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Schlaflos in Afrika
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eBook304 Seiten3 Stunden

Schlaflos in Afrika

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Über dieses E-Book

Wer in einem alten Range Rover einen Mann auf Krücken sechstausend Kilometer durch Afrika begleitet, braucht nicht nur Ausdauer, sondern Nerven aus Stahl. Acht quälend langsam vergehende Monate verbrachte die aus Wien stammende Autorin auf und neben den Straßen Afrikas. Sie gehörte zum Begleitteam des „einsamen Mannes am Horizont“, der auf Krücken die Kilometer fraß, um Spenden für behinderte Menschen zu sammeln. In dieser Zeit lernte Christina nicht nur das Land und die Einheimischen besonders gut kennen, sondern auch ihr eigenes Team – und nicht zuletzt sich selbst.

SpracheDeutsch
HerausgeberLatos Verlag
Erscheinungsdatum18. Okt. 2019
ISBN9783964150677
Schlaflos in Afrika

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    Buchvorschau

    Schlaflos in Afrika - Christina Unger

    Vorwort

    Niemand ist Dein Feind.

    Niemand ist Dein Freund.

    Jeder ist Dein Lehrer.

    Theosophische Gesellschaft

    Wer wie ich einen Mann auf Krücken Tausende Kilometer durch Afrika begleitet, braucht nicht nur Ausdauer, sondern Nerven aus Stahl. Viele im südlichen Afrika kennen Barry Eustice als den »Einsamen Mann am Horizont«, der auf Krücken die Kilometer fraß, um Spenden für behinderte Menschen zu sammeln. Es ist aber auch eine Geschichte über ein Afrika, das zwar schon etliche Jahre zurückliegt, aber an gesellschaftspolitischer Brisanz bis heute nichts eingebüßt hat, im Gegenteil.

    Viel später erst konnte ich diese Reise, die sich von der Grenze zu Uganda bis zur Grenze nach Südafrika erstreckte, mit der Distanz niederschreiben, die notwendig ist, um über diesen sehr spannenden, aber aufwühlenden Abschnitt in unserem Leben objektiv berichten zu können, denn es prallten gleich mehrere Welten aufeinander: Der Held der Geschichte, der eine unglaubliche sportliche Leistung erbracht hatte. Sein Begleitteam, bestehend aus zwei Idealisten, die ihn betreuten und Erfolg und Niederlage mit ihm teilten. Sowie die Realität in Afrika, die irgendwo zwischen Euphorie und Agonie angesiedelt war.

    Außerdem möchte ich hervorheben, dass dieses Buch aus meiner ganz persönlichen Perspektive geschrieben wurde. Manche Leser werden mich nach der Lektüre vielleicht verurteilen, andere hoffentlich verstehen. Ich hielt durch, weil ich an die Sache glaubte. Das Ende jedoch kam für viele überraschend.

    Beginnen wir jedoch von vorne …

    ERSTER TEIL

    Wie vergeblich ist es, sich hinzusetzen, um zu schreiben,

    wenn du nicht aufgestanden bist, um zu leben.

    Henry David Thoreau, 1851

    1

    Der Kapitän der British Airways Maschine musste früher einmal Kampfpilot gewesen sein, denn sein Anflug auf Nairobi glich einem hungrigen Bussard, der tief unten eine Maus erspäht hatte. Der indische Sitznachbar zu meiner Rechten lächelte fatalistisch, der vietnamesische Nachbar zu meiner Linken blieb fernöstlich gelassen. Ich in der Mitte klammerte mich hysterisch an mein Speibsackerl, besser bekannt als Airsick Bag. Falls mir beim Absturz das Frühstück hochkommen sollte, wollte ich die netten Nachbarn nicht unbedingt vollkotzen, obwohl das dann unsere kleinste Sorge sein würde.

    Die Wolkenkratzer näherten sich mit atemberaubender Geschwindigkeit und ich dachte nur: Sehr schade, dass ich wohl nie herausfinden werde, wie es mit Barry Eustice und dem Sechstausend-Kilometer-Marsch weitergehen wird.

    Als die Räder auf dem Rollfeld aufschlugen, applaudierte in der Flugzeugkabine diesmal niemand. Wir blieben stumm wie die Fische. Als ich dann wenig später in Dennis’ Armen lag, war dieser brutale Start in mein Abenteuer aber schnell wieder vergessen. Ich versank in seinen haselnussbraunen Augen und erinnerte mich augenblicklich, warum sie mich schon vor zwei Jahren in ihren Bann gezogen hatten.

