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Der tote Knabe: Skandinavien-Krimi
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eBook439 Seiten5 Stunden

Der tote Knabe: Skandinavien-Krimi

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Über dieses E-Book

Der erste Fall für die eigenwillige Journalistin Dicte Svendsen: Zusammen mit ihren Freundinnen Ida Maria und Anne feiert Dicte ihren 40. Geburtstag in einem Restaurant in Aarhus. Doch die Party nimmt ein jähes Ende, als sie ein totes Baby in einer Plastikwanne aus dem Fluss ziehen. Neben dem toten Jungen liegt eine Seite aus dem Koran. Doch dann wird auch noch Ida Marias neugeborener Sohn entführt. Die drei Freundinnen machen sich auf eigene Faust auf die Suche nach dem Täter...-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum12. Okt. 2020
ISBN9788726569629
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    Buchvorschau

    Der tote Knabe - Elsebeth Egholm

    www.egmont.com.

    1.


    Die Sonne schien auf das Wasser des Århus-Flusses und die Luft roch nach Spätsommer. Die Blumenhändlerin an der Ecke des großen Kaufhauses Magasin hatte reichlich zu tun, und Eltern von Kleinkindern und Teenager bevölkerten langsam die Fußgängerzone Immervad und schleckten das erste Eis des Tages. Alles wirkte so gesehen ziemlich normal. Unnormal normal, im Grunde genommen. Eigentlich hätte es ein schöner Tag sein können, wäre er nicht so verdammt schlecht gewesen.

    Irgendetwas in der Richtung dachte sie, als sie das Kind erblickte. Oder besser gesagt den Laut hörte, denn er fing als Erstes ihre Aufmerksamkeit ein. Der raue Laut von Plastik, das gegen Steine schabt. Warum er gerade ihr Ohr erreichte, wusste sie nicht. Vielleicht litten die Gäste in den Straßencafés unter den Heizstrahlern nach den Open-Air-Konzerten des Sommers unter einer verminderten Hörfähigkeit. Oder das Gehör verfeinerte sich, wenn man vierzig wurde.

    Aber vorher, bevor sie das Kind entdeckte, waren da die Freundinnen Ida Marie und Anne. Und ihr verdammtes Geburtstagsgeschenk, das sie, mit hochrotem Kopf und verlegen, ganz entspannt entgegenzunehmen versuchte. Was ein wenig schwierig war, vor allem weil Ida Marie sich mit ihrem großen, dicken Bauch erhoben und für das ganze Café und alle Passanten, die zuhören mochten, ein schwedisches Geburtstagslied angestimmt hatte. Dazu winkte sie mit einer schwedischen Fahne. Die Leute klatschten, als sie fertig war.

    Aller Augen waren deshalb auf ihren Tisch gerichtet, hatte Dicte das Gefühl. Und das wäre vielleicht gar nicht so schlimm gewesen, wäre da nicht noch dieses Geschenk gewesen, das Ida Marie und Anne ihr feierlich überreichten.

    »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, zum Haus und zur Scheidung«, leierte Anne herunter, als läse sie von einem unsichtbaren Merkzettel ab. Anne war nie die Spontanste gewesen und hatte die kleine Rede bestimmt auswendig gelernt. »Wir haben nach bestem Wissen und Gewissen versucht, ein Geschenk zu finden, das zu jedem der drei Anlässe passt.«

    Ida Marie holte ihre Kamera aus der Tasche. Ida Maries Kamera war berüchtigt.

    Anne ignorierte sie.

    »Glaub nur nicht, dass das leicht war. Und billig auch nicht. Wir haben die verschiedensten Leute um Rat gefragt. Psychologen, Moderatoren, Teilnehmer der Robinson-Show und Kummerkastentanten. Alle haben ihre Meinung beigesteuert, und das Resultat ist, wenn ich das so sagen darf, ergreifend.«

    »Man muss einfach zugreifen«, fügte Ida Marie ernsthaft hinzu, während Anne in bester Stimmung und mit Showmaster-Stimme an Dicte gewandt fortfuhr:

    »Es fällt in die Kategorie eins.«

    Während sie das Päckchen, eine längliche, in schwarzes Seidenpapier gehüllte Schachtel mit einer flaschengrünen Schleife, hervorholte, hatte Dicte das Gefühl, die ganzen letzten Geburtstage wie auf einer gezippten Diskette Revue passieren zu sehen. Vielleicht wäre es korrekter zu sagen, dass sie sie auf einen reduziert sah und das kleine, irritierende Wort Gemütlichkeit darüber zu schweben und ihr vor der Nase herumzubaumeln schien. Irritierend, dass sie das vermisste. Ebenso wie die Familie. Wie Torsten, der Teufel sollte ihn holen. Torsten war unübertroffen im Ausrichten von Geburtstagen, das musste sie ihm lassen. Kaffee und Brötchen im Bett; Kerzen auf dem Nachttisch; Liebe mit speziellen Dicte-Effekten, wie er das nannte. Und abends ein Essen mit den engsten Freunden, die nach der Scheidung die Seite gewechselt und sich für ihn entschieden hatten. Nicht, weil die Moral auf seiner Seite war; alle wussten, dass dem nicht so war. Sondern weil er bei Abendgesellschaften ein guter Unterhalter und hin und wieder im Fernsehen zu sehen war. Jedenfalls war sie zu diesem Schluss gekommen.

