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Brief an Mama
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eBook170 Seiten2 Stunden

Brief an Mama

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Über dieses E-Book

Nach den autobiographischen Romanen "Lost in Paradise" und "Die Fallenden" schließt Mikael Torfason seine Isländische Familien-Trilogie mit dem Band "Brief an Mama" ab. In einem intimen Zwiegespräch mit der Mutter rekapituliert Torfason sein Leben – die Abwesenheit der oft depressiven Mutter, die Nähe zum glamourösen, sexbesessenen und alkoholfreudigen Vater – und die eigene Rolle als Sohn, Schriftsteller und Familienvater. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen in Island von den 80er Jahren bis in die Gegenwart berichtet Torfason ungeschönt über die Höhen und Tiefen der Reykjavíker Familie und findet schließlich zurück zu der Frau, die ihm das Leben schenkte, die er aber noch einmal ganz neu kennenlernen musste. Eine schonungslose und zugleich liebevolle Erzählung, die nie den Humor verliert.
SpracheDeutsch
HerausgeberSTROUX edition
Erscheinungsdatum9. Feb. 2021
ISBN9783948065195
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    Buchvorschau

    Brief an Mama - Mikael Torfason

    Mikael

    I

    Ich rannte so schnell ich konnte aus der Bücherei, die sich im ersten Stock des Schulgebäudes befand. Ich hatte am Fenster gesessen und darauf gewartet, deinen hellen Lada zu sehen, der immer genauso plötzlich auf dem Parkplatz der Vogaskóla auftauchte, wie er wieder verschwand.

    Du kamst aus dem Breiðholt-Viertel, um mich für ein lang ersehntes gemeinsames Mama-Wochenende abzuholen. Diese Wochenenden fanden damals nur unregelmäßig statt und waren kurz, von freitagmittags bis sonntagabends, bestenfalls jede zweite Woche.

    Sobald ich dein Auto erspähte, flitzte ich die Treppe hinunter, flog durchs Hauptportal und preschte über den Schulhof, ohne die spielenden Kinder um mich herum wahrzunehmen. In Gedanken war ich nur bei dir, wollte dich auf keinen Fall verpassen. Doch als ich endlich auf dem Parkplatz ankam, hattest du den Lada bereits gewendet und sahst nicht, wie ich auf dich zurannte. Ruckartig legtest du mit dem dazugehörigen knarzenden Geräusch den Gang ein, gabst Gas und braustest davon, fort von mir. Ich winkte und rief dir hinterher, aber du sahst mich nicht im Rückspiegel.

    Mama fährt bestimmt zu den Parkplätzen auf der anderen Schulseite, dachte ich und spurtete wieder los. Sie hat irgendwas durcheinandergebracht, hämmerte ich mir ein und rannte um mein Leben, doch als ich schweißgebadet den hinteren Schulhof erreichte, sah ich den Lada am Ende der Straße verschwinden.

    Vielleicht will sie zu uns nach Hause, weil sie dachte, ich hätte früher freigehabt, überlegte ich, nahm die Beine in die Hand und raste nach Hause.

    Eigentlich wusste ich, dass ich dich niemals einholen würde, und bekam Panik. So war unser damaliges Verhältnis – und so ist es vielleicht noch heute. Nie durfte etwas schiefgehen, denn dann war Ärger vorprogrammiert. Papa würde ausrasten, wenn er erfuhr, dass du mich nicht wie vereinbart von der Schule abgeholt hattest, dass du zwar gekommen, aber dann einfach wieder weggefahren warst. Er hatte das Sorgerecht für mich, und das ließ er dich spüren.

    „Was sind das für Spielchen?, würde Papa dich am Telefon anherrschen. „Du hast versprochen, ihn abzuholen, und dann lässt du ihn einfach warten und fährst wieder weg, wenn er gerade rauskommt? Was denkst du dir eigentlich, Frau?

