Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Fallenden
Die Fallenden
Die Fallenden
eBook263 Seiten3 Stunden

Die Fallenden

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Fortsetzung von Mikael Torfasons Island-Familiensaga – nach "Lost in Paradise. Islands arme Könige … ein amerikanischer Himmel … und ich, Torfis zweiter Sohn". Mikael, inzwischen in den Vierzigern, begleitet seinen Vater Torfi beim Warten auf eine lebensrettende Transplantation. In prägnanten Dialogen und intensiven Rückblenden erzählt der Autor von seiner turbulenten Kindheit und Jugend, von einer außergewöhnlichen Vater-Sohn-Beziehung und der schillernden Karriere seines Vaters in den 1980er und 1990er Jahren in Island. Torfi Geirmundsson, Mikaels Vater, scheint "größer als das Leben", eine Theater- oder Romanfigur, ein isländischer Peer Gynt, der in seinem Leben unendlich viel gewonnen und alles schnell wieder verspielt hat.
SpracheDeutsch
HerausgeberSTROUX edition
Erscheinungsdatum1. Okt. 2019
ISBN9783948065072
Die Fallenden

Mehr von Mikael Torfason lesen

Ähnliche Autoren

Ähnlich wie Die Fallenden

Ähnliche E-Books

Beziehungen für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Fallenden

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Fallenden - Mikael Torfason

    Karma

    1. KAPITEL

    Sündenfall

    Ich fliege.

    Ich fliege durch die Luft.

    Der Wind ist bitterkalt. Es ist ganz sicher Winter.

    Und ich fliege durch die Luft wie in meinen Träumen.

    Ich fliege.

    Ich öffne die Augen. Ich befinde mich im freien Fall über dem Swimmingpool unserer Nachbarn. Ich falle und krache durch die dünne Eisschicht auf dem Pool. Es tut nicht weh, als das Eis unter meinem Gewicht zersplittert. Ich sinke auf den Grund und schaue hoch zu den Lichtern, die sich im Eis spiegeln.

    Morgen kriege ich Halsschmerzen und Fieber und muss eine Woche im Bett bleiben, aber es vergehen noch zehn Jahre, bis mir die Mandeln rausgenommen werden. Ich bin ständig krank, doch jetzt ist mir innerlich ganz warm, weil Papa und ich so viel Spaß haben. Wir feiern nämlich. Ich durfte mit ihm zu einer Party. Meine Stiefmutter Dóróthea, meine neue Mama, ist bestimmt im Ausland, denn sie würde mir nie erlauben, mit Papa zu einer Party zu gehen. Ich bin erst acht Jahre alt.

    Alle lachen, als mein Kopf durch die dünne Eisschicht an die Wasseroberfläche stößt. Grinsend schnappe ich nach Luft und paddele wie ein Hund zum Beckenrand. Papa steht am Rand des Swimmingpools, lacht am lautesten von allen und schlägt sich auf die Schenkel.

    „Willst du durch den Ärmelkanal schwimmen? Mach, dass du rauskommst!", brüllt er, und die gesamte Partygesellschaft schmeißt sich weg vor Lachen.

    Papa hat mich in den Pool der Nachbarn geschmissen, weil ich die Erwachsenen gepiesackt habe. Ich bin eines dieser hyperaktiven Quengelkinder, die den Erwachsenen auf die Nerven gehen. Nur Papa nicht. Papa gehe ich nie auf die Nerven. Er vergöttert mich und findet es immer lustig, wenn ich vorlaut und frech bin. Papa war auch gar nicht sauer, als ich ihm einen Schneeball an den Kopf geworfen habe. Er ist mir einfach lachend hinterhergerannt und hat mich in den Pool geschmissen.

    Ein paar Frauen von der Party geben mir Handtücher, nachdem ich es geschafft habe, mich auf den Beckenrand zu hieven.

    „Das war super!, rufe ich. „Noch mal!