    Sie selbst war zurück nach Århus gegangen, wo sie, wie die Hälfte der Einwohner Kopenhagens, ihre Studienzeit verbracht hatte. Die Idee war, neu anzufangen. Den Kontakt zu alten Freunden wieder aufzunehmen und neue zu finden, sodass sie außer Rose noch andere Bezugspersonen hätte. Töchter im Teenie-Alter waren und blieben unbeständige Zeitgenossen.

    Während die Gedanken durch ihren Kopf schwirrten, kabbelten die Freundinnen sich, inwieweit sich die Kategorie auf Werkzeug, Gerät, Hilfsmittel oder ein Viertes eingrenzen ließ. Anne schlug Toilettenartikel vor. Auf der gleichen Ebene wie Zahnbürste und Wattepads.

    »Und jetzt pack endlich aus«, verlangte Ida Marie ungeduldig und richtete die Kamera auf sie. »Wir sind gespannt.«

    Den Blicken der übrigen Cafégäste nach zu schließen, waren sie nicht die Einzigen, die warteten.

    Sie starrte das Geschenk an, und es schien zurückzustarren. Schelmisch. Sie stellte sich eine schwarze Schachtel vor, aus der in dem Moment, in dem sie sie öffnete, ein Clown auf einer Feder heraussprang und sie mit einem Boxhandschuh k.o. schlug. Trotzdem zog sie die Schleife auf. Packte langsam aus.

    Hatte das Dings plötzlich in der Hand und versuchte ohne viel Glück zu erraten, was für eine Funktion es hatte, während Ida Marie professionell fotografierte.

    Es war schreiend pink mit kleinen roten Noppen, woraus sie schloss, dass Ida Marie die Farbe ausgesucht hatte. Und es war aus Plastik. Seine Form war länglich und erinnerte an eine Rakete.

    »Jedenfalls ist es handlich«, sagte sie nervös. »Was immer es ist.«

    Anne und Ida Marie kicherten und lachten. Auch an den meisten anderen Tischen wurde gekichert und gelacht.

    Sie begann, das Ding zu untersuchen. Drehte es auf den Kopf und stellte fest, dass der eine Teil, der untere, sich drehen ließ. Ohne Vorwarnung begann das Dings so kräftig zu vibrieren, dass sie es vor Schreck auf den Tisch fallen ließ.

    Ihr erster Gedanke, als es ihr langsam dämmerte, war: »Das könnt ihr doch nicht ernst meinen.« Schnell gefolgt von: »Wie sich das wohl anfühlt?«

    Sie begrub das Gesicht in den Händen und spürte, wie das Blut sich verräterisch in Gehirn und Gesicht ausbreitete und alles rot färbte, innerlich und äußerlich.

    »Ein Dildo!«

    Sie starrte Ida Marie und Anne an. Starrte auf den Vibrator, der auf dem Tisch lag und sie aus Ärger, so unsanft fortgeworfen worden zu sein, anknurrte.

    »Du musst zugeben, das war genial«, sagte Anne und sah sie mit ihren schrägen Asiatenaugen an. Anne, die sonst immer so ernst war. Anne, die Salman Rushdie las und die im Alter von sechs Monaten mit einem Flugzeug aus Korea gekommen und auf einem ostjütländischen Pfarrhof gelandet war. Und die jetzt davon lebte, kleine rosige Dänen auf die Welt zu bringen.

    Ida Marie streckte mitfühlend die Hand aus und schaltete den Dildo gekonnt aus.

    »Sonst ist die Batterie gleich leer«, erklärte sie und sah Dicte aus Augen von der Farbe der schwedischen Papierflagge, die jetzt nutzlos auf dem Tisch lag, unschuldig an. »In der Zeitung stand, dass jede siebte dänische Frau einen hat«, informierte sie bereitwillig.

    Diese Gelegenheit konnte Dicte sich nicht entgehen lassen.

    »Und was ist mit den Schwedinnen? Oder sind die Dinger in Schweden verboten? Du könntest doch in Erwägung ziehen, sie einzuschmuggeln«, schlug sie vor.

    »Aber die Batterien solltest du vorher rausnehmen«, fügte Anne hinzu.

    Das Bild von Ida Marie mit Hunderten von vibrierenden Dildos und einem wütenden schwedischen Zöllner zauberte auf wundersame Weise das erste Lächeln dieses Tages auf Dictes Gesicht. Sie spürte, wie sich ihre Mundwinkel plötzlich nach oben verzogen; wie die Lachmuskeln sich spannten. Sie lachte erleichtert auf und ließ etwas von dem Geburtstagsstress ab.