    Wir haben uns wirklich gegenseitig das Leben schwer gemacht, Mama. Wir alle, ich, du und Papa. Natürlich war ich am allerwenigsten dafür verantwortlich, aber ich hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen, nicht nur bei dieser Sache. Als Kind fühlte ich mich immer mitverantwortlich für eure stürmische Ehe.

    Jahrelang träumte ich von dieser Rennerei über das Schulgelände und wachte oft mit einem unguten Gefühl auf, einer Mischung aus Verzweiflung und innerer Leere. Eine Zeitlang glaubte ich, ich hätte das alles nur geträumt, oder hoffte es zumindest. Dass dieses Gerenne nur eine Erinnerung an einen Albtraum wäre, der in meinem Kopf real geworden war.

    Im Traum renne und renne ich, ohne dich jemals einzuholen. Ich hatte viele ähnliche Träume und erinnere mich gut an sie, auch wenn ich sie schon länger nicht mehr geträumt habe. Ich renne über den Schulhof, und der alte Lada verschwindet aus meinem Blickfeld. In einem anderen Traum haste ich die Treppe in einem Mehrfamilienhaus hinauf – manchmal auch durch einen Hotelflur – und klopfe an alle Türen, weil ich dich suche, Mama, aber ich finde dich nirgendwo.

    Ich war jedes Mal furchtbar enttäuscht. Im Traum genauso wie nach dem Aufwachen, und auch als ich, nachdem ich dich verpasst hatte, vor unserem Haus im Langholtsvegur stand, wo ich mit Papa und meiner Stiefmutter wohnte. Vor Angst und Traurigkeit fühlte ich mich wie gelähmt. Als ginge die Welt unter.

    Die Welt war so zerbrechlich in jenen Jahren. Für mich war es wie ein Weltuntergang, als wir bei den Zeugen Jehovas austraten, denen wir alle, Papa, du und ich, eine Zeitlang angehört hatten. Und es war auch ein Weltuntergang, als ich im Krankenhaus eingesperrt war und um mein Leben kämpfte. Wie man sieht, habe ich diesen Kampf gewonnen, aber zeitweise stand es auf der Kippe. Auch nur ein einziges Mama-Wochenende zu verpassen, war für mich dasselbe, wie die Hoffnung auf das Paradies aufzugeben. Unsere gemeinsamen Stunden waren verloren, sie würden nie wiederkommen, und es war unmöglich, ein solches Missverständnis wie das, als du im Lada davonbraustest, wiedergutzumachen. Das wusste ich. Das Verhältnis zwischen Papa und dir war so, dass ein solches Versehen – oder wie auch immer man es nennen möchte – niemals wie bei normalen Leuten als dummes Missverständnis angesehen würde.

    Nein, ich ging rein, rief Papa auf der Arbeit an und fing natürlich an zu heulen, weil ich kein Mama-Wochenende verpassen wollte. Papa wischte meine Tränen mit der Bemerkung weg, ich solle mich nicht so anstellen, Mamasöhnchen seien doch Schwächlinge.

    „Besonders wenn die Mutter Hulda Fríða Berndsen heißt", sagte er in jenen Jahren oft, womit er mich daran erinnerte, dass du mich nicht bei dir haben wolltest, obwohl er dir die Wohnung, das Auto und den vollen Unterhalt für mich angeboten hatte.

    Papa konnte nie richtig verstehen, warum mein Bruder Ingvi und ich dich gernhatten und uns bei dir in Breiðholt wohlfühlten. Außerdem fand er es immer albern und unverständlich, dass der Arbeitervorort Breiðholt in viele meiner Bücher Eingang gefunden hat – als wäre er das gelobte Land. In Gedanken war ich immer bei dir in Breiðholt. In deinen Armen fühlte ich mich am wohlsten. Papa und meine Stiefmutter Dóróthea bereiteten uns ein schönes Zuhause und kauften jedes Jahr ein größeres Haus. Sie schwammen damals in Geld, betrieben gut besuchte Friseursalons und reisten jeden Monat ins Ausland. Aber ich wollte immer nur bei meiner Mama in Breiðholt sein und liebte es, dich zu einem deiner Putzjobs zu begleiten, wo du den Boden schrubbtest, oder dir in der Kantine irgendeiner Firma beim Kochen zuzusehen.

