Reichsbahn mußten mit dem auskommen, was die Lebensmittelkarten ihnen zuteilten. Oft konnten sie ein Stück Land bepflanzen, das der Bahn gehörte. Aber was gab ein Zipfel Land schon her? Frisches Gemüse in den Sommermonaten und ein paar Zentner Kartoffeln für den Winter. Mehr nicht.

    Sie verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann auf das Ende des Bahnhofes zuzugehen. Da die Aprilsonne ungewöhnlich warm war, hatte sie sich für einen hellgrauen Wollrock und eine blaßblaue Sportbluse mit langen Ärmeln entschieden. Ihrer Größe wegen trug sie Schuhe mit flachen Absätzen, worauf ihr Mann bestanden hatte. In Schuhen mit hohen Absätzen wären sie gleich groß gewesen, und aus irgendeinem Grund hatte Hinnerk das nicht gewollt. Die letzten zwei Stunden hatte sie bei ihrer Friseuse in Plön zugebracht, ein Luxus, den sie sich alle vierzehn Tage leistete. Sich in einen der bequemen Stühle zurücklehnen, die Augen schließen und an nichts denken müssen, war für sie jedes Mal wie eine Fahrt ins Blaue. Die Friseuse hatte ihr auch heute wieder eine der neuen Frisuren aufzuschwatzen versucht; die Außenrolle sei jetzt modern. Lotte wußte es, hatte aber mit einem Lächeln angedeutet, daß es beim aufgesteckten Haarknoten bliebe. Es war immer noch die gleiche Frisur, die Gesine und sie damals in der Kolonialschule in Rendsburg an sich ausprobiert hatten, und da sie auch gleich groß waren, wurden sie oft für Schwestern gehalten. Gerrit Bosch hatte, als sie alle vier Brautleute gewesen waren, sogar einen etwas derben Scherz daraus gemacht. „In einer mondlosen Nacht dürfte ich euch beiden nicht begegnen. Ich wäre mir da nicht ganz sicher, ob ich die Richtige erwische."

    Alle hatten über diesen Scherz gelacht, nur Hinnerk nicht. Der war Gerrit gegenüber immer etwas reserviert geblieben, weil der junge Seeoffizier bis in die entferntesten Häfen der Welt fuhr, auf ihn aber der Hagen-Hof in der Holsteinischen Schweiz wartete. Sie hatten jung geheiratet, Hinnerk war dreiundzwanzig gewesen und ein Jahr älter als sie. Eine Woche vor der Hochzeit hatten Hinnerks Eltern sich eine hübsche Villa in Bad Schwartau gekauft, mit einem Stück Rasen vor der Haustür und Ziersträuchern drum herum. Mutter Hagen wollte kein Obst mehr von den Bäumen pflücken und auch keine Marmelade mehr kochen. Im Alter wolle sie es bequemer haben. So waren die alten Hagen mit einem verkleinerten Hausstand in ihr neues Heim gezogen und hatten es Hinnerk und ihr überlassen, die Arbeitsbereiche auf dem Gut unter sich aufzuteilen. Sie hatte den Melkbetrieb mit achtzig Kühen übernommen und sich damit Hinnerks Zustimmung zur Erweiterung des Geflügelhofes eingehandelt. Sie hatte auch im Garten Veränderungen vornehmen lassen - alte Obstbäume und Rasenflächen wurden entfernt, Gemüsebeete angelegt. Die alten Hagen waren verständige Eltern gewesen, hatten sich in nichts eingemischt, auch nicht kritisiert, wenn Veränderungen im Betrieb zunächst ohne Erfolg blieben. Dadurch war es zwischen Hinnerk und ihr zu einer Zusammenarbeit gekommen, die am Ende Früchte trug, auch in finanzieller Hinsicht.

    An einem Vormittag im Mai 1935 war plötzlich ein offener Mercedes Benz beim Gutshaus vorgefahren. Lotte hatte im Vorgarten gestanden und Rosenstöcke beschnitten. Sie erwartete keinen Besuch, ging dennoch auf das teure Mobil und seinen Fahrer zu, um diesen zu begrüßen. Der trug eine eng anliegende Lederkappe und eine von den Schutzbrillen wie Auto- und Motorradfahrer sie trugen. Erst als ihr Schatten auf ihn fiel, hob er den Kopf und grinste. Der Fahrer war Hinnerk. „Gefällt dir das neue Auto?, fragte er und öffnete den Verschluß der Lederkappe. „In diesem Benz werden wir beide nach der Ernte in Richtung Süden fahren, und du wirst an meiner Seite sitzen. Lotte war sprachlos gewesen und hatte nur genickt. „Dann steig ein, hatte er gesagt und mit dem Finger auf den Sitz zu seiner Rechten gewiesen, „wir machen schnell eine Probefahrt in Richtung Ascheberg.