    Ida Marie nahm eine neutrale Stimme an.

    »In Schweden kennt man so etwas natürlich nicht. Dort haben wir die schwedischen Männer.«

    Der Kommentar löste Gelächter an den Nachbartischen aus.

    »Manche Frauen behaupten, so ein Ding einem Mann vorzuziehen«, sagte Anne freundlich. »Es soll weniger Mühe machen. Wie man so sagt.«

    »Wie man so sagt«, wiederholte Dicte und merkte, wie sie ihre Fassung zurückgewann. »Soll das heißen, ihr habt ihn nicht einmal ausprobiert?«

    Anne machte erst ein dummes Gesicht, dann gewann ihre praktische Natur die Oberhand.

    »Du kannst ihn umtauschen«, sagte sie ernst. »Wenn du mit dem hier nicht zufrieden bist, kannst du dir auch einen holen, der wie ein Handy aussieht.«

    Dicte steckte den Dildo schnell zurück in die Schachtel.

    »Nun gut, danke für das Geschenk«, murmelte sie und vermied es, den beiden in die Augen zu sehen. Stattdessen wanderte ihr Blick zu der Blumenhändlerin an der Ecke hinüber, und sie ärgerte sich, dass sie ihr nicht einfach einen Blumenstrauß gekauft hatten. Sie sah sich die Leute an, die an diesem Septembertag unterwegs waren. Ein Inlineskater schlängelte sich zwischen den Eltern von Kleinkindern und den Eis essenden Teenagern durch. Alles sah ganz normal aus, aber der Schein trog. War sie nicht gerade vierzig geworden? Und war der unerwünschte Geburtstag nicht auf denselben Tag wie die letzte Unterschrift in ihrer Scheidungssache gefallen? Und als Krönung und Betonung ihres neuen – und unerwünschten – Singledaseins bekam sie einen Dildo als Geburtstagsgeschenk!

    Genau in diesem Moment hörte sie den Laut vom Fluss, direkt unterhalb der Stelle, wo sie saßen. Mit Annes und Ida Maries Stimmen im Hintergrund erreichte er sie plötzlich und erinnerte sie an den Tag vor vielen, vielen Jahren, als sie als Kind einen Plastikeimer in den Hofbrunnen hinuntergelassen hatte, der nahezu bodenlos und verbotenes Terrain war. Nur um hinterher ihre erste Ohrfeige zu kassieren.

    Vielleicht vergaß sie deshalb alles über Dildos und Scheidungen und Freundinnen, für die man sich schämen musste.

    Sie stand auf. Ging die paar Schritte zum Ufer und sah in das morastig grüne Wasser hinunter. Horchte wieder. Kniff im Sonnenlicht die Augen zusammen und spürte mit dem Schaukeln des Wassers den Abstand zu damals.

    Dann fiel ihr Blick auf die blaue Plastikwanne, die auf dem Wasser schaukelte. Ganz nahe am Ufer, vielleicht von der Strömung dorthin getrieben. Und dann sah sie das Gesicht, teilweise unter einem Handtuch versteckt. Klein und bleich und mit geschlossenen Augen.

    Lange Zeit starrte sie nur, während der Schürflaut zu einem unwirklichen Geräuschteppich wurde. Dann schien ihr Körper aufzutauen, und sie spürte den unmöglichen Drang, das Bündel in die Arme zu schließen. Es zu beschützen. Seine weiche Haut an ihrer Wange zu spüren und ihm Leben einzuhauchen, es warm, satt und zufrieden zu machen. Instinkt, das wusste sie, und wunderte sich. Nach so vielen Jahren.

    »Ein Kind«, hörte sie ihre eigene Stimme, fern und zitternd wie der Ton eines schlechten Tonbandgeräts.

    Sie merkte, dass sie den Atem angehalten und die Luft erst mit den Worten herausgelassen hatte.

    »Da unten liegt ein Kind.«

    Sie zeigte auf das trübe Wasser.

    2.


    »Svendsen?«

    »Kaiser«, murmelte Dicte in den Hörer und griff automatisch nach dem Kugelschreiber. Stütze. Unsicherheit. Ihre Analyse erfolgte automatisch. Hin und wieder verwünschte sie ihr Psychologiestudium, auch wenn sie es nur zur Hälfte absolviert hatte.

    Der Nachrichtenredakteur schien über das Telefon hören zu können, dass man besser nicht an ihr herummäkelte. Und genau deshalb tat er es, denn so war er nun mal. Wie die meisten Redakteure überall auf der Welt, dachte sie. Diese Art Menschen wurde mit einem besonderen Redakteursgen geboren, das sie dazu befähigte, Journalisten nervös zusammenzucken zu lassen und Fragen zu stellen, die vorzugsweise mit höchstens drei präzisen Worten beantwortet werden sollten. Mit Kaiser sprach man in der Regel in Zeitungsüberschriften.