    Du hast mich an den Mama-Wochenenden immer verwöhnt. Damit konnte ich gar nicht umgehen, und es fällt mir heute noch schwer, mich verwöhnen zu lassen. Du hast mir Brote geschmiert und meinen Kakao umgerührt. Ich muss fast heulen, wenn ich an deine bedingungslose Liebe an diesen Wochenenden vor dreißig, vierzig Jahren zurückdenke. Als Kind hat mir sonst nie jemand den Kakao umgerührt, außer vielleicht im Krankenhaus.

    Ich fühlte mich wie im siebten Himmel, wenn du mir auf dem kleinen Sofa im Wohnzimmer das Bett machtest und mich zudecktest. Oft saßest du bei mir und strichst mir über die Stirn, bis ich eingeschlafen war. Als Ingvi ins Teenageralter kam und Mama-Wochenenden doof fand, durfte ich auf dem großen Sofa schlafen und träumte davon, immer bei dir wohnen zu dürfen. Ich wäre sofort bereit gewesen, mein eigenes Zimmer bei Papa für ein Sofa in deinem Wohnblock aufzugeben. Zudem war ich fest entschlossen, niemals ein Neureicher zu werden wie Papa, sondern ein Arbeiter wie du und in einer Arbeiterwohnung in Breiðholt zu wohnen. Wahrscheinlich kann ich froh sein, dass dieser Traum nicht Wirklichkeit wurde. Heutzutage gibt es in Reykjavík keine Arbeiterwohnungen mehr, und arme Leute wohnen bei großen Immobilienfirmen zur Miete und werden bis auf die letzte Krone ausgequetscht.

    Doch an jenem Freitag, genau an jenem Freitag dachte ich, ich würde alles verlieren, weil ich deinen Lada nicht einholen konnte. Papa rief bei dir an, wie ich vorhergesehen hatte, und beschimpfte dich, weil du mich enttäuscht hattest: „Warum bist du nicht in die Schule reingegangen, verdammt noch mal?", fauchte er, und ich konnte hören, dass du sofort in Tränen ausbrachst. Genau wie ich. Du wolltest bestimmt eine Erklärung vorbringen, aber Papa hörte dir gar nicht zu, sondern brüllte, du seist eine total unfähige Mutter und er müsse eure Abmachung überdenken, wenn du noch nicht einmal in der Lage seist, den Jungen zur verabredeten Zeit abzuholen.

    Anschließend schickte er mich zu Oma und Opa, damit ich an dem Wochenende wenigstens eine kleine Abwechslung hätte.

    „Das ist auch so eine Art Mama-Wochenende", erklärte er mir und krönte seine Schimpftirade mit den Worten, du seist ein hoffnungsloser Fall, eine dieser Frauen, die niemals Kinder hätten bekommen sollen.

    II

    Du hast dich immer noch nicht davon erholt, sagst du mir beim Videoanruf, und meinst meine Geburt vor fünfundvierzig Jahren. Wir telefonieren oft über eines dieser Tools, die das Leben im Ausland inzwischen völlig verändert haben.

    „Du hast dich immer noch nicht davon erholt?", frage ich und berühre den Bildschirm.

    Du siehst mich an und kommst mir dabei unangenehm nah. Dein Gesicht füllt mein gesamtes Handy-Display aus.

    „Nein", bestätigst du und fragst mich, wie es mit dem Kistenpacken in unserer Berliner Wohnung vorangehe.

    „Ganz gut", antworte ich, und jetzt hältst du das Handy auf einmal so nah an dein Gesicht, dass ich nur noch deine Augen sehe.

    „Ich spüre dich hier in mir", sagst du und hältst das Handy so, dass ich sehen kann, wie du zu Hause auf dem Boden sitzt und dir über den Bauch streichst. Dann erzählst du mir, du würdest in letzter Zeit fast den ganzen Tag in Embryostellung daliegen.

