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Feuer in den Dünen: Ein Küsten-Krimi
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Feuer in den Dünen: Ein Küsten-Krimi
eBook349 Seiten4 Stunden

Feuer in den Dünen: Ein Küsten-Krimi

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Über dieses E-Book

Helene Christ ermittelt in Dänemark.

Mitten im nordfriesischen Wattenmeer auf der Fähre von Amrum zum Festland wird ein Passagier ermordet - vegiftet.
Da der Deutsche jenseits der Grenze lebte, wird eine deutsch-dänische Sonderkommission gebildet - Oberkommissarin Helene Christ arbeitet mit den Kollegen um Sten Larsen zusammen. Das sorgt in ihrem Privatleben für jede Menge Ärger, denn ihr Freund Simon unterstellt dem gut aussehenden Kommissar mehr als nur berufliches Interesse.
Gleichzeitig treibt an der Küste ein Brandstifter sein Unwesen, eine Urlauberfamlie starb. Und zwischen den beiden Fällen gibt es merkwürdige Verbindungen ...
SpracheDeutsch
HerausgeberGrafit Verlag
Erscheinungsdatum22. Aug. 2019
ISBN9783894256319
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    Buchvorschau

    Feuer in den Dünen - H. Dieter Neumann

    H. Dieter Neumann

    FEUER IN DEN DÜNEN

    Kriminalroman

    Bisher in dieser Reihe erschienen:

    Die Tote von Kalkgrund. ISBN 978-3-89425-454-4

    Mord an der Förde. ISBN 978-3-89425-462-9

    Tod auf der Rumregatta. ISBN 978-3-89425-471-1

    Nebel über der Küste. ISBN 978-3-89425-484-1

    Blutmöwen. ISBN 978-3-89425-577-0

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © 2019 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

    Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

    Internet: http://www.grafit.de

    E-Mail: info@grafit.de

    Alle Rechte vorbehalten.

    Dieses Werk wurde vermittelt durch

    die Medien- und Literaturagentur Drews, Augsburg

    Umschlaggestaltung: Franziska Emons-Hausen unter Verwendung von photocase.de/Vividrange

    Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln

    Lektorat: Christiane Geldmacher

    E-Book-Produktion: CPI – Clausen & Bosse, Leck

    eISBN 978-3-89425-631-9

    1. Auflage 2019

    Der Autor

    H. Dieter Neumann, Jahrgang 1949, war Offizier in der Luftwaffe der Bundeswehr und in verschiedenen internationalen Dienststellen der NATO. Anschließend arbeitete der diplomierte Finanzökonom als Vertriebsleiter und Geschäftsführer in der Versicherungswirtschaft, bevor er sich ganz aufs Schreiben verlegte. Der passionierte Segler ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und lebt vor den Toren Flensburgs auf dem Land.

    www.hdieterneumann.de

    Für Pia und Max

    Prolog

    Es fühlt sich an, als wäre die Matratze mit Schleifpapier bezogen. Die blöden Körner kratzen an ihren Beinen. Beim Zubettgehen hat sie sich nicht um den Sand zwischen ihren Zehen geschert, aber mittlerweile ist er getrocknet und auf das Laken herabgerieselt.

    Ist sie davon aufgewacht? Oder war da nicht gerade ein Geräusch draußen gewesen, ein kurzes, helles Klirren?

    Ganz ruhig liegt Celina, starrt durch die Dunkelheit dorthin, wo sich das Fenster schwach als Quadrat hinter den Vorhängen abzeichnet, lauscht minutenlang, bis es in ihren Ohren rauscht.

    Nichts. Nur die regelmäßigen Atemzüge ihres Bruders, der unter ihr in dem Doppelstockbett schläft. Sonst absolute Stille.

    Also doch nur der dumme Sand im Bett. Das Piken der winzigen Steinchen hat sie wohl aus dem Schlaf geholt. Bestimmt nur Einbildung, dieses Klirren vor dem Haus. Hat sie das vielleicht sogar nur geträumt?