    Sie waren in der ersten Septemberwoche gefahren, hatten ihren zehnjährigen Sohn Detlef in die Obhut der Großeltern gegeben, da dieser nach den Ferien auf die Oberschule in Lübeck hinüberwechseln sollte. Mit drei Koffern auf den Rücksitzen waren sie im offenen Benz durch die hügelige Mosellandschaft gefahren. Die Weinberge hatten sich herbstlich zu färben begonnen; sie waren in einem Boot auf dem Bodensee gerudert, hatten zu Mittag frisch gefangene Felchen gegessen und dazu Wein getrunken. In München waren sie drei volle Tage geblieben. Lotte hatte sich völlig unwohl in der lärmenden Atmosphäre des Hofbräuhauses gefühlt. Die große, von Rauch und Bierdunst geschwängerte Halle mißfiel ihr. Hinnerk aber hatte sie an die Hand genommen und hinter sich hergezogen, bis sie in jenem Bürgerkeller landeten, wo Hitler (Hinnerk sagte „der Führer") seine flammenden Reden gehalten hatte.

    Hinnerk war der NSDAP bereits im Jahr 1932 beigetreten und hatte Lotte ein Jahr später gedrängt, das gleiche zu tun. Erst später war sie dahintergekommen, daß Hinnerks Begeisterung für Hitlers Partei von Mutter Hagen aus ging. Seit die neue Regierung am Ruder sei, ginge es der Landwirtschaft in Schleswig Holstein endlich wieder besser; das Parteiengezänk in Berlin hätte sie noch alle in den Bankrott getrieben, hatte sie behauptet. Auf dem Rückweg hatten sie Ulrich Kreidl in Landshut besucht, der ein Kriegskamerad und Freund vom alten Hagen gewesen war. Er war auch Hinnerks Patenonkel. Als Schüler war Hinnerk dort oft Gast gewesen, denn er war ein guter Sportler und begeisterter Skiläufer. Im Gegensatz zu Hinnerk aber war Ulrich Kreidl ein entschiedener Gegner der Hitlerbewegung. Er gehörte unverändert der bayerischen Volkspartei an, die seit Hitlers Machtergreifung aber offiziell zu bestehen aufgehört hatte. Ihre unterschiedlichen politischen Meinungen hatten leider zu einem Bruch zwischen dem Paten und seinem Patensohn geführt, der nie wieder heilte.

    Jetzt stand der Benz in der Remise. Bei Kriegsbeginn hatte die Wehrmacht ihn zum Invaliden gemacht und seine vier Räder für den Fronteinsatz requiriert. Lotte hatte ihm daraufhin vier stabile Eichenblöcke unterschieben lassen und mit mehreren Tüchern zugedeckt. Der Staub drang trotzdem hindurch und legte sich auf Lack und Lederpolster. Dennoch gab sie die Hoffnung nicht auf, daß der Benz nach dem Kriege wieder neue Reifen bekommen und mit ihnen auf Fahrt gehen würde, obwohl ihr dieses Zukunftsbild in letzter Zeit nicht mehr recht gelingen wollte. Hinnerk war vor zwei Monaten mit 120000 Kameraden in Stalingrad eingekesselt worden. Sie redete sich täglich ein, daß er noch am Leben sei, doch sich an diesem dünnen Faden Hoffnung Tag für Tag erneut aufzurichten, fiel ihr manchmal verdammt schwer.

    Hinter ihrem Rücken zog eine Dampflok die Bremsen an. Der Zug aus Hamburg war eingetroffen. „Tante Lotte", rief eine fröhliche Stimme, ein junges Mädchen stand auf dem Bahnsteig und winkte mit beiden Armen. Es trug ein buntes Sommerkleid und einen alten Strohhut, ein Koffer und eine abgeschabte Tasche standen neben ihm. Plötzlich setzten die schlanken Mädchenbeine sich in Bewegung und Lotte Hagen breitete in einer Geste von Freude ihre Arme aus. Welch ein herrliches Gefühl war es doch, wenn ein Stück unbeschwerte Jugend dahergeflogen kam!