    „Wenn’s mir schlecht geht, rolle ich mich zusammen, guck mal, so", fährst du fort und legst dich auf den Boden, damit ich sehen kann, was du meinst.

    „Ich hab das auch meinem Psychologen erklärt. Ich schlafe dabei nicht unbedingt ein, ich liege nur da, so – siehst du? –, und versuche, mit dem ganzen Schmerz zu leben. Ich kann nicht denken, ich kann nicht sprechen. Das Einzige, was ich tue, ist überleben."

    Du machst das schon seit Jahren, erzählst du mir. Liegst stundenlang in Embryostellung. Dein Psychologe meint, du sollst dir das abgewöhnen, und rät dir, dich tagsüber nicht mehr hinzulegen.

    „Aber weißt du, Míkael, das ist so kräftezehrend, als wäre ich ein Baby, das abgestillt wird", sagst du, denn du kannst dir ein Leben, ohne dich tagsüber hinzulegen, nicht vorstellen.

    Ich verstehe dich gut, Mama.

    Ich befand mich selbst schon in der Situation, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie ich weiterleben sollte, ohne mich in Embryostellung zusammenkauern zu dürfen. Bei mir lag das an den heftigen Bauchkrämpfen, die ich manchmal als Folgeerscheinung meiner Krankheit in der Kindheit bekam. Ich darf mich nicht überanstrengen und muss ein geregeltes Leben führen, sonst ende ich in Embryostellung auf dem Fußboden im Wohnzimmer.

    „Ich spüre dich, Míkael", sagst du mir am Telefon. Du nennst mich immer Míkael mit langem í, nie mit kurzem i oder einfach nur Mikki. Für dich bin ich Míkael, mit Betonung auf dem i. Der kleine Junge, den du nach dem Erzengel Jehovas taufen ließest, denn damals wollten wir bis in alle Ewigkeit miteinander im Paradies leben.

    Es ist so lange her, seit wir dachten, wir kämen gemeinsam mit den anderen Zeugen Jehovas ins Paradies, dass es mir manchmal so scheint, als hätten wir beide den allmächtigen Gott vergessen, nach dem wir früher jeden Atemzug ausrichteten.

    „Ich spüre dich hier drin", sagst du und fasst dir an den Bauch.

    Morgen schreibst du auf meine Facebook-Seite, dass du mich liebst, und ich kommentiere es mit einem Herzchen, weil ich mich nicht mehr für dich schäme. Früher schämte ich mich und meldete mich von Facebook ab, weil ich dieses übergriffige Verhalten, dazu noch in aller Öffentlichkeit, nicht ausstehen konnte. Schon peinlich, sich einzugestehen, dass man sich als erwachsener Mann für seine eigene Mutter geschämt hat. Warum verhält man sich manchmal wie ein Kind? Welcher Mann über vierzig fürchtet sich vor seiner eigenen Mutter auf Facebook?

    Kann es sein, dass man gegenüber der eigenen Mutter nie erwachsen wird? Besonders wenn man ein so kompliziertes Verhältnis hat wie wir. Es ist mir immer sehr schwergefallen, in deiner Gegenwart erwachsen zu sein, weil unsere Beziehung zum Stillstand kam und sich nicht mehr weiterentwickelte, seit ich mit knapp fünf Jahren von dir getrennt wurde. Und bevor ich mich versehe, fühle ich mich in deiner Gegenwart wieder wie ein Fünfjähriger. Ich werde immer dein kleiner Junge sein, und du wirst nie müde, mir das zu sagen.

    „Mein kleiner Junge", sagst du, und ich lächle dich an.

    Wenn ich zurückblicke, erkenne ich, wie viel Einfluss du auf mein Schreiben hattest, wobei mir das erst bewusst wurde, als ich begann, über meine Kindheit und über Papa und dich zu schreiben.

    Unser Verhältnis, Mama, war schon von meiner Geburt an kompliziert, als ich mit dem Ellbogen voraus und mit geballten Fäusten zur Welt kam, bereit, mich mit meiner Krankheit und den

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