    »Wie ich gehört habe, warst du schwimmen.«

    Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Der Kugelschreiber begann nahezu von selbst, Kringel auf den Block zu malen.

    »Was hast du gehört?«

    »Etwas über einen Moses auf dem Århus.«

    Sie hatte nicht die geringste Ahnung, woher er es wusste. Aber es überraschte sie auch nicht. Otto Kaiser war, wollte man den Gerüchten Glauben schenken, mit einem sechsten und siebten Sinn ausgestattet, was Sensationen und die Kunst anging, den wunden Punkt eines Menschen zu treffen.

    Sie selbst hatte das erst einige wenige Male zu spüren bekommen. Aber das reichte ihr, und seitdem hatte sie, wann immer es möglich war, einen großen Bogen um den Nachrichtenjournalismus gemacht. Um Kaisers Domäne. Der Umzug nach Århus hatte zu ihrer großen Zufriedenheit den Abstand noch vergrößert, ein kleiner Nebengewinn ihres Entschlusses. Der Hauptgewinn war natürlich, dass Torsten nicht länger einfach so vorbeischauen konnte.

    »Ich hatte nicht viel damit zu tun«, sagte sie zögernd.

    Der Kugelschreiber malte ein Gesicht, während sie nachdachte. Dreieckige Form, dunkle Augen, Schnauzbart. Kaiser.

    »Ich habe etwas anderes gehört«, insistierte die Stimme honigsüß. »Ein Vögelchen hat mir erzählt, dass du den kleinen Moses entdeckt und dich wie ein Labrador in den Fluss gestürzt hast. Du hättest eine Heldin werden können, Svendsen. Ein Jammer, dass es zu spät war«, fügte er boshaft hinzu.

    »Wenn du das so sehen willst«, sagte sie und fügte der Zeichnung etwas Körperähnliches hinzu. Lang und gewandt und dynamisch. Unvorhersehbar. »Ich weiß nicht mehr. Das Kind war tot. Der Krankenwagen kam schnell, und die Polizei hat sich um alles Weitere gekümmert. Das war’s.«

    Indem sie es sagte, war sie sich sehr wohl bewusst, wie grob sie das Gesetz der Journalistenwelt verletzte, an die sie sich wohl nie gewöhnen würde. Eine gute Story musste von hinten und von vorne erzählt werden. Und natürlich war hier mehr zu holen. Sehr viel mehr. Diese Geschichte bot Stoff für einen ganzen Fortsetzungsroman.

    »Also dann, ich muss mich beeilen«, versuchte sie es. »In einer halben Stunde muss ich einen Artikel in der Wirtschaftsredaktion abliefern.«

    Letzteres fügte sie in dem Versuch hinzu, Kaiser auf seine eigenen Nachrichtenreporter zu verweisen und nicht Leute in der Wirtschaftsredaktion zu klauen, wo sie arbeitete. Es war der übliche Kleinkrieg.

    »Ich habe mit Mikkelsen gesprochen«, sagte Kaiser listig. »Und er hat dich freundlicherweise für eine Woche ausgeliehen, weil Seifert in Urlaub ist und Davidsen mit der Rockersache in Randers zu tun hat.«

    Dicte spürte, wie die Welt sich gegen sie verschwor. Allein bei dem Gedanken, zu Kaisers Regiment von Nachrichtensoldaten zu gehören, brach ihr der Schweiß aus. Für viele war das ein Traumjob, das wusste sie. Aber nicht für sie. Sie blieb am liebsten für sich, schrieb ihre kleinen Artikel über Wirtschaftspsychologie und machte hin und wieder ein langes und langweiliges Interview mit einem Manager.

    »Ich bin keine Nachrichtenjournalistin«, wandte sie ein, aber das beeindruckte ihn nicht.

    »Wir brauchen einen Anreißer für die Titelseite. Die Leser wollen wissen, was, wie und wann.«

    Sie konnte ihn nahezu vor sich sehen, wie er hinter seinem Schreibtisch saß, die Rückenlehne des Stuhls in fast waagerechter Position, den Telefonhörer unter dem Kinn und die Tastatur des PCs auf dem Schoß, während die Agenturmeldungen von Ritzau liefen. Vielleicht hatte er die Schublade aufgezogen. Kaiser war immer auf Diät, versteckte jedoch oft einen Teller mit einem Stück Kuchen in der Schublade. Am liebsten Schokoladenkuchen.

    »Und eine Reportage auf Seite drei«, fügte er hinzu. »Wie hast du das Kind entdeckt? Was hast du gefühlt? Wie waren Stimmung und Reaktionen und so weiter. Du bist genau die, die wir brauchen, Svendsen. Deadline ist um sechs.«

    Das waren noch drei Stunden. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Um sich zu wehren. Um ihm zu erzählen, dass die Toilette in dem neuen Haus verstopft war, dass der Schlammsaugwagen um vier kam; dass dem Dunstabzug in der Küche ein Rohr fehlte, sodass der Essensdunst ins Schlafzimmer statt aus dem Haus geblasen wurde. Dass das verdammte Haus sich im Lauf der ersten sechs Wochen als ein Fass ohne Boden erwiesen hatte. Und dass sie darüber hinaus nicht an das Kind denken wollte, geschweige denn darüber schreiben.