    Langsam atmet Celina aus, ihr Herzschlag beruhigt sich. Trotzdem: Lust, jetzt das warme Bett zu verlassen, um den Sand loszuwerden, verspürt sie überhaupt nicht. Natürlich sollen sie sich immer die Füße waschen, bevor sie ins Bett gehen, klar. In den Ferien sind Mama und Papa aber nicht so pingelig. Katzenwäsche darf auch mal sein.

    Mist, das Zeug schabt wirklich aufdringlich auf der Haut. So wird sie bestimmt keinen Schlaf mehr finden. Noch aber kann sie sich nicht überwinden, die warme Decke zurückzuschlagen, aus dem gemütlichen Bett zu steigen, die Holzleiter hinabzuklettern und dann auch noch mühsam das Laken abzuziehen und auszuschütteln.

    Einfach die Beine nicht bewegen, Augen wieder zu und weiterschlafen. Doch selbst wenn sie sich überhaupt nicht rührt, spürt sie die spitzen Körnchen wie Stiche an ihren Waden. Verdammt, es muss wohl sein. Von allein wird der Sand nicht verschwinden.

    Ein tiefer Seufzer, dann setzt sie sich auf und greift entschlossen nach dem Kabel an der Wand über ihrem Kopfkissen, um die Lampe anzuknipsen. Doch bevor sie den Schalter ertasten kann, klirrt es draußen erneut, viel lauter diesmal. Als würde eine Flasche gegen die Wand geworfen und in tausend Splitter zerbersten. Plötzlich ist da auch Lärm vor dem Fenster, gepresste, dunkle Stimmen, kurze, scharfe Rufe. Jäh fährt Celina eiskalte Furcht in die Brust.

    Unter ihr meldet sich Svens quengelige Stimme, verschlafen, desorientiert: »Was war das? Da ist doch was … Celina, bist du wach?«

    Doch die ältere Schwester gibt keine Antwort, auch nicht, als er angstvoll aufschreit. Wie gelähmt sitzt sie in ihrem Bett und starrt mit weit aufgerissenen Augen auf den flackernden Feuerschein hinter den Vorhängen, der sich von außen dem Fenster nähert.

    Ein dumpfer Schlag, berstendes Glas, eine flammende Fackel fliegt in den Raum, taucht ihn in gelbrotes Licht. Qualm, der nach Benzin stinkt, füllt augenblicklich die Luft.

    »Mama!« Der Schrei des kleinen Jungen ist lang gezogen, markerschütternd.

    Da erwacht das Mädchen aus seiner Starre, springt mit einem Satz von ihrem Bett auf den Boden. Sie achtet nicht auf den stechenden Schmerz, der ihr durch den linken Knöchel fährt, als sie vor ihrem Bruder landet. Durch die Rauchschwaden erkennt sie sein bleiches, entsetztes Gesicht, vom Feuerschein beleuchtet, packt seinen Arm, reißt ihn hoch. »Sven, wir müssen hier raus, los, komm! Schnell, schnell!«

    »Es brennt, Jürgen, das Haus brennt!« Die schrille Stimme der Mutter aus dem Schlafzimmer nebenan. Dann ein wilder Schrei, angstvoll: »Die Kinder!«

    Schon ist Celina an der Zimmertür, ihr weinender Bruder klammert sich an ihr fest. Als sie an die Klinke fassen will, fliegt die Tür auf und heißer Brandgestank quillt ins Zimmer, einer Walze gleich, die den Kindern den Atem raubt. Aus dem Qualm heraus schreit ihr Vater: »Gott sei Dank, dass ihr …«

    Die Mutter stürzt herbei, beugt sich über sie, zieht sie an sich, schluchzt: »Gott sei Dank, ihr lebt. Seid ihr verletzt? Geht es euch …«

    Keuchend bricht sie ab, als im Flur knallend eine Tür auffliegt und plötzlich noch mehr Rauch die kleine Gruppe einhüllt.