    Die große Gutsküche lag nach Osten hin und maß stattliche zweiundvierzig Meter im Quadrat. Boden und Wände waren weiß gefliest, an den Wänden hingen uralte Küchengeräte, wie Generationen vor den Hagens sie benutzt hatten. An der linken Seite befanden sich zwei Türen. Die erste führte über fünf hölzerne Stufen in eine etwas schlauchförmige Speisekammer, wo unzählige Dosen und Glaskonserven aneinandergereiht und säuberlich beschriftet auf stabilen Regalen standen. Durch die zweite Tür gelangte man in den Keller, der nach Lotte Hagens Erfahrung der wichtigste Raum im ganzen Gutshaus war. Hier wurden all jene Dinge gelagert, die weder Wärme noch direktes Sonnenlicht vertrugen, die vor Frost zu schützen waren und ein ganzes Jahr lang haltbar bleiben mußten. Die jungen Pflichtjahrmädchen rümpften jedes Mal die Nasen, wenn sie die Treppe hinabstiegen und ihnen ein Gemisch von Saurem, Geräucherten und Gepfefferten entgegenschlug. Seit kurzem war noch der Geruch von Gegorenem hinzugekommen, weil die Chefin Sauerkraut herzustellen versuchte.

    Der Mittelpunkt in der Gutsküche aber war der freistehende Senking Herd, ein Prachtexemplar aus Gußeisen mit acht Brennstellen, einem großen Backofen und einem eingebauten Heißwasserspeicher. Die Anschaffung des großen Herdes war Lottes Idee gewesen, was zur wortstarken Opposition der beiden Hagen-Männer geführt hatte. „Ein Monster, das sich für eine Hotelküche eignet", hatte der alte Hagen geknurrt, war aber von Mutter Hagen energisch in seine Schranken verwiesen worden. Es gäbe durchaus Zeiten, da gliche die Hektik in dieser Gutsküche der eines Hotels, wenn zwei Dutzend hart arbeitende Erntehelfer verköstigt werden müßten, hatte die gesagt. Und das war zur gegenwärtigen Zeit der Fall. Drei Monate waren seit Margits Ankunft vergangen, und auf dem Hagen-Hof war es Erntezeit. Es war Juli, die Fenster standen weit offen, der Himmel war wolkenlos und aus den Scheunen war der monotone Arbeitstakt der Dreschmaschine zu hören. Zu Mittag mußten vierundzwanzig Erntehelfer mit einem reichhaltigen Mittagessen verköstigt werden. Traditionsgemäß geschah dies in der großen Diele des Gutshauses. Da das Wetter jedoch schön war, hatte Lotte Hagen lange Holztische und Bänke neben der Küche aufstellen lassen, wo die Erntehelfer im Schatten hoher Obstbäume sitzen würden. Heute würde es Hühnerfrikassee mit Reis und grünem Salat geben. Der Nachtisch, Grießbrei mit Rhabarberkompott, stand bereits fertig angerichtet in Schüsseln auf dem Küchentisch.

    Die Chefin, wie Lotte Hagen auf dem Gutshof genannt wurde, hatte am Vorabend das Tagesprogramm mit ihren drei Pflichtjahrmädchen besprochen und die Arbeiten unter ihnen aufgeteilt. Jetzt standen drei junge Mädchen mit vorgebundenen Schürzen und weißen Tüchern um ihre Haare gebunden in der Küche. Zwei der Mädchen warteten auf die Chefin, das dritte, Rena, arbeitete sich mit beiden Fäusten durch einen Hefeteig hindurch, den sie später auf drei gefettete Backbleche verteilen, mit geviertelten Zwetschen belegen und in den heißen Backofen schieben würde. Rena hatte sich freiwillig für ein zweites Pflichtjahr auf dem Hagen-Hof verpflichtet und war Lottes große Stütze. Sie war als Älteste von vier Geschwistern in nicht begüterten Verhältnissen im Erzgebirge aufgewachsen. Ursprünglich hatte sie sich bei der Post in Annaberg um die Stelle einer Telefonistin beworben, ihrem Antrag war jedoch abschlägig beschieden worden, weil ihr Untergewicht und ihre noch nicht vollendeten sechzehn Lebensjahre dagegen sprachen. Ein Pflichtjahr auf dem Lande dagegen hatte die Jugendbehörde unterstützt. Rena sah nicht nur dünn aus, sie brachte außerdem keine 1.60 Meter an die Meßlatte. Sie hatte deshalb einen hölzernen Schemel unter ihre Füße geschoben, damit sie den Teig mit ihren beiden Fäusten richtig bearbeiten konnte.