    Damals, als wir uns in Botswana über den Weg gelaufen waren, lange bevor mich sein Brief in Österreich erreicht hatte, der unserem Leben eine dramatische Wende geben sollte. Sonst schrieb er über seinen dritten und vierten Motorradunfall und über seine Arbeit bei Peace Corps, der kanadischen Entwicklungshilfe. Diesmal aber stellte er mir die schicksalhafte Frage, ob ich bereit wäre, einen behinderten Freund sechstausend Kilometer mit dem Land Rover durch Afrika zu begleiten, um Spenden einzutreiben. Spenden für Menschen, die vom Glück verlassen waren: die an Kinderlähmung, Tuberkulose oder Lepra Erkrankten, die von Geburt an Deformierten und in ihren Hütten Eingeschlossenen, denen er die Achtung vor sich selbst und ihre Würde zurückgeben wollte. Und wenn er selbst dabei draufgehen sollte ‒ er war bereit, seine Gesundheit und sogar sein Leben für dieses hehre Ziel zu riskieren. Ich musste zugeben, Barry Eustice beeindruckte mich lange, bevor ich ihn kennenlernte.

    Nach zwei langen Jahren standen Dennis und ich uns wieder gegenüber. Rein optisch gesehen, war er genau der Typ Mann, der meine Knie weich werden ließ: ein durchtrainierter, gebräunter Körper, ein sexy getrimmter Vollbart und dunkle, dichte Haare, die er selten schnitt und die ihm ständig in die Augen fielen. Er war nicht groß, was ihm aber an Zentimetern fehlte, machte er durch Cleverness und Tatkraft wett. Da ich selbst klein und zierlich war, mit langen, brünetten Haaren und graublauen Augen, hatten wir eigentlich schon früher ein recht ansprechendes Paar abgegeben, und viel hatten wir uns nicht verändert in diesen zwei Jahren.

    Dennis blickte mich noch genauso zärtlich an wie damals in Botswana, als wir uns goodbye sagten, ohne zu wissen, ob wir uns je wiedersehen würden.

    »Mein Gott, wie sehr du mir gefehlt hast!«, sagte er schlicht.

    Nairobi war keine sehr anziehende Stadt. Es besaß einige Wolkenkratzer, auf die es mächtig stolz war, aber wenig Flair. Dennoch war es ebenso ein Teil Afrikas wie die Urwälder und die Buschlandschaften, ein Teil, der zu einem Afrika gehörte, das sich mit atemberaubender und geradezu erschreckender Geschwindigkeit wandelte.

    Wir wohnten im Safari Park Hotel, etwas außerhalb der Stadt. Der Inhaber, ein Koreaner, hatte selbst eine behinderte Tochter und ließ uns kostenlos und auf unbegrenzte Zeit bei ihm wohnen. Es war herrlich, in der kühlen Luft am Swimmingpool zu sitzen, auf einer offenen Veranda, bei Langusten und Wein. Die Kellner waren freundlich und machten kugelrunde Augen, als sie von unserem Vorhaben erfuhren.

    »Kein Mensch kann sechstausend Kilometer zu Fuß gehen«, behauptete Moses, der Oberkellner. »Schon gar kein Krüppel.«

    Der zweite Kellner hieß David und schien eine etwas positivere Einstellung zum Leben zu haben. »Ich kenne Sie, Sir, Sie waren im Fernsehen!«

    Dennis grinste und freute sich, erkannt worden zu sein.

    »Ich habe auch diesen Engländer gesehen, der sechstausend Kilometer auf Krücken gehen will.« In seiner Begeisterung zerknüllte David die rote Stoffserviette, die eigentlich sauber und faltenlos über seinem Arm hängen sollte. »Er hat als Kind Knochentuberkulose bekommen und acht Jahre im Krankenhaus verbracht. Später hatte er einen Autounfall und seitdem geht er auf Krücken. Mit dreißig ging er von England nach Botswana, er heiratete eine schwarze Frau und hat mit ihr zwei Kinder. Ich habe mir alles gemerkt! Gott schütze ihn! Was er tut, wird vielen armen Menschen helfen.«

    Moses spitzte die Lippen. »Wie viele Kilometer ist er eigentlich schon gegangen?«

    »Als ich ihn gestern Morgen verließ«, antwortete Dennis, »war er zweihundertzehn Kilometer südlich der Grenze zu Uganda.«

    Moses setzte ein spöttisches Lächeln auf. »Das ist aber noch nicht sehr weit.«

    »Er ist ja auch erst ein paar Tage unterwegs.«

    Der Oberkellner kratzte sich an der Nase. »Wie alt ist er eigentlich?«

    »Sechsundvierzig.«

    »Dann ist er ja ein alter Mann! Der schafft das nie.« Nach dieser Ansage rümpfte er die Nase und verließ uns kopfschüttelnd. David aber wünschte uns viel Glück, denn wir mussten gute Menschen sein.