    Die Männer amüsieren sich köstlich, aber einige Frauen schütteln die Köpfe. Sie ermahnen Papa, mich nicht noch einmal reinzuschmeißen, ich müsse nach Hause und trockene Klamotten anziehen, sonst würde ich noch krank. Meine Lippen sind sofort blau angelaufen, aber ich bin ja auch ein kränkliches Kind. Ich friere, seit ich denken kann.

    „Du bist ganz blau im Gesicht", sagt eine Frau und fordert mich auf, sofort nach Hause zu gehen und mich aufzuwärmen. Anscheinend weiß sie, dass ich nebenan wohne und nicht weit laufen muss.

    Seit neuestem trinke ich Alkohol. Sozusagen. Es kommt mir jedenfalls so vor, als würde ich neuerdings Alkohol trinken, weil Papa mir am Tag vor Heiligabend Cognac gegeben hat. Das war vor ungefähr einem Monat, und wie ich so am Pool stehe, mit blauen Lippen und in ein Handtuch gewickelt, beschließe ich, mir einen Cognac zu genehmigen, wenn ich zu Hause bin. Ich habe noch nicht oft Weihnachten gefeiert, weil ich lange bei den Zeugen Jehovas war, und bei denen ist alles, was mit Weihnachten zu tun hat, verboten. Deshalb war ich vor Weihnachten total aufgeregt, und Papa meinte, ein Schlückchen würde mich beruhigen. Außerdem sagen die Erwachsenen immer, dass Cognac von innen wärmt. Meine Stiefmutter ist allerdings nicht begeistert, dass ich neuerdings Alkohol trinke, und hat mit Papa geschimpft. Er fand das einfach nur witzig.

    „Jetzt lauf schnell nach Hause!", sagt Papa und zerstrubbelt mir die nassen Haare.

    Ich nicke bibbernd, und Papa und ich gehen in entgegengesetzte Richtungen. Ich renne durch den Garten zu unserem Haus in Sigluvogur 7, während er zurück ins Haus der Nachbarn schlendert, der Star des Abends.

    Es ist 1982, und ich habe keine Ahnung, wo sich meine Brüder an diesem dunklen Januarabend herumtreiben. Vielleicht sind sie aufs Land gefahren. Wir Jungs werden in den Sommerferien immer auf Bauernhöfe geschickt, und manchmal machen wir auch im Winter einen Abstecher dorthin, wenn uns in Reykjavík langweilig wird. Meine Schwester Lilja ist wahrscheinlich bei Mama im Breiðholt-Viertel. Die beiden sind auch nicht mehr bei den Zeugen Jehovas, genau wie mein Bruder Ingvi, Papa und ich. Unsere Familie ist nicht mehr auf dem Weg ins Paradies.

    Zu Hause hat Papa eine hübsche kleine Bar, die wie ein Spiegelsaal aussieht, wenn man sie öffnet. Wie im Ausland, sagt er. Die Leute im Ausland, die wissen, wie man trinkt, im Gegensatz zu den Isländern, die sich mit Drinks nicht auskennen und immer nur Wodka Cola saufen. Papa hingegen trinkt Liköre und Cognac. Ich schenke mir Cognac in ein echtes Cognacglas und nippe daran, damit mir warm wird.

    Allem Anschein nach war ich mit acht Jahren ein fröhlicher und ungewöhnlich fantasievoller Junge. Das habe ich aber erst in letzter Zeit herausgefunden. Lange Zeit war ich der Meinung, ich sei unglücklich, trübselig und anstrengend gewesen, aber dann hat man mir erzählt, wie unterhaltsam und drollig ich mit acht Jahren war. Zum Beispiel war ich in der Punkband Mini-Punks. Mein Stiefbruder Knútur schrieb für uns einen Song, der hieß ‚Ich geh über den Laugavegur‘ und war eine Ode an den isländischen Schnaps Brennivín. Einige Wochen, nachdem ich vor Papas Hausbar gestanden und mir den Cognac hinter die Binde gekippt hatte, gaben wir ein Konzert. Ich war der Sänger der Band, und alle zwölf-, dreizehn- und vierzehnjährigen Teenie-Mädchen fanden den kleinen Punk total süß. Im Herbst, als der Swimmingpool unserer Nachbarn noch warm gewesen, habe ich eines dieser Mädchen nackt gesehen. Da durften mein Bruder Ingvi und ein paar andere Kinder aus dem Viertel in dem Pool schwimmen.