    Lisa dagegen sah übernächtigt aus und gähnte häufig hinter vorgehaltener Hand. Sie sah deshalb so übermüdet aus, weil sie und Ewald, der als Kleinknecht auf dem Hof arbeitete, sich wieder einmal bis zum Morgengrauen in seiner Kammer geliebt hatten. Nein, so war es eigentlich nicht gewesen, gestand Lisa sich ein und rieb mit den Fingern über die schmerzende Stelle an ihren Rippen. Kurz vor dem Morgengrauen hatte Ewald sie mit seinem Ellbogen aus dem Bett geschubst und gemurmelt, sie solle ihn endlich in Ruhe lassen. Heute müsse er wieder stundenlang die schweren Garben auf die Erntewagen heben, von morgens früh bis abends spät, und er könne es sich nicht leisten, wenn ihm bei der Arbeit immerzu die Knie einknickten. Was würde die Chefin von ihm denken? Danach hatte er ihr den Rücken zugekehrt und war sofort wieder eingeschlafen. Sie gähnte erneut und blickte aus dem Fenster.

    In diesem Augenblick sah sie die Chefin aus einer der Scheunen kommen. Diese trug eine braune, eng anliegende Lederkappe, damit der Staub von der Dreschmaschine sich nicht auf ihre blonden Haare setzte. Zehn Minuten später betrat Lotte Hagen die Küche. Sie hatte kurz ihr Haar geordnet und ein frisches Kleid angezogen. Auch sie hatte eine weiße Schürze umgebunden. In der Luft hing ein Hauch „4711. „So, nun laßt mich mal sehen, wie es hier läuft. Sie warf zunächst einen Blick auf Rena, die den Hefeteig auf die gefetteten Backbleche verteilte. Die Schüssel mit den entsteinten Zwetschen stand in Griffweite daneben. Hier war jeglicher Kommentar überflüssig, stellte sie fest.

    „Lisa, wie ich sehe, ist das Rhabarberkompott für die Nachspeise fertig. Reiche mir bitte einen Löffel, damit ich es kurz abschmecke. Lotte probierte und verzog das Gesicht. „Das Kompott ist zu sauer. Wie ihr wißt, mögen die Ernteleute gern etwas Süßes, vor allem die Männer. Sie reichte Lisa die Flasche mit dem flüssigen Süßstoff zu. „Tue drei kräftige Spritzer daran, und jetzt rühr um. Sie schmeckte erneut ab und nickte. „So ist es besser.

    Danach trat sie an den langen Küchentisch, dessen linke Hälfte mit Renas Backblechen belegt war. Auf der anderen Hälfte standen Töpfe mit gewaschenem Reis, ein großes und ein kleines Haarsieb mit grünem Blattsalat und fünf kochfertige Suppenhühner. Lotte nahm eines der Hühner in ihre Linke und zog mit der Rechten das hölzerne Salzfaß zu sich heran. „Lisa und Margit, seht her, wieviel Salz ich genommen habe. Sie zeigte ihnen die offene Hand und begann die Hühner von innen und außen zu würzen. Was Mütter bei ihren Töchtern oft vergeblich versuchten, auch Gesine Bosch konnte ein Lied davon singen, erreichte Lotte Hagen mit dem passenden Quentchen Autorität in ihrer Stimme. Die beiden Mädchen verfolgten ihre Handgriffe daher mit großer Aufmerksamkeit. Sogar Lisa riß ihre müden Augen auf. Mit den aufmunternden Worten „und jetzt hinein mit den Hühnern in die Töpfe schloß Lotte Hagen ihren Vortrag ab.

    Fünf Minuten später in ihrem kleinen Büro atmete sie erleichtert auf. Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel ungeöffneter Briefe. Sie hatte nur einen flüchtigen Blick darauf geworfen, bevor sie zu den Mädchen in die Küche ging. Bisher war alles reibungslos verlaufen. Die Getreidefirma hatte acht Fuhren des gedroschenen Weizens bereits in ihre Speicher gefahren, in der Küche köchelten die Hühner in den Töpfen und um Punkt ein Uhr würde der Dreschkastenmeister seine Trillerpfeife hervorziehen und die Essenszeit verkünden. Sie schaute auf die Uhr. Eine ganze und eine halbe Stunde blieben ihr, um die eingegangene Post durchzusehen. Danach mußte sie zurück in die Küche und im Anschluß daran in die staubigen Scheunen. Sie würde sich liebend gern für eine halbe Stunde der Mittagsruhe hingeben und die Füße hochlegen. Doch das war ein Luxus, den sie sich nur im Winter leisten konnte.