    Wir blieben drei Tage in Nairobi und Dennis weihte mich in das Projekt ein. »Wir arbeiten mit den Service-Klubs zusammen", erklärte er mir. „Mit den Lions und den Rotariern. Die sind dir doch ein Begriff?«

    »Vage.« Ich wusste nur, dass es sich um weltweit tätige Wohlfahrtsorganisationen handelte, deren Mitglieder aus der Wirtschaft und der Finanzwelt kamen und sorgfältig selektiert wurden, ehe man sie in die Klubs aufnahm. Das Geld sollte durch Sammelaktionen, Sportveranstaltungen, Auktionen, Wohltätigkeitsbälle und mithilfe der Medien hereingebracht werden.

    »Wir haben mit zwei Treuhändern zwei Konten eingerichtet«, berichtete Dennis. »Ein Spendenkonto für die Behinderten und ein Sponsorenkonto für uns.«

    Ich war ziemlich beeindruckt und bereit, mein Bestes zu geben.

    »Aber eigentlich machen nicht wir die Arbeit«, fuhr Dennis fort, »sondern die Service-Klubs. Wir stellen bloß die Motivation dar, damit sie aktiv werden. Wir sind sozusagen das Aushängeschild, damit die Leute Geld spenden.«

    »Glaubst du, dass es genug Menschen gibt, die es sich leisten können zu spenden? Afrika ist ein armes Land.«

    »Afrika ist reich«, widersprach Dennis. »Die Menschen sind arm.«

    »Läuft das nicht auf dasselbe hinaus?«

    »Nein. Das Geld ist da, es ist nur einseitig verteilt. Deshalb müssen wir zu jenen vordringen, die es besitzen.«

    Das leuchtete auch mir ein.

    2

    Der Augenblick, in dem ich Barry Eustice kennenlernen sollte, rückte näher. Wir fuhren schon eine geraume Weile Richtung Norden, entlang ausgedehnter Teeplantagen, die in großen, sanften Wellen bis an den Horizont rollten, mit Hunderten Teepflückerinnen, die wie bunte Vögel in den sattgrünen Weiten standen. Unser Land Rover war mit Plakaten der Firmen zugepflastert, die uns sponserten. Poster kündigten den Marsch an. Das Innere des Wagens war mit Werkzeug und haltbaren Lebensmitteln vollgestopft. Auf dem Dach lagen mit Ketten gesicherte Reservereifen und Reservetanks für Wasser und Treibstoff. Dort oben stand unser Zelt, das wir über eine Leiter erreichten, und in dem wir die nächsten Monate schlafen sollten.

    Wir befanden uns im Hochland, dem einstigen Eldorado der frühen englischen Siedler, die von der fruchtbaren Erde und der kühlen Luft angelockt worden waren. Die rote Erde erinnerte unheimlich an die Mau-Mau-Bewegung, die in den Fünfzigerjahren den ersten Aufstand und die Unabhängigkeit vom britischen Empire einleiteten, und für diese Erde einen Bluteid geschworen hatte.

    Irgendwann im Nirgendwo blitzte plötzlich das rotweißrot gestreifte Segel eines betagten Range Rovers durch die Baumkronen. Eine zwei Meter lange Tafel »6.000 km Solo Charity Walk for the Disabled – Give Generously« war selbst von Weitem gut lesbar. Es war ein alter, dunkelgrüner Diesel, der da dreißig Meter von der Straße entfernt auf einer Lichtung im Gebüsch stand. Ein schwerfälliges, aber sehr stabiles Fahrzeug, in das ich mich auf der Stelle verliebte, ich taufte es Goliath. Der Wagen war umringt von einer Schar Afrikaner. Ich sprang auf die Straße und die Menschenwand teilte sich, um mich durchzulassen.