    »Und denk daran, einen Fotografen mitzunehmen«, sagte Kaiser, bevor er auflegte. »Wir brauchen Bilder. Von dem Ort, von dir, von der Wanne.«

    »Auch von der Leiche?«, fragte sie säuerlich.

    Er brummte irgendetwas Unverständliches.


    Sie legte auf und merkte erst jetzt, dass ihre Hände zitterten. Vor allem aus Wut. Aber da war noch etwas anderes. Wie eine Art Hunger, der sich nicht stillen ließ. Ein leerer, dumpfer Raum in ihrem Magen, an der Grenze zur Übelkeit.

    Wieder erinnerte sie sich an das Gefühl des Wassers vor nur wenigen Stunden. An das unruhige Murmeln der Leute oben im Café. An ihre eigene Sprachlosigkeit über das, was sie tat. Denn Kaiser hatte ja Recht, woher auch immer er es gehört hatte. Sie war hineingesprungen. Nicht kopfüber, natürlich, aber sie war die Treppen zum Fluss hinuntergelaufen und hatte sich ins Wasser gleiten lassen, das von nahem betrachtet sehr viel trüber war als aus der Ferne. Sie erinnerte sich vage, dass Dinge an der Oberfläche geschwommen waren. Dass ihr auf dem Weg zu der blauen Plastikwanne ein Stück Eispapier zwischen die Finger geraten war und dass sie eine Plastikflasche hatte zur Seite schieben müssen, die an der Oberfläche schaukelte. Brauselimonade, erinnerte sie sich und wunderte sich über die Erinnerung. An das Gesicht des Kindes erinnerte sie sich nicht. Wollte sich nicht daran erinnern. Sie hatte sich mit der Wanne abgemüht; sie vor sich hergeschoben, während sie am Ufer des Flusses entlanggeschwommen war. Hatte sie zur Treppe gezogen, wo Anne sie sofort in Empfang genommen hatte, nach außen hin geschützt durch den Professionalismus der Hebamme, während Ida Marie ganz automatisch und völlig grotesk wie ein Roboter weiterfotografiert hatte. Das hatte sie gedacht. Wie ein Roboter. Aber das war, bevor sie die Tränen gesehen hatte, die ihre Wangen hinunterliefen. Den schwangeren Bauch, der schutzlos vorstand, wie ein verletzlicher Panzer. Die Kamera, die sie gegen die Wirklichkeit zu beschützen schien.

    Zu dem Zeitpunkt hatte schon irgendjemand einen Krankenwagen gerufen, aber bis der kam, nahm Anne die Sache in die Hand. Sie sah vorsichtig in das Bündel aus alten Handtüchern, suchte sich mit zitternden Händen einen Weg und stellte fest, was Dicte bereits wusste. Was sie gespürt hatte, weil die Stille in der Wanne so laut war.

    »Ein kleiner Junge«, murmelte Anne ohne ihre übliche Hebammenstimme, die sie sonst ganz automatisch annahm, wenn Neugeborene in der Nähe waren.

    »Neugeboren«, stellte sie fest. »Höchstens zwei Tage alt, denke ich.«

    Sie blickte auf. Dicte sah kurz etwas Feuchtes in ihren Augen, bevor Anne es wegblinzelte.

    »Er ist tot.«

    3.


    Der Fotograf glich einem herrenlosen Hund. Mager und wachsam, mit mottenzerfressenem Fell. Letzteres traf nicht nur auf die wilden Haarzotteln, sondern auch auf seinen Bart, der spärlich war wie der eines Teenagers, und auf seine Kleidung zu, die an Sachen aus einer Kleiderspende für Albanien erinnerte. Alles in allem wirkte er sehr modern.

    »Ich bin Bo«, sagte er, trat eine Zigarette mit dem Stiefel aus und machte ganz den Eindruck, als würde er Afghanistan dem Eingang der Entbindungsstation des Krankenhauses von Skejby vorziehen.

    Sie gab ihm die Hand.

    »Dicte.«

    Sie hatte von ihm gehört. Sogar von ihm gelesen, als er irgendeinen ausländischen Fotowettbewerb mit Bildern aus Sierra Leone gewonnen hatte – oder war es Bolivien? Irgendein Kriegsgebiet jedenfalls, sie erinnerte sich nicht genau. Aber selbst preisgekrönte Fotografen mussten von etwas leben, und so arbeitete er als ständiger freier Mitarbeiter für die Redaktion in Århus.

    »Wir werden mit der Hebamme sprechen, die mit am Fluss war«, informierte sie ihn, während sie durch die langen Gänge liefen und das Personal auf Rollerblades an sich vorbeilaufen sahen. Eine gehbehinderte Großmutter kämpfte sich tapfer auf ihren Stock gestützt vorwärts. Sie hatte keine Rollerblades. Dicte sah verstohlen zu dem Fotografen hin. Hatte wieder das sichere Gefühl, dass er lieber woanders wäre.