    Feindfahrt – südliches Afrika, Deckname „Seehund"

    Im Juli 1943

    Die U 177 glitt lautlos durch den spiegelglatten Atlantik. Selbst das Rauschen der aufgeworfenen Bugwelle war nicht zu hören. Kapitän Bosch warf einen Blick auf die Uhr. Mitternacht war vorbei; in gut einer Stunde würden sie Dakar auf Backbordseite passieren. Er griff zum Nachtfernglas und suchte den Horizont ab. Nichts war zu sehen außer dem nördlichen Sternenhimmel und einer blassen Mondsichel.

    Eine Szene wie im tiefsten Frieden, kam ihm der Gedanke. Wenigstens lagen sie hier nicht wie im Nordatlantik tagelang auf der Lauer und warteten auf Geleitzüge, die sich auf die britischen Inseln zubewegten. In Gedanken sah er sie wieder auf sich zukommen, schweigsam, die Schiffe abgedunkelt wie eine Kette herrenloser Geisterschiffe. Dann erzitterte ihre U 177 unter dem Druck der abgefeuerten Torpedos, und das ausgefahrene Periskop gab wenig später die Folgen preis: Lichterloh brennende Schiffe versanken in den Fluten, andere legten sich auf die Seite, als versuchten sie die von den Torpedos aufgerissenen Planken zu verdecken. Die Jüngsten seiner Mannschaft warfen jedes Mal ihre Arme hoch und jubelten, wenn ihr Boot wieder einmal mit Erfolg operiert hatte, wie es später übers Radio in den Nachrichten heißen würde. Er selbst aber verspürte jedes Mal einen Druck in der Magengrube, den er auf den Feindfahrten nie mehr los wurde. Er spürte ihn auch jetzt.

    Diese Feindfahrt ging in die entgegengesetzte Richtung. Ihr Ziel war die südafrikanische Küste. Irgendwelche schlauen Köpfe in Berlin hatten Versorgungs-U-Boote erfunden, die Öl, Torpedos und Proviant für zehn U-Boote befördern und auf hoher See abgeben konnten, woraufhin der Admiralstab sich eine neue Strategie für den U-Boot-Krieg ausgedacht hatte. Das Operationsgebiet war erheblich erweitert worden und als Folge auch die Dauer der Feindfahrten. Von seinen 42 Männern, die in ihren Kojen schliefen, wußte nur sein Erster Offizier, auf welches Ziel ihr Boot sich zu bewegte. Die Jungs würden erst später herausfinden, daß sie in den nächsten drei Monaten keinen Hafen anlaufen und dort ‚leichten Mädchen’ hinterherlaufen konnten. In seinem letzten Brief an Gesine hatte er Andeutungen gemacht, daß sie in den nächsten drei Monaten keine Post von ihm erwarten könne. Sie solle sich deshalb aber keine Gedanken machen. Ausführlicher hatte er sich wegen der Briefzensur nicht äußern können. Nun mußte sie versuchen, mit dieser Botschaft zu leben.

    Er hörte seinen Ersten Offizier leise die Stufen emporsteigen. Das bedeutete Dienstablösung und einige Stunden Schlaf für den Kapitän. „Auf Backbordseite wird in Kürze Dakar in Sicht kommen, sagte Rohard in gedämpftem Ton und stellte sich neben seinen Kapitän. „Dort sitzt mit Sicherheit der französische Widerstand, der sämtliche Schiffsbewegungen entlang der westafrikanischen Küste aufspürt. Der Kapitän nickte. „Deshalb hat unser Einsatz auch die Geheimstufe I erhalten, was bedeutet: Keinerlei Sichtkontakt zu fremden Schiffen und Häfen entlang der gesamten Küste." Er griff erneut zum Fernglas. Der warme Fahrtwind strich durch seinen Zehntagebart, den seine Tochter Margit so verabscheute, weil die Barthaare fast weiß waren und so gar nicht zu seinem noch dunklen Haupthaar paßten. In wenigen Wochen würde er zweiundvierzig Jahre alt sein. Es gab Augenblicke, da glaubte er, daß er die Anspannungen der Feindfahrten nicht mehr lange würde durchstehen können.

    „Rohard, Sie haben recht. Am Horizont kommen winzige Pünktchen in Sicht, sagte er und ließ das Fernglas sinken. „Wenn die Franzosen dahinter kommen, daß deutsche U-Boote sich in Richtung südliches Afrika zu bewegen, ist unten die Hölle los, bevor wir dort ankommen. Wir dürfen keinen Fehler machen. Sonst gefährden wir die Kameraden, die dort bereits mit ihren Booten operieren.