    »Los, schnell, wir müssen hier raus!«, schreit der Vater. »Ins Wohnzimmer – und dann auf die Terrasse!«

    Sie rennen los. Der Vater stößt die Wohnzimmertür auf, springt mit einem Schrei zurück, stürzt zu Boden. Beißender Rauch, prasselndes Feuer. Erbarmungslose Hitze plötzlich. Schmerzhaft legt sie sich auf die Haut, versengt die Nasenschleimhäute. In Todesangst reißen die Kinder ihre Münder auf, wollen schreien, doch ihr schwaches Krächzen wird von dem prasselnden Inferno um sie herum verschluckt. Immer heller wird es, gelb und rot flackerndes Feuer überall.

    »Nach vorn«, keucht die Mutter, »zur Haustür!« Sie reißt ihre wimmernden Kinder an sich und rennt den schmalen Flur hinunter.

    Der Vater steht schwankend auf, benommen vom giftigen Qualm, der ihm die Lunge verätzt und die Sinne vernebelt. Er will hinter seiner Familie herrennen, wirft einen Blick zum Ende des Flurs: Die Holzbohlen der massiven Haustür brennen lichterloh, die Wände des engen Ganges stehen in Flammen, die Decke aus Kiefernholz hat ebenfalls Feuer gefangen. Knisternd springen kleine bläuliche Flammen von Brett zu Brett. Krachend und in einen Funkenregen gehüllt, stürzt eine Platte von der Decke und fällt auf die Kinder und ihre Mutter.

    Kurz sieht der Mann ein Bild: heute Nachmittag. Seine Frau steigt aus dem Meer, ihre Haare flattern im warmen Sommerwind. Ausgelassen springt sie durch die Wellen, die sich am weißen Strand brechen, lachend, die Haut voller glitzernder Wassertropfen. Die Kinder laufen ihr entgegen, kleine bunte Sonnenhüte auf den Köpfen, kreischend vor Vergnügen. Ihre nackten Füße lassen das Wasser hochspritzen, dass es in der Sonne funkelt wie flüssiges Kristall.

    Das Bild verschwindet. Seine Knie knicken ein und er fällt zu Boden. Mit schwindender Kraft versucht er, Luft zu bekommen, spürt, wie sich seine Kehle zusammenzieht, blickt starr vor Entsetzen auf seine Familie, hört ihre Schmerzensschreie, weiß, dass sie es nicht mehr schaffen werden. Sein Gesichtsfeld verengt sich immer weiter, die Augen schwimmen in Tränen, kaum noch kann er die Menschen da vorn erkennen. Mit letzter Kraft bäumt er sich noch einmal auf, versucht, seinen Körper ein Stück vorwärtszuschieben, doch seine Arme wollen ihn nicht mehr tragen. Ein glühender Schwall fährt in seine Lunge, ihm wird schwarz vor Augen, sein Kopf schlägt mit dem Gesicht auf die Dielen. Wie blind hört er Wände und Decke bersten. Ein brennendes Holzpaneel löst sich mit lautem Knall von der Wand, stürzt sich wie ein flammenumkränzter Todesengel auf ihn und versengt ihm den Rücken mit höllischer Hitze. Der Schmerz ist unerträglich.

    Kein Schrei kommt mehr aus seinem Mund.

    Das Bild huscht noch einmal vorbei, ganz kurz nur, ein Blitz, strahlend klar.

    Wunderschön.

    1

    Schon seit dem frühen Morgen lag klebrig warmer Dunst über dem Wasser wie ein feuchter Schleier. Kaum schaffte es die Spätsommersonne, die zähe Nässe zu durchdringen. Schwefliges Licht nur, ein fahlgelber Schimmer, verborgen hinter einem dichten Seidenvorhang.