    Ich weiß nicht, ob ich ein Punk bin. Papa sagt, ich bin ein Rotzlümmel, der aufhören muss, mit Streichhölzern zu spielen. Im Herbst habe ich nämlich fleißig abgestorbenes Gras abgefackelt, aber der Brandgeruch hat mich jedes Mal entlarvt. Als ich jünger war, habe ich oft gezündelt und einmal sogar fast unsere Wohnung in Brand gesteckt. Aber jetzt, als ich vor Papas Hausbar stehe, habe ich schon seit vor Weihnachten nichts mehr angezündet.

    Papa ist genauso fantasievoll wie ich und lässt sich nicht alles bieten. Bei der Party hat er Geschichten über seinen Irish Coffee-Prozess zum Besten gegeben. Wenn ich das richtig verstanden habe, verteidigt er sich selbst. Als ihn jemand fragte, wie die Sache mit dem irischen Kaffee so läuft, fing er an, davon zu erzählen. Die Zeitung DV hat nämlich auf der ersten Seite eine Meldung über Papas Streit mit dem Hotel Saga gebracht. Das erzählte jedenfalls eine der Frauen. Papa behauptete, wenn man im Hotel Saga einen Irish Coffee bestelle, bekomme man nur irgendeine ungenießbare Plörre, das sei eine Zumutung. Ganz anders in London oder New York. In Reykjavík gehen alle davon aus, dass man als Gast in einem Restaurant für schlechte Ware bezahlen muss, aber er hat sich geweigert, die Rechnung im Hotel Saga zu bezahlen, und wurde daraufhin angezeigt. Die einstmals tragende Säule der sittsamen Zeugen Jehovas ist also vor Gericht gelandet, weil er sich weigerte, in einer Bar einen Cocktail zu bezahlen.

    Unser Leben hat sich grundlegend geändert, seit wir bei den Zeugen Jehovas rausgeflogen sind. Papa wurde wegen Ehebruchs verstoßen, und Mama am Ende auch. Wir gehörten lange zu Gottes auserwähltem Volk und waren auf dem Weg ins Paradies, doch nun hatte der Sündenfall begonnen. Unsere Familie hatte auf das ewige Leben im Garten Eden gehofft, wo wir mit Löwen und Krokodilen Äpfel und Orangen essen wollten, aber im Paradies der Zeugen Jehovas durfte man nicht sündigen, und deshalb erging es uns wie Adam und Eva. Wir sind Geächtete, und die Äpfel und Orangen sind jetzt für andere bestimmt.

    2. KAPITEL

    Veränderte Zeiten

    Im selben Augenblick, als ich im freien Fall über dem zugefrorenen Schwimmbad unserer Nachbarn schwebte, malte Mama sich in einem kleinen Badezimmer in einem Wohnblock im Breiðholt-Viertel einen roten Blitz ins Gesicht. Ich besitze ein Foto von ihr von diesem Abend: Der Blitz zieht sich quer über ihr Gesicht, in ihrem Mundwinkel steckt eine Zigarette, ihre Lippen umspielt ein vielsagendes Lächeln, ihre Haare sind toupiert und stehen hoch. Auf diesem Foto sieht Mama glücklich aus. Zumindest hat sie es anscheinend genau in dem Moment, als das Foto geschossen wurde, geschafft, ihre Sorgen zu vergessen.