    Der Erste Offizier nickte und warf einen kritischen Blick zum Himmel. Bei einer wolkenlosen Nacht wie dieser konnte selbst eine blasse Mondsichel zur Verräterin werden. „Gut, Kapitän, ich übernehme jetzt das Kommando und lasse wegtauchen." Fünf Minuten später verschwand die U 177 geräuschlos in den Fluten des Atlantiks und nichts an der Wasseroberfläche deutete darauf hin, daß hier kurz zuvor noch ein schlanker grauer Metallkörper durch die Nacht geglitten war.

    Am 23. Juli 1943 lag die U 177 drei Seemeilen nordwestlich der Hafeneinfahrt Kapstadts. Kapitän Bosch beobachtete die hell erleuchtete Stadt durch das Periskop. Der Tafelberg lag da wie eine dunkle Bühnenwand, der Signal Hill kam ins Blickfeld, rechts daneben der Lions Head. Diese drei Naturerhebungen, so wurde in Berlin vermutet, dienten der südafrikanischen Marine als Beobachtungsposten. Lichter waren oben allerdings keine zu sehen, was ihm merkwürdig vorkam. Dies paßte so gar nicht zur hellerleuchteten Stadt, die ein Bild tiefen Friedens ausstrahlte. Glaubten die Südafrikaner etwa, der Krieg begrenzte sich nur auf Europa? Fast tat es ihm leid, daß er diese friedliche Idylle demnächst würde zerstören müssen. So aber lautete der Befehl aus Berlin und um den auszuführen, lagen sie hier auf der Lauer.

    Am darauffolgenden Morgen beobachtete er sämtliche ein- und auslaufenden Schiffe, um die minenfreie Fahrrinne in den Hafen zu erkunden. Rohard stand neben ihm und vermerkte diese auf einer Karte. Auch die an der Pier liegenden Schiffe und ihre ungefähre BRT-Größe wurden notiert. Am rechten Anlegekai lag der Truppentransporter „Orion". Dort würde dieser auch noch am Abend liegen. Die verschlüsselte Botschaft aus dem südafrikanischen Untergrund stimmte also. Der 23.000 BRT große Truppentransporter sollte im Laufe des morgigen Tages mit achttausend weißen und farbigen Freiwilligen an Bord in Richtung Kriegsschauplatz Europa auslaufen. Bedenklich sah allerdings die stark aufgerauhte See im Hafenbecken aus. Über den Tafelberg zog im Augenblick eine dicke Wolkenwand hinweg, die Sturmböen über der Stadt und dem Atlantik verursachte. Der Kapitän hoffte, daß dieser sich in den Abendstunden gelegt haben würde.

    Nach drei Stunden waren sie mit ihren Aufzeichnungen fertig. Am Abend Punkt neun Uhr würde der Angriff auf die im Hafen liegenden Schiffe erfolgen. Die Besatzung war guter Laune und der Kapitän ließ Extraportionen austeilen. In einer Woche würden sie neue Verpflegung, Torpedos und Öl beim Versorgungs-U-Boot Uit 22 bunkern. Sie waren jetzt vier volle Wochen auf See, den größten Teil davon unter Wasser. 42 Männer lebten hier auf engstem Raum zusammen. Manchmal kam es Kapitän Bosch verwunderlich vor, daß keiner von ihnen durchdrehte.

    Am Kap waren die Jahreszeiten entgegengesetzt zur nördlichen Halbkugel. In Kapstadt war es daher Winter und der Abend warf seine Schatten früh auf die Stadt. Nur Kapstadts Lichter strahlten unverändert Frieden und Optimismus aus. Auch der Sturm hatte sich davongeschlichen, und im Hafen spiegelten sich die Lichter der vertäuten Schiffe wider. Punkt neun Uhr glitt die U 177 unbemerkt in die Hafeneinfahrt, Kapitän Bosch fuhr das Periskop aus und bekam nun eine genaue Übersicht aus nächster Nähe. Die „Orion lag unverändert am Ausrüstungskai. Daneben hatte ein kleines Küstenschiff festgemacht, ein rostiger Pott, dem ein Farbanstrich dringend not tat. Doch auffallende Farben waren in Kriegszeiten nicht gefragt. Unauffälligkeit bedeutete Sicherheit. Der würde den Kapstädter Hafen sicherlich am gleichen Tag wie die „Orion verlassen wollen. Doch daraus würde nichts werden. In rascher Folge ließ er zwei Torpedos zunächst auf den Truppentransporter abfeuern, ein dritter traf den rostigen Frachter unterhalb seiner Wasserlinie, ein vierter Torpedo schlug in den Bug eines im Hafenbecken manövrierenden Frachters ein. Zwölf Minuten später schlich sich die U 177 unbemerkt durch die minenfreie Fahrrinne zurück in den offenen Atlantik und suchte sich drei Seemeilen außerhalb der Küste eine vorläufige Anstandstelle.