    Kein Wind. Nicht einmal ein laues Lüftchen über dem nordfriesischen Wattenmeer. Wie erstickt die Geräusche an Bord der kleinen Fähre Hilligenlei, das Brummen der beiden Diesel, das Rauschen des Wassers an der Bordwand, die Gespräche der Passagiere. Als hinge eine gigantische Käseglocke über dem Schiff.

    Eben hatte es von der Hallig Hooge abgelegt, dem letzten Zwischenstopp auf der Fahrt von der Insel Amrum nach Schlüttsiel auf dem Festland. Am Anleger auf Hooge waren nur ein paar Tagesurlauber an Bord gekommen, die meisten zu Fuß, denn auf der Hallig gab es kaum Autoverkehr. Die Insassen der Kraftfahrzeuge, die an der Rampe von Wittdün auf Amrum auf die Fähre gerollt waren, hatten ihr Auto längst verlassen, um frische Luft zu schnappen. Wer nicht unten im Bordrestaurant bei Kaffee und Kuchen saß, hielt sich an Deck auf und genoss den leichten Fahrtwind auf der Haut, der die drückende Schwüle etwas linderte.

    »Hab ich noch nie erlebt, dass hier auf der Nordsee überhaupt kein Wind weht.« Unwirsch wischte sich ein wohlgenährter Passagier mit dem Taschentuch die Stirn und lehnte sich noch ein Stück weiter über die Reling auf dem Oberdeck, um mehr vom kühlenden Fahrtwind einzufangen.

    »Pass bloß auf, dass du nicht ins Wasser fällst«, warnte ihn seine Frau und fächerte sich hektisch mit einem bunten Prospekt der Wyker Dampfschiffs-Reederei Luft ins Gesicht, auf dem der Schweiß Furchen in die Schminke gezogen hatte. »Widerliches Wetter. Mannomann, wenn ich da an den Sturm denke, den wir schon hier erlebt haben … Diese Schwüle ist ja nicht auszuhalten!«

    »Genau wie im Sommer bei uns in Stuttgart«, sagte der Mann vorwurfsvoll. »Ekelhaft drückend. Dafür fährt man ja nun wirklich nicht an die Nordsee.«

    »Nun schimpf mal nicht, Hasi. Bisher hatten wir auf Amrum fast immer schönes Wetter.«

    »Ha! Zum Beispiel vorletztes Jahr, als der Sturm unseren Strandkorb ins Meer geblasen hat«, knurrte der Mann und klatschte mit der flachen Hand eine Mücke tot, die sich auf seinem fleischigen Hals niedergelassen hatte. »Scheißviecher! Werden immer mehr, je näher wir der Küste kommen.«

    »Aber die vierzehn Tage auf Amrum waren doch herrlich«, gab die Frau zurück. »Schön warm und immer ein frischer Seewind, das musst du zugeben.«

    Doch Hasi gab nichts zu. Damit hatte er es eh nicht so.

    Stattdessen musterte er noch einmal den sonderbaren Typen, den er seit einigen Minuten verstohlen beobachtete. Schon am Anleger in Wittdün war ihm der rothaarige Mann unangenehm aufgefallen. Plötzlich war der Kerl nämlich, eine große Tasche in der Hand, direkt vor dem Kühler seines Mercedes aufgetaucht – und das gerade in dem Moment, als er den Wagen, kühn Gas gebend, die Rampe hoch aufs Autodeck lenkte. Nur mit einer Vollbremsung hatte er verhindern können, dass der blasse Mann unter die Räder geriet. Doch als er die Scheibe heruntergelassen und den Rothaarigen mit wilden Flüchen überschüttet hatte, war dieser nur achselzuckend zum Niedergang geschlendert und unter Deck verschwunden.

    Nun saß der Typ seit geraumer Zeit auf einer Bank vor dem Backbordschornstein der Fähre, seine prall gefüllte Reisetasche mit lauter albernen bunten Aufnähern neben sich, und starrte gedankenverloren auf seine Schuhe, völlig bewegungslos.