    Es war eine tolle Zeit, 1982, in der frisch aus dem Boden gestampften Hochhaussiedlung Breiðholt. Die alleinerziehenden Mütter aus Mamas Treppenhaus versammelten sich in einem winzigen Badezimmer in einer der Wohnungen. Sie hatten schnell vergessen, um wessen Wohnung es sich an dem besagten Abend handelte, zumal alle Wohnungen fast genau gleich aussahen und alle Badezimmer denselben Grundriss hatten. Es waren fensterlose Kämmerlein in einer Reihe identischer Arbeiterwohnungen mit Badewanne, Waschbecken und Toilette und nur einem kleinen Deckenloch als Belüftung. Trotzdem fanden sie alle Platz vor dem Waschbecken und dem Spiegel, die alleinstehenden Mütter aus Breiðholt. Sie schminkten sich gegenseitig, föhnten und toupierten sich die Haare, bis sie hoch standen.

    „Leg mal Bubbi auf!", rief eine der Disco-Queens, und die jungen Männer im Wohnzimmer gehorchten. Bubbi Morthens war damals in der Band Egó, die gerade die Platte ‚Veränderte Zeiten‘ herausgebracht hatte, eine Art New-Wave-Punk. Doch die Disco-Groupies in Breiðholt fuhren auch auf diesen Pseudo-Punk ab. Sie ließen sich nicht in Schubladen stecken, wie es die Zeitungen und Zeitschriften gern gehabt hätten. Die alleinerziehenden Mütter in Breiðholt waren genauso Punk wie Disco. Mama und ihre Freundinnen hatten nämlich bereits bei ihren ersten Scheidungen festgestellt, dass das Leben kompliziert war, und konnten sich deshalb genauso gut mit New-Wave-Punk von Egó wie mit Blondie auf die Bee Gees in der Diskothek ‚Hollywood‘ einstimmen.

    „Mutter, wo ist dein Kind, so spät am Abend?" sang Bubbi, und Mama und die anderen alleinerziehenden Mütter, ihre besten Freundinnen, grölten mit, sodass es durch den ganzen Wohnblock schallte:

    „Mutter, wo ist dein Liebstes? Der Nebel ist so kalt."

    Sie ließen sich von der Musik und dem unheimlichen Text mitreißen. Sie klammerten sich an ihre eigene Angst und identifizierten sich mit Bubbis Songtext über das verlorene Kind, das Mädchen, das in die Fänge eines Mannes gerät, der es verletzen und missbrauchen will. Dieses Mädchen war natürlich Mama selbst und ihre Freundinnen und meine Schwester Lilja und sogar ich, ihr kleiner, empfindlicher Sohn. So hatte sie mich vor Augen, als sie mit Bubbi in dem fensterlosen Badezimmer brüllte:

    „Mutter, wo ist dein Kind, so spät am Abend?"

    „Mann, legt doch mal was anderes auf, sagte eine der Freundinnen zu den Bubbi-Fans im Wohnzimmer. „Wir wollen doch einen draufmachen, oder?

    Vielleicht legten die Jungs dann die Beatles oder die Stones oder irgendeinen Disco-Song auf. Mama kann sich nicht mehr daran erinnern. Sie machte sich weiter zurecht und zog ihr feuerrotes 50er-Jahre-Kleid an, das sie ordentlich gefaltet im Kleiderschrank ihrer Tante entdeckt hatte. Es war tailliert und von den Schultern bis zur Taille hauteng. Einfach sensationell. Wunderschön, und der Stoff seidenweich. Das Rot passte gut zu dem Blitz, der sich quer über ihr Gesicht zog.