    Durch das Periskop verfolgten Kapitän und Erster Offizier die Wirkung des Angriffes. Im Hafenbecken stieg eine riesige Feuersäule auf und warf gespenstische Schatten auf die umliegenden Lagerhallen. „Der Truppentransporter hatte sicherlich schon Öl für die wochenlange Überfahrt gebunkert, sagte Rohard, „daher die riesige Feuersäule.

    Kapitän Bosch nickte. „Und auch die Verpflegung für ein paar Tausend Freiwillige. Das dürfte den Fronteinsatz der Freiwilligen in Europa um einige Monate hinauszögern."

    Vom Frachter in der Hafenmitte war nichts mehr zu sehen. Der hatte sich schon kurz nach dem Torpedoeinschlag zur Backbordseite hinüber geneigt und war in den Fluten verschwunden. Auch der rostige Pott war nicht mehr zu sehen. Später in der Nacht, als die Mannschaft in den Kojen lag, trug Kapitän Bosch den Verlauf des Angriffs in sein Logbuch ein, das er ständig unter Verschluß hielt.

    Die Lichter Kapstadts brannten immer noch.

    * * *

    Sir, tea is ready" sagte der weißhaarige tea-boy und stellte das Tablett mit dem Teegeschirr auf den runden Tisch.

    Thank you, Sam", antwortete Captain Prinsloo und nickte dem schwarzen Gehilfen freundlich zu. Ihm war jetzt weiß Gott nicht nach heißem Tee zumute, doch das konnte Sam nicht wissen. Der hatte aus jahrelanger Gewohnheit den Tee bereits eingegossen, Zuckerdose und Milchkännchen griffbereit daneben gerückt und war wieder gegangen. Später würde er ihn vorwurfsvoll anblicken oder sogar den ergrauten Kopf schütteln, wenn er feststellte, daß „Sir" den Tee, aus welchen Gründen auch immer, wieder einmal nicht getrunken hatte.

    Heute gab es so einen Grund. Captain Prinsloos Gedanken drehten sich pausenlos im Kreis herum. Zu um elf Uhr hatte er zehn seiner besten „Aufspürer zu einer dringenden Besprechung in sein Büro bestellt. Auf dem vor ihm liegenden Notizblock waren die wichtigsten Punkte einzeln aufgeführt. Er hatte die gestrigen Abendstunden opfern müssen, weil das heutige Thema von solcher Dringlichkeit war, wie es keines zuvor gegeben hatte. Wenn er vom Fenster seines Büros im 6. Stockwerk des Castle Buildings in die Adderley Street hinabblickte, schien die Welt noch in Ordnung. Vom Tafelberg hing auch heute wieder die weiße Wolke herab und ließ die Menschen in den Straßen hinter ihren Hüten herrennen, die der Sturm ihnen von den Köpfen gerissen hatte. Wenn er jedoch zum Hafen hinüberschaute und die ausgebrannte „Orion am Kai liegen sah, stand das Thema, das er gleich mit seinen „Aufspürern" besprechen mußte, wie eine steile Wand vor ihm.

    Ohm Piet hatte also doch recht gehabt, erinnerte sich Prinsloo. Südafrika hätte niemals an Englands Seite in diesen Krieg verwickelt werden sollen; Smuts hätte sich neutral verhalten und sein Land und dessen Bürger heraushalten müssen, hatte Ohm Piet gesagt. Der Krieg sei ein europäisches Problem, das die Europäer allein lösen müßten. Smuts aber hatte seinen Willen im Kapstädter Parlament durchgesetzt, Deutschland den Krieg erklärt, sämtliche Konsulate und Botschaften schließen und alle deutschstämmigen Bürger männlichen Geschlechts in hastig eingerichteten Lagern internieren lassen. Wo sollten seine „Aufspürer" im Kap jetzt Spione aufspüren, die deutschen U-Booten angeblich verschlüsselte Botschaften zukommen ließen, überlegte Prinsloo und runzelte die Stirn.