    »Schau mal, da ist der komische Kerl, der mir vorhin vors Auto gehüpft ist«, sagte Hasi und straffte sich.

    »Lass ihn doch. Das ist doch jetzt schon über zwei Stunden her. Mach bitte keinen Stress.« Die Stuttgarterin kniff die Augen zusammen und musterte den mittelgroßen Mann mit der auffälligen Haarfarbe genauer. »Was ist denn mit dem?«, flüsterte sie. »Sieh mal genau hin. Schläft der?«

    »Mir doch wurscht. Dann werde ich ihn eben wecken und ihm klarmachen, wie man sich auf einem Fahrzeugdeck zu verhalten hat«, gab Hasi heftig zurück. »Da hätte schließlich weiß Gott was passieren können!« Als Leitender Beamter des städtischen Ordnungsamtes hatte er klare Vorstellungen davon, wie das menschliche Zusammenleben gesittet abzulaufen hatte. Und selbst nach über dreißig Dienstjahren war sein missionarischer Eifer nicht erloschen. Wo immer sich die Gelegenheit bot, führte er seinen allzu unbekümmerten Mitbürgern die fatalen Folgen ihres Fehlverhaltens vor Augen.

    Gerade wollte er sich also in Bewegung setzen, da sah er, dass sich der Oberkörper des Rothaarigen wie in Zeitlupe zur Seite neigte. Kurz darauf fiel der Mann ohne jeden Versuch, seinen Sturz abzufangen, von der Bank und blieb regungslos auf dem Deck liegen.

    »Der ist ja besoffen«, entrüstete sich Hasi. »Das war er bestimmt schon, als er mir vors Auto gelaufen ist.«

    »Kann sein, aber nun lass doch. Das geht uns nichts an. Außerdem können wir schon mal zum Wagen gehen.« Die Frau blickte auf ihre Armbanduhr. »In fünfzehn Minuten legen wir in Schlüttsiel an.«

    Doch Hasi starrte fasziniert auf den Rothaarigen, der da zehn Meter entfernt auf dem Boden lag. Ein krampfartiges Zucken hatte nämlich auf einmal den schmächtigen Körper ergriffen. Füße und Hände des Mannes waren in ständiger Bewegung, der ganze Kerl wand sich lautlos auf dem Boden, schüttelte wild mit dem Kopf, das Gesicht zu einer grässlichen Grimasse verzerrt, die Zähne gebleckt. Speichel floss aus seinem Mund auf die grün bemalten Decksplatten.

    »Sieh dir das an!«, rief der Stuttgarter. »Der hat doch was!«

    »Ein Anfall! Ganz klar, der hat einen Anfall, Epilepsie oder so was«, rief seine Frau erschrocken. »Der ist nicht betrunken, das ist was Schlimmeres!«

    Inzwischen war der Vorfall auch von anderen Passagieren auf dem Oberdeck bemerkt worden. Einige hatten sich dem am Boden Liegenden genähert, dessen Bewegungen zusehends schwächer wurden, und redeten aufgeregt auf ihn ein. Eine Frau und zwei Männer knieten neben ihm, wagten aber offenbar nicht, ihn zu berühren.

    »Ist ein Arzt an Bord?«, rief jemand laut, und Hasi fuhr zusammen, als seine Ehefrau neben ihm theatralisch die Hände in die Höhe riss und den Ruf laut kreischend wiederholte: »O mein Gott! Ein Arzt, schnell, wir brauchen einen Arzt!«

    Hasi knurrte unwillig. Hysterie verachtete er zutiefst. Weibliche zumal.

    Einer der Passagiere, die neben dem mittlerweile kaum noch zuckenden Rothaarigen knieten, schrie: »Der stirbt, glaube ich. Verdammte Scheiße, was sollen wir bloß machen? Kann denn keiner helfen?«

    »Man muss wohl dem Kapitän Bescheid geben«, erklärte Hasi, der nun ebenfalls herantrat, voll gewichtigem Ernst.