    Hulda Fríða Berndsen fühlte sich in dem Kleid wie eine Königin und begutachtete den Tüllrock, der sich um ihre Hüften bauschte. Sie hatte nur ein paar Schlucke Wodka Cola getrunken, es war also nicht der Alkohol, der ihr dieses plötzliche Selbstvertrauen gab. Sie zündete sich eine Winston Lights an und starrte auf ihr Spiegelbild. Auf einmal hatte sie keine Angst mehr. Sie war frei. In diesem Augenblick war ihr Leben perfekt. Sie machten sich auf ins ‚Hollywood‘, die alleinstehenden Mütter aus Breiðholt.

    3. KAPITEL

    Adams Rippe

    Mama beschreibt die Trennung von Papa so, als habe sie ein riesiger Felsblock erschlagen. Torfi Geirmundsson war bei den Zeugen Jehovas ihr Dreh- und Angelpunkt gewesen. Sie war eine gute Hausfrau, eine gehorsame Ehefrau, die darauf achtete, nichts zu tun, was ihren Mann oder die Ältesten in der Gemeinschaft verärgert hätte. Sie traute sich noch nicht einmal, Hosen anzuziehen, geschweige denn einen kurzen Rock, trug lieber lange Kleider, um bloß niemanden zu provozieren. Als sich Hulda Fríða Berndsen kurz nach meiner Geburt als Zeugin Jehovas taufen ließ, wurde sie eine demütige Dienerin Jehovas. Sie nahm sich Eva, die erste Frau, zum Vorbild. Sie wollte wie Eva eine Rippe aus Adams Brust sein und ihrem Mann in allem dienen. Zudem war Mama fest entschlossen, Evas Geschichte als warnendes Beispiel anzusehen. Eva war Adam gegenüber ungehorsam gewesen, hatte sich in Versuchung führen lassen und eine Frucht vom verbotenen Baum gekostet.

    Adam war nicht lange im Paradies geblieben und das war Evas Schuld. Mama hingegen ließ sich nie in Versuchung führen. Es war Papa, der Unzucht trieb. Er schlief sogar mit Mamas Schwester, und bevor sie das richtig begriffen hatte, war Torfi schon bei einer Lehrerkollegin aus der Berufsschule eingezogen und eröffnete der jungen Hulda Fríða, er sei verliebt.

    „Ich liebe diese Frau, und nichts, was du sagst oder tust, wird daran etwas ändern", erklärte er Mama und scherte sich einen Dreck um die Ältesten und das Gesetz Jehovas.

    Mama reagierte panisch, kam fast um vor Angst, während Papa völlig angstfrei zu sein schien. Er machte einfach da weiter, wo er aufgehört hatte, bevor er Zeuge Jehovas geworden war. Damals war er bei der Allianz der Radikalen Sozialisten gewesen, hatte sich für Politik, Kunst und Kultur interessiert. Deshalb wurden wir Brüder jetzt plötzlich sonntags zu Demos gegen die amerikanische Militärbasis in Keflavík mitgeschleppt, anstatt bei einer Zusammenkunft im Königreichssaal Jehova Gott anzubeten.

    „Island aus der NATO! Soldaten weg!", skandierten wir, hingen an Zäunen und verfluchten den Kapitalismus. Wir waren keine Christen mehr, wir waren Kommunisten.

    Das geschah quasi über Nacht. Eine Hundertachtzig-Grad-Wendung. Typisch Torfi Geirmundsson. Fast zehn Jahre vorher war er von einem Moment zum anderen Zeuge Jehovas geworden, und jetzt lasen wir nicht mehr den Wachtturm, sondern hörten Megas. Der linke Liedermacher hatte gerade die Platte ‚Konzept für einen Selbstmord‘ veröffentlicht, als meine Eltern sich trennten. Das Erste, was Papa nach seinem Austritt bei den Zeugen Jehovas machte, war, sich diese Platte zu kaufen.

    „Wenn du der Welt ins Gesicht smilst, dann smilt die Welt dir ins Gesicht" singt Megas, und ich erinnere mich daran, dass Papa immer breit grinste, wenn er diese Zeile hörte. Er war so froh und glücklich in jenen Jahren.