    Er schniefte und trocknete sich die Nase mit seinem Ärmel, während er mit der Fototasche über der Schulter neben ihr hertrottete. Und sie sah seine Augen, die auf der Suche nach der Wirklichkeit die Wände entlangschwirrten und ihren Weg in all die Zimmer und Büros suchten, an denen sie vorbeikamen. Spürte die Wachsamkeit, als erwarte er aus einem der Kreißsäle, aus denen hin und wieder herzzerreißende Schreie zu hören waren, einen Angriff aus dem Hinterhalt mit einer AK 47.

    »Das klingt nach Folterkammer«, sagte er.

    »Das ist es auch«, antwortete sie.

    Nach dem Gespräch mit Kaiser hatte sie schnell einen Termin mit Anne gemacht. Außer Atem, zwischen einer Steißgeburt und einer Erstgeburt, war sie darauf eingegangen. Ein Hoch auf Anne und ihre Hilfsbereitschaft. Und das, obwohl sie schon eine Stunde auf der Polizeiwache vergeudet und irgendeinem Schreibtischbeamten eine Erklärung gegeben hatte. Sie musste übrigens daran denken, die Polizei anzurufen und herauszufinden, wer den Fall bearbeitete. Wenn sie Glück hatte, war die Geschichte schnell erledigt, und sie hatte Ruhe vor Kaiser. Konnte das Ganze hinter sich lassen, obwohl sie damit wohl zu viel erwartete. Während sie mit den langen Schritten des Fotografen Schritt zu halten versuchte, kam der Gedanke. Dass etwas aufgebrochen worden war. Aufgebrochen wie mit einem Brecheisen. Brutal.

    Anne ließ sie warten. Sie sei noch immer mitten in der Steißgeburt, wurde ihnen freundlich mitgeteilt. Also ließen sie sich zwischen den Schreien und den beschäftigten, weiß gekleideten Frauen nieder. Auf der Station herrschte eine intensive und gleichzeitig gelöste Stimmung. Schmerzensschreie gemischt mit glücklichem Lachen und lächelnde, müde Gesichter am Rande des Weinens.

    »Hast du Kinder?«, fragte der Fotograf plötzlich.

    Sie nickte.

    »Eine Tochter, schon ein Teenager. Ein hartes Stück Arbeit«, fügte sie hinzu und kam sich alt vor. Er konnte nicht viel älter als Ende zwanzig sein.

    »Ich habe zwei«, sagte er zu ihrer Überraschung. »Einen Jungen und ein Mädchen. Fünf und sieben.«

    Sie hatte wohl ziemlich verblüfft dreingesehen, denn er fügte hinzu:

    »Ich habe früh angefangen.«

    Anne kam, und sie kriegte ihr Interview, in der Ecke eines Büros, in das beschäftigte Menschen ab und zu hereinplatzten, eine Entschuldigung murmelten und wieder gingen. Bo fotografierte, und sie dachte flüchtig an Ida Marie. Wie sie zusammengebrochen war und Anne Angst gehabt hatte, dass das Kind kommen würde, mitten in dem ganzen Durcheinander. Sie hatten Ida Marie auf einen Stuhl gesetzt, vornübergebeugt, so gut es ging, während sie weinte. Schluchzte wie ein Wasserfall und die Worte hervorstieß: »Ich will es nicht haben. Ich will es nicht haben.« Und sie wussten nicht genau, ob sie von dem Kind in ihrem Bauch sprach, das sie plötzlich nicht haben wollte; oder ob sie den Tod, der so nahe war, auf Abstand zu halten versuchte.


    Anne wiederholte still die Fakten. Eine Hausgeburt, meinte sie. Die Nabelschnur war ungeschickt durchtrennt und verknotet worden. Der Körper des Kindes mit getrocknetem Blut verschmiert.

    »So wie ich das sehe, ist er 24 Stunden nach der Geburt auf dem Fluss ausgesetzt worden. Aber ihr müsst euch im rechtsmedizinischen Institut schlau machen«, sagte sie und seufzte deutlich hörbar, während ihre Finger an der Tasche des Kittels herumfingerten, als hätte sie dort etwas, an das sie sich klammern konnte. »Ich kann nur sagen, wie es unmittelbar aussah.«

    »Wie im Mittelalter«, hatte Anne unten am Fluss fast weinend gesagt.

    »Und das im modernen Dänemark. Wer setzt sein Kind auf diese Weise in einem Land aus, wo es so viele Hilfsmöglichkeiten gibt?«

    Dicte hätte nie gedacht, dass Anne bleich aussehen könnte. Aber plötzlich schien jemand auf einen Fernseherknopf gedrückt zu haben, und alles wurde schwarzweiß. Als könnte man in diesem Moment durch sie hindurch in das dunkle Wasser des Flusses sehen.