    »Na, und warum sind Sie noch nicht längst selbst zur Brücke gelaufen?« Eine junge Frau, die mit ihrer wirren, zotteligen Mähne und einem weit wallenden, grellbunt gebatikten Kleid wie ein Hippie der siebziger Jahre aussah, blickte Hasi herausfordernd an.

    Doch ehe der Stuttgarter sich eine empörte Antwort überlegt hatte, kam eine Stimme aus dem Lautsprecher: »Der Kapitän für die Fahrgäste auf dem Oberdeck: Ein Mannschaftsmitglied mit Sanitätsausbildung ist unterwegs und kümmert sich sofort um den … Zwischenfall.«

    »Lassen Sie mich bitte durch«, rief da auch schon jemand laut von hinten und schob die Menge der Gaffer, die sich inzwischen um den an Deck liegenden Mann gebildet hatte, unsanft auseinander.

    Hasi erkannte den jungen Decksmann, der die Autos bei der Verladung auf Amrum eingewiesen hatte. Der Seemann stellte einen Koffer, auf dem leuchtend das Rote Kreuz auf weißem Grund prangte, neben dem Rothaarigen ab und kniete sich hin. Mehr konnte der Stuttgarter Kommunalbeamte zu seinem Ärger aber nicht erkennen, denn die Mauer der Schaulustigen hatte sich vor ihm wieder dicht geschlossen. Wenig später schon stand der Helfer wieder auf, und man hörte ihn etwas in sein Funkgerät sprechen.

    Hasi verstand nicht viel. Nur die Worte ›akut‹ und ›Notfall‹ bekam er mit.

    Mit der Routine Tausender solcher Manöver fuhr der Kapitän die Fähre an den Anleger in Schlüttsiel, diesmal jedoch deutlich forscher als gewöhnlich. Schnell waren die Leinen fest. Die Rampe wurde gerade herabgelassen, als auch schon mit Blaulicht und Martinshorn der Notarztwagen über den Kai heranjagte.

    Noch von See hatte die Schiffsführung den Notruf abgesetzt. Ein Passagier, der immerhin Tierarzt war, hatte die Vermutung des Hilfssanitäters bestätigt, der inzwischen besinnungslose Rothaarige habe wahrscheinlich einen epileptischen Anfall erlitten.

    Der Rettungswagen bremste scharf und hielt direkt vor der heruntergelassenen Rampe. Notarzt und Sanitäter stürmten mit ihren Taschen an Bord, wo sie vom Kapitän in Empfang genommen wurden. Gemeinsam rannten sie die Treppe zum Oberdeck hinauf und knieten sich neben den Patienten, der immer noch scheinbar leblos auf dem Deck lag. Nach ein paar Minuten wurde eine Trage geholt, der Mann, dem man inzwischen eine Infusion gelegt hatte, darauf festgeschnallt und zum Fahrzeug getragen.

    Unter dem gellenden Heulen seines Martinshorns fuhr der Krankenwagen kurz darauf los. Nach und nach verklang der Lärm der Sirene, als das Fahrzeug auf der schmalen Straße hinter dem Außendeich in Richtung der nahe gelegenen Kleinstadt Niebüll davonraste. In weniger als einer Viertelstunde würde man sich im dortigen Klinikum, das über moderne Notfalleinrichtungen verfügte, um den Patienten kümmern.

    Was in diesem Fall allerdings nicht mehr nötig war. Der Mann war bereits tot, als der Wagen vor der Notaufnahme anhielt.

