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Sie nannten mich "Held": Wie ich als Deutscher in Syrien gegen den Islamischen Staat kämpfte
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Sie nannten mich "Held": Wie ich als Deutscher in Syrien gegen den Islamischen Staat kämpfte
eBook234 Seiten3 Stunden

Sie nannten mich "Held": Wie ich als Deutscher in Syrien gegen den Islamischen Staat kämpfte

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Über dieses E-Book

Christian Haller ist eigentlich ein ganz normaler Mann. Er hat einen guten Job als Veranstaltungstechniker und lebt in einer glücklichen Beziehung mit seiner Freundin. Doch nach den ersten Nachrichten über die Gräueltaten des Islamischen Staates, nach den Bildern von geköpften Geiseln, von Männern, die man zur Strafe für Verstöße gegen den Islam von Hochhäusern stößt und den Berichten über all die anderen Massaker weiß er, dass er seinen Beitrag leisten will, um den IS zu stoppen. Er nimmt Kontakt mit den kurdischen Kämpfern im Norden Syriens auf und reist nach wochenlangen Vorbereitungen endlich im Herbst 2014 zu ihnen an die Front. Seine Familie informiert er erst, als er schon in der Abflughalle des Flughafens wartet, damit sie ihn nicht von seinen Plänen abbringen.
Nach seiner Ankunft in Syrien wird er bald schon mitten in die Kampfhandlungen hineingezogen. Er kämpft an der Front, neben ihm schlagen die Kugeln ein, er schläft in zerschossenen Häusern und lebt versteckt – immer auf der Hut vor den Terroristen. Er kämpft in einem brutalen Krieg, er sieht Dinge, die er nie mehr vergessen wird, er gewinnt Kameraden und verliert sie wieder auf dem Schlachtfeld. Nach sieben Monaten ist sein Einsatz vorbei, er wird von der Front abgezogen und kehrt nach Deutschland zurück.
In diesem Buch berichtet zum ersten Mal ein Deutscher, wie der Krieg gegen den IS wirklich aussieht und warum es so wichtig ist, dass die Welt zusammenrückt und nicht nur zusieht, wie ein ganzer Kontinent in Brutalität, Chaos und Anarchie versinkt.
SpracheDeutsch
HerausgeberRiva
Erscheinungsdatum20. Nov. 2015
ISBN9783959711173
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    Buchvorschau

    Sie nannten mich "Held" - Christian Haller

    Haller

    VORSPIEL

    07. Januar 2015, 23:45 Uhr, Syrien

    Der Krieg macht aus einem Soldaten keinen besseren oder schlechteren Menschen. Der Krieg offenbart nur, ob man ein gutes oder ein schlechtes Herz hat. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich habe den Krieg gesehen. Ich habe gute und ich habe schlechte Menschen getroffen. Sterben tun sie alle irgendwann. Man gewöhnt sich daran. Man gewöhnt sich an so vieles.

    Seitdem ich in Syrien bin, ist der Tod mein ständiger Begleiter. Ich weiß, dass er mir näher ist, als meine Kameraden es je sein könnten. Auch wenn sie direkt neben mir im Schützengraben liegen und ich ihre Angst spüren kann. Egal, wie hart und furchtlos sich ein Soldat nach außen gibt – wenn es zu einem Gefecht kommt, dann sind wir alle gleich, dann haben wir alle Angst. Nach einem halben Jahr in dieser Hölle habe ich mehr über mich und die Menschen gelernt, als mir ein ganzes Psychologiestudium je vermitteln könnte. Denn im Krieg kann sich ein Mann nicht verstellen, er kann sich nicht verstecken. Der Krieg reduziert ihn auf seinen ursprünglichsten Trieb. Den Trieb zu überleben. 

    So wie in dieser Nacht. Wir waren bereits drei Tage an diesem Checkpoint mitten in der Wüste. Er lag direkt an der Grenze zum Feindgebiet, und wir mussten ihn verteidigen. Zwischen uns und denen gab es nichts außer Sand und ein paar Felsen.

    Uns war klar, dass es nur eine Frage der Zeit sein musste, bis sie uns angreifen würden. Die selbst ernannten Gotteskrieger planten einen Vormarsch. Wir wussten das. Seit Tagen schon erreichten uns Gerüchte, und wir konnten auf der anderen Seite der Grenze immer wieder Truppenbewegungen wahrnehmen. Es würde geschehen.