    Und dann stand ich vor Barry Eustice.

    Er saß auf einem Klappstuhl, das lahme Bein von sich gestreckt und rieb seine Hände mit Wundbenzin ein. Er trug einen weißen Schlapphut, wollene, rotweiße Gelenkschützer und ein weißes Shirt mit dem roten Werbeaufdruck Bata auf der Brust. Er war erschreckend dünn und aus seinem tief gebräunten Gesicht richteten sich leuchtend blaue Augen auf mich. Um seinen schön geschwungenen Mund lag ein Ausdruck unsagbarer Erschöpfung. Als ich auf ihn zuging und ihm die Hand reichte, wechselten sich Mitgefühl und Bewunderung für ihn ab. Ich musste mich erst räuspern, ehe ich mich vorstellte.

    »Ich bin Christina …«

    Sein Händedruck war überraschend unverbindlich und die von der trockenen Luft im Hochland zerrissenen Lippen teilten sich zu einem belustigten Lächeln.

    »Du musst ja noch durchgeknallter sein als ich!«

    Zugegeben, seine ersten Worte überraschten mich, aber ich konnte ihm nur schmunzelnd beipflichten.

    Am durchgeknalltesten aber war sicherlich John, der englische Tramp, von dem Dennis mir schon geschrieben hatte, und der bloß eine Notlösung darstellte. Er lehnte mit verschränkten Armen am Wagen und beobachtete die Szene aus einiger Distanz. Er war vierundsechzig, hatte einen ziemlichen Bauch, um den sich das Bata-Shirt spannte, trug kurze, graue Hosen und einen grünen Hut mit einer Vogelfeder. Sein listiges Gesicht grinste mir entgegen. Er bedachte mich mit einem herzhaften Schlag auf den Rücken, dass meine Zähne hart aufeinanderschlugen.

    »Mein Gott, Mädchen, bin ich froh, dass du da bist!«

    Er zog mich sofort zur Hinterseite des Range Rovers. Dort sah ich links von der Wagentür einen mit Gas betriebenen Kühlschrank, auf dem eine Kochplatte befestigt war, wo gerade Wasser in einem Kessel verkochte. Geschirr und Konserven fanden sich in einem gemeinschaftlichen Chaos mit Seilen, Motoröl, verfaulten Tomaten und vor Dreck strotzenden Lappen. Fraglos war das sein Revier.

    John hockte sich auf das Trittbrett und wies mit dem Kopf über die Schulter ins Wageninnere. Neben einem Stockbett und einer Stereoanlage lagen mehrere Koffer und Kisten wild durcheinander.

    »Schau dir das an«, beklagte er sich. »Hier muss ich mit ihm schlafen! Und er raucht die ganze Nacht. Er spricht nicht mit mir und essen tut er auch nicht. Ich weiß nicht, wie dieser Mensch das durchhält. Immer nur gehen! Um sieben Uhr in der Früh ist er schon auf den Beinen und um Mitternacht geht er immer noch. Mir ist er unheimlich, ich sag’s dir ganz ehrlich. Das viele Gehen ist ihm zu Kopf gestiegen …« Er tippte sich demonstrativ an die Stirn.

    John, so schien mir, hatte ein starkes Bedürfnis, sich bei jemandem auszusprechen. »Und der andere auch«, fuhr er fort, »der ist auch ganz besessen von dieser Sache. Sechstausend Kilometer, das ist ja lächerlich! Das halten sie nicht durch. Niemand hält das durch.«

    Als ich vor vier Tagen von zu Hause abflog, wusste ich noch nicht, wie das Projekt im Detail ablaufen sollte. Aber ich war auf alles gefasst und bereit, mich anzupassen, egal, was mich in Afrika erwartete. Ich gab zu, im Moment erheiterte mich John mehr, als dass er mich abschreckte.