    Er ging nun doch zum runden Tisch und trank den Tee, der inzwischen kalt geworden war und daher abscheulich schmeckte. Vier von den „Aufspürern waren bereits erschienen. Sie hatten sich auf Stühle in der hintersten Reihe gesetzt und unterhielten sich leise miteinander. Alle sahen wie völlig normale Zivilisten aus, und das sollten sie auch. Sie gehörten einem Geheimdienst an, der der Polizei zugeordnet war. Captain Prinsloo war ihr Vorgesetzter. Er schaute erneut zur ausgebrannten „Orion hinüber. Tags darauf waren zwei Frachter unweit der Einfahrt des Kapstädter Hafens versenkt worden, praktisch vor der Nase der Hafenbehörde. Jetzt jagten Suchgruppen der hiesigen Marine hinter aufgespürten U-Booten her und warfen pausenlos Wasserbomben über verdächtigte Stellen ab. Anhand aufgefischten Verpackungsmaterials war der Marine die Vernichtung von mindestens zwei deutschen U-Booten gelungen. Die Beschriftung der Verpackung war in deutscher Sprache gewesen. Aber die Germans torpedierten ungehindert weiter. Ihre U-Boote glichen einem Hornissenschwarm mit Schwanzflossen. Man warf Unmengen Wasserbomben in den Atlantik und glaubte, ihre Nester auszuräuchern, und schon tauchten sie woanders wieder auf. Inzwischen hatten sie ihr Operationsgebiet sogar bis nach Port Elizabeth ausgeweitet.

    Zum Glück war die Einschiffung der Freiwilligen erst am Tage nach Torpedierung der „Orion" vorgesehen gewesen. Ein großer Teil von den „boys" hatte sich enttäuschend darüber ausgelassen, daß sie nun noch länger auf ihren Kriegseinsatz in Europa warten müßten. Prinsloo hatte nur seinen Kopf geschüttelt. War das Leben auf dem anderen Kontinent denn etwa interessanter, weil dort Menschen aufeinander schossen, Städte bombardiert und Panzer in die Luft gejagt wurden? Er hatte seinem Sohn Merwyn jedenfalls unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß für ihn ein „trip" nach Europa nicht in Frage käme. Merwyn machte auf der Uni in Stellenbosch zur Zeit seinen Bachelor of Commerce, und es fiel Prinsloo schon schwer genug, für die Lebenshaltungskosten des Sohnes aufzukommen. Für das Studium hatte Merwyn ein Stipendium von der Regierung erhalten, das er später zurückzahlen mußte. Merwyn hatte sich mit zwei weiteren Studenten ein altes Haus in Stellenbosch gemietet. Seine beiden „maats" waren in Südafrika geboren, deren Eltern aber waren Germans. Der eine Student war sogar aus Windhuk angereist gekommen, der andere war ein Kapstädter. Merwyn sagte, die „maats" seien in okay. Er habe sie noch nie ein einziges deutsches Wort miteinander reden hören.

    Prinsloo blickte auf seine Uhr. Inzwischen waren drei weitere „Aufspürer gekommen. Er klopfte mit seinem Bleistift auf die Tischplatte, um sich Gehör zu verschaffen. „Sind alle da?, fragte er.

    „Macintosh fehlt noch, rief einer in dem Augenblick, als sich die Tür öffnete und ein hochgewachsener Mann eintrat. „Ich bitte die Verspätung zu entschuldigen, sagte der höfliche Engländer und hängte seinen Trenchcoat und einen beigefarbenen Wollschal auf den hölzernen Garderobenständer. „Ein dringender Fall dauerte etwas länger, als ich erwartet hatte." Captain Prinsloo wartete, bis Macintosh seinen Platz eingenommen hatte, dann wies er mit einem Stift auf eine Landkarte, die an einem Haken an der Wand hing und Südafrikas Küste in Großformat darstellte. In den Atlantik waren etliche schwarze Kreuze eingezeichnet worden.

    „Wir alle wissen, was die schwarzen Kreuze zu bedeuten haben. Prinsloo war sich darüber im Klaren, daß diese Frage überflüssig war, er wollte jedoch etwas Dramatik in die Angelegenheit einflechten. Die anwesenden „Aufspürer nickten, einige hielten ihre Schreibblöcke und Bleistifte bereit. Prinsloo warf einen Blick auf seine Notizen vom Vorabend. „Von der Regierung als auch der Marine wird vermutet, daß von südafrikanischem Boden aus Morse- oder Funksignale an deutsche

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