    Ich weiß nicht mehr, wie oft ich diese Platte gehört habe, als ich fünf Jahre alt war. Megas hatte jedenfalls so großen Einfluss auf mich, dass ich einmal zu meiner Stiefmutter ins Badezimmer stürmte und sie mit tränenerstickter Stimme fragte:

    „Liebt Papa Megas mehr als uns?"

    Noch ein Jahr zuvor hätte ich gefragt, ob Papa Jehova mehr lieben würde als uns. Was meine echte Mutter bejaht hätte. Doch nun stand ich vor einer neuen Mutter, die in der Badewanne lag, mich sanft anschaute und sagte:

    „Nein, mein Schatz." Dann bat sie mich, ihr doch noch ein bisschen Ruhe zu lassen.

    Ich habe diese Frau in der Badewanne, meine Stiefmutter, immer Mama genannt. Manchmal aber auch Mama Dóróthea oder Mama Dóra, zur Unterscheidung von Mama Hulda, meiner echten Mutter.

    Meine Stiefmutter heißt Dóróthea Magnúsdóttir, und meine Eltern haben sich immer dafür geschämt, dass sie Dóróthea und ihren Sohn in ihre Probleme hineingezogen haben. Sie meinen, sie hätten die Sünden der Vergangenheit selbst auf sich nehmen müssen. Das mag an und für sich bewundernswert sein, aber sie sehen Dóróthea in einem ganz anderen Licht als ich. Als ich gerade mal fünf Jahre alt war, übernahm sie für mich die Mutterrolle. Und drei Jahre später, als Mama und die alleinerziehenden Frauen aus Breiðholt ins ‚Hollywood‘ gingen und zu dröhnenden Discoklängen an einer Modenschau auf der Tanzfläche teilnahmen, stürzte ich nass und frierend in unser Badezimmer, das Mama Dóróthea eingerichtet hatte. Ich öffnete einen Schrank und riss ein Handtuch heraus, das meine neue Mutter gewaschen und getrocknet und gefaltet und ins Regal gelegt hatte. Sie hatte uns ein schönes und gutes Zuhause eingerichtet. Noch heute nenne ich sie Mama, und im Frühjahr habe ich sie regelmäßig in der Reha besucht, nachdem man ihr einen zitronengroßen Tumor aus dem Gehirn operiert hatte.

    4. KAPITEL

    Leberversagen

    Eine Woche bevor Papa mit Leberversagen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, war ein Spezialist aus Schweden nach Island geflogen, um einen Tumor aus dem Kopf meiner Stiefmutter zu entfernen. Die Operation dauerte zwölf Stunden und verlief besser als erhofft, aber Mama Dóróthea war danach linkseitig gelähmt.

    Papa wurde am Karfreitag auf eigenen Wunsch ins Landeskrankenhaus eingewiesen. Am Ostersonntag passte mich eine Ärztin ab, bevor ich zu ihm ins Zimmer ging. An den ersten Tagen lag Papa in einem Isolationszimmer, weil er gerade erst mit gelb verfärbter Haut aus Thailand zurückgekommen war. Ich kämpfte noch mit der Schutzkleidung, als die Ärztin neben mir auftauchte und sich vorstellte. Ich war so überrumpelt, dass ich mir ihren Namen nicht merkte. Lóa vielleicht.

    „Könnten Sie mal kurz mit in die Teeküche kommen?"

    Ich bejahte und folgte ihr in die Teeküche für die Mitarbeiter, wo Lóa eine Krankenschwester freundlich bat, in den Flur zu gehen und ihr Gebäck dort zu essen. Da im Aufenthaltsraum ein Krankenbett stand, war die Teeküche der einzige Ort für solche Gespräche.

    „Wissen Sie, ob Ihr Vater trinkt?", fragte mich Lóa, nachdem sie die Tür hinter uns zugezogen hatte.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1