    2

    »Moin, Frau Christ! Gut, dass Sie kommen«, sagte Kommissar Nuri Önal, sah kurz auf seine Armbanduhr und griff nach einem Notizzettel auf seinem Schreibtisch. »Ich habe in einer Stunde einen Termin in Niebüll.«

    »Was wollen Sie denn da?«

    »Sonderbare Sache. Erzähle ich Ihnen gleich, aber erst einmal bin ich neugierig. Was hat die Sitzung ergeben? Es ging doch um die zusätzlichen Dienstposten, die wir bekommen sollen, nicht wahr?«

    Oberkommissarin Helene Christ stieß einen Seufzer aus. »In der Tat.«

    Sie ging zu dem kleinen Kühlschrank in der Ecke des geräumigen Büros, das sie sich mit ihrem Kollegen teilte, holte eine Flasche Mineralwasser heraus und trat vor eines der offenen Fenster. Während sie ihren Blick gedankenverloren von dem regen Betrieb auf dem Busbahnhof hinüber zu den Schiffen wandern ließ, die bei vollständiger Windstille an der Hafenspitze im Fördewasser dümpelten, setzte sie die kühle Flasche an den Mund, nahm ein paar lange Züge und beobachtete ein Segelboot, das wegen der Flaute unter Motor in den Hafen hereinkam.

    Sofort gingen ihre Gedanken zu Simon und der Seeschwalbe. In dieser Saison hatten sie nur an den Wochenenden ein paar kurze Fahrten mit dem Boot gemacht. Und nun würde wohl sogar ihr Urlaubstörn nach Schweden platzen, den sie voller Vorfreude an den langen dunklen Winterabenden geplant hatten und der in einer Woche beginnen sollte.

    Die Seeschwalbe stand nämlich seit gestern hoch und trocken in der Werft. Die passenden Ersatzteile waren für ein so altes Schiff nur schwer zu bekommen, vielleicht musste das eine oder andere sogar erst neu angefertigt werden. Und auch die aufwendigen Reparaturarbeiten würden einige Zeit dauern, ganz zu schweigen von der Beseitigung des Wasserschadens innen. Trotz Eigenleistung würde all das auch noch viel Geld kosten, Geld, das sie eigentlich für den gemeinsamen Urlaub zurückgelegt hatten.

    Tschüss, Schweden, dachte Helene traurig und versuchte, das verlockende Panorama des sonnenüberfluteten Schärengartens und von roten Holzhäuschen mit weißen Fensterläden auf unzähligen Felseninselchen in glasklarem Wasser aus dem Kopf zu kriegen.

    Sie sah nach oben. Immer noch schien die Sonne nur schwach durch den feuchten Dunst, der seit heute Morgen über der Stadt lag. Ein Vorbote des Herbstes, diese diesigen, tief hängenden Schwaden. Hoffentlich dauerte es nicht mehr allzu lang, bis wieder Wind aufkam und den nebligen Spuk davon blies, damit die Augustsonne noch ein paar Tage lang ihre Kraft entfalten konnte.

    »Kriegen wir denn nun die zusätzlichen Stellen, von denen überall die Rede ist?«, holte Nuri Önal sie aus ihren Gedanken. »In der Zeitung steht, nun käme endlich die Personalaufstockung, die unsere Landesregierung angekündigt hat.«

    »Ja, das steht fest. Aber jetzt geht der Streit erst richtig los.«

    »Versteh ich nicht.«

    »Wir können uns freuen, dass es in der Polizeidirektion Flensburg bald einen Kriminaldauerdienst geben wird. Tolle Sache, alle Kommissariate werden entlastet, wenn die Kripo endlich rund um die Uhr kompetente Leute im Dienst hat.«

    »Das ist doch super!«

    »Ist es, aber wir müssen unsere gesamte Organisation neu denken. Betrifft die Mordkommission, aber auch alle anderen Abteilungen. Und jeder Kommissariatsleiter hat scheinbar unwiderlegbare Argumente, warum gerade seine Abteilung zusätzliche Stellen benötigt. Das Hauen und Stechen geht gerade erst los!«

    »Kann ich mir denken«, kommentierte Önal grinsend. »Ist immer so, wenn’s was zu verteilen gibt.«

    Die Oberkommissarin nickte. »Das eben war der erste Vorgeschmack. Ein recht munteres Rededuell. Ich könnte mir vorstellen, dass sich meine Beliebtheit bei gewissen Kollegen deutlich abgekühlt hat.« Sie nahm noch einen Schluck aus der Flasche. »Wie auch immer, unsere Personallage wird sich auf jeden Fall verbessern.«

    Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre dichte weißblonde Mähne, schlenderte zum Schreibtisch, ließ sich in den Sessel fallen und streckte ihre langen Beine aus. Sofort fielen ihr am rechten Oberschenkel ein paar braune Spritzer ins Auge, die ihre hellen Jeans zierten – eindeutig Kaffeeflecken. Ärgerlich griff sie in ihre Tasche und zog eine Packung Taschentücher hervor.

    »Würd ich nicht machen, Frau Christ.« Önal hatte die Flecken offenbar auch gesehen. »Wird nur schlimmer, wenn man drauf herumreibt. Sie könnten die Stelle ja rausschneiden, Jeans mit Löchern sind modern.«

    »Haha. Sehr witzig, Herr Kommissar«, erwiderte Helene lachend. »Na gut, dann lass ich’s eben.«

    Der junge Mann heftete die schwarzbraunen Augen aufmerksam auf seine Vorgesetzte. »Ach, wurde eigentlich in der Konferenz auch über das Thema ›Leitung der Mordkommission‹ gesprochen? Ich meine, sollen Sie die weiterhin innehaben, oder wird man Ihnen jemanden vor die Nase setzen?«

    Heikles Thema, dachte Helene. Nach wie vor war die Leitungsstelle von einer Kollegin besetzt, die an das LKA in Kiel ausgeliehen worden war, nachdem sie hier in der Bezirksdirektion Flensburg ein ungewöhnlich kurzes, aber allen Beteiligten unvergessliches Gastspiel gegeben hatte. Seither führte Oberkommissarin Christ die Mordkommission kommissarisch – eine Chance, die sie gern ergriffen hatte. Aber sie wusste natürlich, dass sie noch nicht genügend Dienstjahre hinter sich hatte, um zur Hauptkommissarin befördert zu werden. Wohl oder übel musste sie daher mit der Ungewissheit leben, ob die ungeliebte Kollegin wieder zurückkehren oder man ihr jemand Neues vor die Nase setzen würde.

    Unwirsch schüttelte sie den Kopf und wechselte abrupt das Thema. »Was ist das für ein Termin in Niebüll, Nuri?«

    Wenn es ihn störte, auf seine Frage keine Antwort erhalten zu haben, so ließ sich der junge Mann das jedenfalls nicht anmerken. Er warf einen Blick auf die Notiz und sagte in sachlichem Ton: »Die Kollegen von der dortigen Kriminalpolizeistelle haben vorhin angerufen. Ein Passagier ist auf der Fähre nach Schlüttsiel mit schweren Krampfanfällen zusammengebrochen. Verdacht auf einen epileptischen Anfall. Offenbar hat der einen Herzinfarkt ausgelöst. Der Mann ist auf der Fahrt ins Krankenhaus verstorben.«

    »Das ist schlimm, aber was haben wir damit zu tun?«

    »Der Arzt in der Notaufnahme hat die örtlichen Kollegen alarmiert. Er glaubt, dass der Krampfanfall von einer Vergiftung verursacht wurde, die auch zum Tod geführt hat.«

    »Aha«, erwiderte Helene und runzelte die Stirn. »Ich verstehe aber immer noch nicht, warum sich die Kripo dafür interessieren sollte.«

    »Das war mir erst auch nicht klar, aber die Klinik hatte um Rückruf gebeten und ich habe vorhin mit dem Notarzt gesprochen.« Önal warf einen Blick auf seine Notiz. »Ein Doktor Chamkanni, wenn ich es richtig verstanden habe. Der wollte mir am Telefon nichts Genaues sagen …«

    »… womit er absolut recht hatte.«

    »Sicher. Nur so viel ist bisher klar: Er hat an der Leiche einen verdächtigen Einstich gefunden …«

    »… und meint, dass

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