    »Was machen wir mit den Bildern von der Wanne?«, fragte Bo. »Wo ist die jetzt?«

    »Bei der Polizei. Zur technischen Untersuchung«, sagte Anne, die wusste, wie so etwas vor sich ging. »Aber Ida Marie hat doch Bilder gemacht. Sowohl von dem Geburtstag als auch später. Warum holt ihr euch nicht den Film?«


    »Geburtstag?«, fragte Bo, als sie zusammen das Krankenhaus verließen, um sich zu Ida Maries Reisebüro zu begeben.

    »Never mind«, seufzte Dicte und dachte an Annes kleines Königreich im Krankenhaus. Für sie würde es nie mehr so sein wie vorher, das fühlte sie. Und Ida Marie. Schwanger. Erstgebärende mit neununddreißig. Von ihnen dreien war sie diejenige, die auf keinen Fall hätte dort sein sollen. Nie das tote Kind hätte sehen dürfen. Die, der es vergönnt sein sollte, am nächsten Morgen mit einem totalen Blackout aufzuwachen. Das wünschte sie Ida Marie, auch wenn es unmöglich war. Dass sie sich an nichts anderes als an das Kind in ihrem Bauch erinnerte.


    Ida Marie war zu dem Reisebüro am Store Torv gegangen, das ihr zusammen mit drei anderen Frauen gehörte. Wo hätte sie auch sonst hingehen sollen, dachte Dicte, denn Theis war auf Dienstreise in Kopenhagen. Und wer war besser dazu geeignet, zu trösten und die Wogen zu glätten als gute Kolleginnen? Am besten wäre natürlich eine Psychologin gewesen, aber so etwas durfte man Ida Marie nicht vorschlagen. Sie hatte die Nase voll von Psychologen, würde sie sicher antworten und hinzufügen, dass das nicht persönlich gemeint sei.

    Sie saß mit einer Tasse Tee zusammen mit einer Kollegin in dem kleinen Gemeinschaftsraum. Grüßte bleich.

    »Hej.«

    Dicte konnte es nicht lassen. Sie setzte sich neben Ida Marie und streichelte ihren Arm, dessen Muskeln angespannt waren.

    »Wie geht es dir?«

    »Grauenhaft«, murmelte Ida Marie in die Teetasse.

    Dicte nickte zu dem Fotografen hinüber, der sich ein wenig abseits hielt.

    »Das ist Bo. Ich soll einen Artikel schreiben, verdammt. Über das, was passiert ist.«

    Ida Marie befeuchtete vorsichtig die Lippen mit der Zunge. Als wollte sie nachspüren, ob sie noch da waren. Nickte Bo kurz zu und glitt wieder in ihre Tee-Welt.

    Dicte räusperte sich.

    »Vielleicht sollte sich jemand um dich kümmern«, schlug sie vorsichtig vor. »Du kannst mit mir kommen. Bis Theis wieder da ist.«

    Ida Marie schüttelte den Kopf.

    »Mir geht es gut. Ausgezeichnet. Ist mir nie besser gegangen.«

    Dicte ließ die Lüge einen Augenblick im Raum stehen. Wusste nicht richtig, wie sie zu Ida Marie durchdringen sollte.

    »Hast du die Kamera dabei? Den Film?«, fragte sie leise, als könnte etwas kaputtgehen, wenn sie laut spräche. »Vielleicht können wir einige der Aufnahmen für den Artikel brauchen«, sagte sie. Sie kam sich wie der reinste Aasgeier vor.

    Ida Marie sah sie voller Abscheu an. Setzte die Teetasse mit einem Scheppern ab.

    »Von dem Kind?«

    Dicte schüttelte den Kopf. Streichelte wieder den Arm, der jetzt unruhig über den Tisch fuhr.

    »Wir zeigen das Kind nicht«, versprach sie. »Nur die Situation. Uns. Die Wanne, falls sich ein brauchbares Bild findet.«

    Ida Marie saß eine Weile da und sah ihren Arm an, als wäre er ein selbstständiger Teil von ihr. Dann schüttelte sie Dictes Hand ab, griff in die Tasche und holte die Kamera heraus. Gab sie ihr.

    »Du kannst alles haben«, sagte sie mit belegter Stimme.


    Die Redaktion war zu klein für die sechs Journalisten, und vom ersten Tag an hatten die anderen davon geredet, in ein größeres Haus umzuziehen. Aber mit der Zeit hatte Dicte begriffen, dass sie das seit Jahren taten. Träumen. Von Büros an dem neuen Jachthafen und einem eigenen Firmenboot mit Logo. Es blieb beim Reden, weil die Zeitung in Kopenhagen immer sparen musste. Deshalb mussten sie sich in drei kleinen Räumen und einem etwas größeren zusammendrängen, in dem sie gemeinsam mit zwei anderen und einer stimmungsvollen Aussicht auf den Telefontorget und die Straßenverkäufer saß, die in regelmäßigen Abständen von der Polizei aufgefordert wurden zu verschwinden.