    »Dann mach du das erst mal mit«, fuhr er fort, als er mein grinsendes Gesicht sah, »dann wirst du sehen, was ich meine. Fünf Kilometer fahren, anhalten, Sessel raus, Tisch raus, Wasser kochen, Essen machen, den Herrn bedienen und wieder fünf Kilometer fahren. Fahren und warten. Ich bin schon ganz verrückt vor lauter Warten. Und überall die Schwarzen! Dutzende! Bata Schuhe wollen sie haben. Dann sage ich, ich verkaufe keine Schuhe, wir sind ein Wohltätigkeitsunternehmen und wollen Spenden von euch für die Behinderten. Dann lachen sie mich aus, als wäre das ein Witz! Stehlen tun sie auch wie die Raben. Ich kann nicht gleichzeitig kochen und auf alles aufpassen, in der Nacht schon gar nicht. Man hört so viel von Überfällen in Kenia, aber er besteht darauf, die Stereoanlage aufzudrehen und Musik zu hören. Beethoven! Und das mitten im afrikanischen Busch! Die Musik kann man Hunderte Meter weit hören, damit locken wir nur noch mehr Leute an. Beethoven würde sich im Grab umdrehen, wenn er das erleben müsste! Irgendwann kriegen wir eins übergebraten und das war’s dann mit dem Wohltätigkeitsmarsch, bevor er richtig begonnen hat.«

    Er legte die Hand auf sein Herz. »Schau mich an, ich bin vierundsechzig! Was für eine Chance haben ein alter Mann und ein Krüppel?« Und er beantwortete sich die Frage gleich selbst. »Keine! Na also. Muss man die Leute so provozieren? Aber mit dir wird es hoffentlich leichter werden. Ich bin wirklich froh, dass du gekommen bist. Vielleicht wird diese Reise jetzt ein wenig erträglicher für mich.«

    Dennis hatte sich von uns ferngehalten und wollte mir Gelegenheit geben, John kennenzulernen. Spätestens, wenn wir offiziell in Nairobi einfuhren, hatte er vor, ihn gegen jemanden auszutauschen, der sich nicht als Angestellter ohne Bezahlung verstand, sondern als überzeugter und freiwilliger Helfer, der den Sinn des Unternehmens begriff und mit Herz und Seele dabei war.

    John erhob sich, nahm den pfeifenden Wasserkessel von der Kochplatte, kletterte ächzend aus dem Wagen und pflanzte sich vor Barry auf. »Tee oder Kaffee?«

    Barry unterhielt sich mit Dennis über die Service-Klubs in Nairobi. Es sah nicht gut aus, ein einziger Fünfzeiler war bisher in einer Tageszeitung erschienen. Weder die Lions noch die Rotarier hatten großen Enthusiasmus gezeigt, unser Projekt zu unterstützen. Daher sollten Dennis und ich noch vor Barrys Einmarsch vorausfahren und einen gebührenden Empfang auf die Beine stellen.

    »Tee oder Kaffee?«, wiederholte John. Wiederum erhielt er keine Antwort und so drehte er sich achselzuckend zu mir um. »Siehst du, was ich meine? Wenn ich ihm dann Tee auf den Tisch stelle, will er Kaffee. Er ignoriert mich einfach! Dabei muss ich vierundzwanzig Stunden mit ihm leben …«

    Mit einem Handbesen verscheuchte er neugierige Kinder, die in den Wagen klettern wollten.

    Dennis warf einen Blick zu uns herüber. »Wenn sie dich stören, John, gib ihnen von den Bonbons«, riet er ihm.

    John erhob sich brummend und kletterte in den Wagen. Aus den Tiefen hinter dem Stockbett zerrte er einen Karton mit Bonbons hervor. »Alles gesponsert!«, verkündete er nicht ohne Stolz und kam ächzend auf die Beine. »Pulvermilch, Nescafé, Konserven, Speiseöl, Reis, Zucker … Davon können wir wochenlang leben.«

    Er warf einem der Kinder einen Plastiksack mit Bonbons zu, was sich als grober Fehler herausstellte, denn augenblicklich entbrannte ein Kampf. Die Kinder begannen sich zu prügeln und jagten dem Jungen hinterher, der sich mit den Bonbons aus dem Staub machen wollte.

    Dennis hatte die Szene aus dem Augenwinkel beobachtet. Er stand auf und fing den Jungen ein. Dann verteilte er die Bonbons gerecht unter den Kindern und kurz darauf war rundum zufriedenes Schmatzen zu hören. Ehe er sein Gespräch mit Barry fortsetzte, warf er John noch ein Schimpfwort an den Kopf. Daraufhin zog John beleidigt die Schultern ein und verschwand im Wagen.

    Die Gruppe Erwachsener, die um uns herumstand, schien die Szene nicht sonderlich berührt zu haben. Die Frauen trugen farbenfrohe Tücher, die sie kitangas nannten, um Brust oder Hüften gewickelt waren und noch viele andere Zwecke erfüllten. Sie tuschelten untereinander, immer wieder schweiften ihre Blicke von den Fahrzeugen zu uns. Wispernd versuchten sie zu lesen, was auf der großen Tafel geschrieben stand.