    Bo war mit Ida Maries Film in der altmodischen Dunkelkammer verschwunden. Sie setzte sich an den Schreibtisch, der sich noch immer nicht ganz vertraut anfühlte. Holte ihren Block heraus und landete mit einem einzigen Anruf bei Kriminalkommissar John Wagner, der sich nicht zu dem Todesfall äußern wollte.

    Sie bekam ein paar vorhersehbare Antworten der Sorte »Das kann ich nicht kommentieren« oder »Es ist zu früh, Vermutungen anzustellen«. Bevor sie auflegte, war sie nahe daran, ihm eine Karriere als Politiker vorzuschlagen.

    Sie sah aus dem Fenster. Konnte fast bis zum Fluss hinuntersehen, wenn sie wollte. Hätte zumindest aufstehen und ihn erahnen können, aber sie ließ es. Sie musste das loswerden. Es wegarbeiten. Genau das musste sie. Selbst wenn sie Sensationen hasste. Und noch mehr, darüber zu schreiben.

    Während ihres Praktikums bei der Zeitung, das Ewigkeiten zurücklag, hatte Kaiser sie ausgeguckt und ihr einen persönlichen Kurs verpasst, der sie beide frustriert zurückgelassen hatte. Ihn, weil er aus unerfindlichen Gründen davon überzeugt war, dass sie ein verborgenes Talent in sich trug. Sie, weil sie wusste, dass er sich irrte. Sie konnte alles Mögliche andere. Lange psychologische Analysen über Führungsstile schreiben, Wirtschaftsbilanzen lesen und ungewöhnliche Wirtschaftsgeschichten aufspüren. Aber die Sensationsberichterstattung war und blieb ihr ein Rätsel. Sie verstand einfach nicht, wie etwas so Einfaches und Direktes so verdammt schwer sein konnte. Vielleicht, weil sie das Sensationelle in den meisten Sensationen in der Regel nicht sah und das Prestige nicht verstand, das damit verbunden war, den eigenen Namen auf der Titelseite zu sehen.

    »Raus mit den Sprachblüten«, pflegte Kaiser zu sagen, wenn er ihre Artikel entstaubte. »Wir brauchen Fakten. Die Geschichte muss in den ersten drei Zeilen erzählt werden. Und in der Überschrift.«

    Das versuchte sie jetzt nach bestem Wissen und Gewissen und fühlte sich in ihre Praktikumszeit zurückversetzt. Hier saß sie mit ihren vierzig Jahren, gerädert nach den Ereignissen des Tages. Mit einer Teenagertochter, die unbeschützt durch die Stadt streifte; glückliche Besitzerin einer baufälligen Behausung auf dem Lande. Und sie wusste, dass sie bald Kaiser am Apparat haben würde mit seinen üblichen Einwänden, was Schreibstil, Prioritätensetzung und Perspektive anging.

    Sie sah auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde bis zur Deadline und sie mühte sich noch immer mit dem Vorspann ab. Vor der Überschrift hatte sie bereits kapituliert. Darum musste sich der Redakteur kümmern. Das war zu schwer. Zu unmöglich, dachte sie. Sie wollte gerade mit dem Text anfangen, als hinter ihr eine Stimme in übertriebenem Nachrichtensprechertonfall las:

    »Ein neugeborenes Baby wurde gestern in einer Plastikwanne auf dem Århus gefunden.«

    Bo lächelte zuckersüß und winkte mit den Fotos.

    »Sollen die Leser nicht gleich erfahren, dass das Kind tot war?«, schlug er vor.

    Sie seufzte.

    »Das kommt weiter unten. Es muss doch ein Spannungsmoment geben, das die Leute motiviert weiterzulesen«, erfand sie.

    Er setzte sich auf die Schreibtischkante. Sah sie herausfordernd an.

    »Gib es zu. Du hast nicht daran gedacht.«

    »Und wenn es so wäre?«, sagte sie müde. »Was geht das dich an? Du bist doch nur der Fotograf.«

    Die Worte waren ihr entschlüpft, bevor die Selbstzensur hatte einsetzen können. Ein rotes Licht leuchtete vor ihrem inneren Auge auf. So etwas sagte man nicht zu einem Fotografen. Man konnte es notfalls denken, aber auch das war fast schon strafbar.

    Er schüttelte langsam den Kopf.

    »Ich glaube, du hast heute einen schlechten Tag«, sagte er leise.

    »Einen sehr schlechten«, gab sie zu.

    »Und er wird noch schlechter«, sagte er ernst, aber mit einem kleinen Lächeln hinter dem Bart und Heiterkeit in den tiefsten Winkeln seines Blickes.

    »Wie meinst du das?«

    »Ich meine, dass sie sich in Kopenhagen bestimmt über die Fotos wundern werden, die ich gerade mit einem Taxi zum Flughafen expediert habe. Genau wie ich mich gewundert habe, nur dass ich in der glücklichen Situation bin, dass du mich

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