    »Meinst du nicht«, sprach ich Barry zum ersten Mal direkt an, »wir sollten unsere Botschaft auch in Swahili schreiben? Vielleicht verstehen nicht alle Englisch.«

    Barry richtete seine strahlend blauen Augen auf mich. »Ich glaube, die Menschen verstehen schon, was wir hier tun.«

    Wie zur Bestätigung löste sich ein Mann aus den Reihen und näherte sich mit gefalteten Händen dem Klapptisch, an dem wir drei wie auf einem Präsentierteller saßen. Er verneigte sich respektvoll und legte schweigend eine Zehn-Cent-Münze auf die Tischplatte. Andere folgten seinem Beispiel und bald war ein ansehnlicher Münzenberg zusammengekommen.

    John kam aus seinem Schmollwinkel erst wieder hervor, als die Leute fort waren, und sammelte das Geld ein. »Lächerlich!«, brummte er. »Fünfzehn Shilling, das ist weniger als ein Englisches Pfund. Was sollen wir damit anfangen?«

    »Der gute Wille zählt«, wies Barry ihn zurecht, »und die Tatsache, dass sie begriffen haben, was wir tun.«

    »Vom guten Willen allein kann niemand abbeißen«, blieb John störrisch.

    Barry lächelte mir verstohlen zu und verdrehte die Augen. Als John wieder im Wageninneren verschwunden war, sagte er zu mir: »Er ist ein Original, aber das wirst du sicherlich schon bemerkt haben.«

    »Wie kannst du bloß bei so viel Pessimismus motiviert bleiben?«, fragte ich.

    Er streifte bedächtig seine baumwollenen, schweißgetränkten Handschuhe über. »Ich nehme ihn nicht ernst, sonst würde ich verzweifeln.« Auf seinen Handflächen bemerkte ich alte Blasen neben vielen frischen. Er schob einen Schaumgummi in die Handschuhe, zündete sich eine Zigarette an und griff zu seinen silbern schimmernden Metallkrücken.

    »John!«, rief er. »Diesmal nur vier Kilometer.«

    Aus dem Range Rover kam ein Grunzen.

    Barry erhob sich und zwinkerte mir zu. Dann kämpfte er sich durch das hohe Gras bis zur Straße, und ich blickte ihm mit gemischten Gefühlen nach. Kaum hatte er den Asphalt berührt, holte er mit den Krücken weit aus und nahm die nächste Etappe in Angriff, die ihn um weitere vier Kilometer seinem Ziel näher bringen würde.

    Zum ersten Mal begriff ich glasklar, was auf uns zukam. Sechstausend Kilometer war ab heute keine abstrakte Zahl mehr, und das helle, metallene Klicken seiner Gehhilfen konnte ich noch hören, als er aus meinem Sichtfeld längst verschwunden war.

    Dennis war neben mich getreten, küsste mich und legte seinen Arm um meine Hüfte. »Er hat eine fantastische Geschwindigkeit drauf«, sagte er zufrieden. »Sein Tagesdurchschnitt liegt bei fünfunddreißig Kilometern.«

    3

    Fünfunddreißig Kilometer am Tag waren eine großartige Leistung für jemanden, der sie auf Krücken bewältigte. Für uns drei aber, die PS-starke Fahrzeuge zur Verfügung hatten, glichen sie einem Schneckentempo. Dieser Umstand machte John besonders reizbar.

    Als Schlafplatz suchten wir nach Möglichkeit flache Stellen im Busch abseits der Straße, was wegen der Bodenbeschaffenheit nicht immer einfach war. Oft waren wir am nächsten Morgen überrascht, wo wir die Nacht verbracht hatten.

    Es herrschte Trockenzeit und über uns spannte sich ein Sternenhimmel so überwältigend klar, wie ich ihn nur in Afrika gesehen hatte. Der spärliche Verkehr kam in der Nacht fast gänzlich zum Stillstand und es war still wie in einem Grab.

    Nur einmal kam es zwischen Barry und einem Matatu, in dem bis zu fünfzehn Personen zusammengequetscht saßen, fast zur Konfrontation. Das Sammeltaxi schlingerte geradewegs auf ihn zu, und wäre er nicht kopfüber in ein Gebüsch gestürzt,

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