    Und dann kam die dritte Nacht. »Daaaish«, schrie einer unserer Männer, und ich ging sofort in Deckung und presste mich instinktiv gegen die Sandsäcke. Im selben Moment eröffneten sie das Feuer auf uns. Ich hörte die Schüsse der Kalaschnikows und spürte, wie das Adrenalin durch meinen Körper jagte. »Daaaaish, Daaaaish«, hörte ich ihn immer wieder in die Nacht hineinrufen. Ich blieb in meiner Deckung und wartete, bis das Stakkato der feindlichen Kalaschnikows verstummte. Dann drehte ich mich um und schoss zurück.

    Ich feuerte in die Dunkelheit. Es muss weit nach Mitternacht gewesen sein. Ich schoss in das Nirgendwo. Ich konnte Daish nicht sehen. Ich konnte gar nichts sehen. Nur ein unendlich tiefes Schwarz. Dann ging ich wieder in Deckung. Ich hörte, wie die Kugeln in den Wall und die Sandsäcke einschlugen, hinter denen ich mich verschanzt hatte. Ich versuchte zu erkennen, von wo das Mündungsfeuer der Islamisten kam. Dann änderte ich meine Position, drehte mich wieder um und zielte auf das Mündungsfeuer. »Allahu akbar«, schrie Daish von der anderen Seite. »Gott ist groß.«

    Sie schossen mit schweren Geschützen auf uns. Einige von den selbst ernannten Gotteskriegern benutzten Leuchtspurmunition. Projektile, die pyrotechnisch ihre Flugbahn illuminieren. Ich konnte sehen, wie sie über meinen Kopf hinwegflogen. Dann setzten sie Raketenwerfer ein. Sie explodierten an den Felswänden hinter uns. Unsere Soldaten feuerten aus allen Rohren zurück. Ich hörte das Pfeifen der Kugeln, das sich mit dem Einschlag der Explosivgeschosse vermengte. Und dazwischen die »Allahu akbar«-Rufe der Feinde. Es war ein Albtraum. Immer wieder versuchten Fußtruppen, zu uns aufzuschließen. Das Mündungsfeuer kam immer näher. Wir schossen in ihre Richtung. Wir sahen nicht, ob wir trafen. Aber wir feuerten um unser Leben.

    Wenn es zum Feindkontakt kommt, ist nichts so, wie man es sich vorstellt. Man ist nicht vorbereitet. Man ist nie vorbereitet. Alles, was man weiß oder was man glaubt zu wissen, ordnet sich in einem solchen Moment dem unbedingten Willen zu überleben unter. Es fühlt sich so an, als würde man auf Autopilot schalten. Als würde irgendetwas in uns die Kontrolle über unseren Körper übernehmen. Der Verstand schaltet sich ab. Man denkt nicht mehr. Man handelt. Und trotz des Autopiloten, der die Kontrolle übernommen hatte, wusste ich in diesem Moment eine Sache ganz genau: Jeder Fehler ist tödlich. Tödlich für mich. Und tödlich für meine Jungs. Das hier ist kein Training mehr. Daish war jetzt da.

    Es war das erste Wort, das ich lernte, als ich in Syrien ankam. Daish. Der Feind. Und mit welchem Feind wir es hier zu tun hatten, wussten wir alle ganz genau. Die brutalste und gefährlichste Terrormiliz der Welt. Der Islamische Staat. Daish ist die arabische Abkürzung für den IS, aber die Islamisten hassten es, wenn sie so genannt wurden. Daish bedeutet im Arabischen auch so viel wie »niedertreten«.

    ***

    Irgendwann war alles wieder vorbei. Es war still. Das Rattern der Maschinengewehre hörte einfach auf. Noch nie in meinem Leben habe ich die Stille so sehr zu schätzen gewusst. Ich schaute auf meine Uhr. Eine Stunde war vergangen. Ich hatte das Gefühl, das Gefecht hätte nur wenige Minuten gedauert.

    »Sie sind weg«, rief jemand auf Kurdisch. »Es ist vorbei!«

    Ich verharrte noch ein paar Minuten in meiner Position. Als wirklich alles still blieb, stand ich auf und drehte eine Runde um das Haus. Es war drei Uhr morgens. »Leg dich schlafen, Agit«, sagte mein Kommandeur. »Das war gute Arbeit.«

    »Haben wir Verluste?«, fragte ich.

    Er schüttelte den Kopf. »Alles in Ordnung.«

    Ich schaute zu den anderen Kämpfern. Sie waren gut drauf. Sie lachten und fingen an, kurdische Guerillalieder zu singen. Das machten sie immer so nach einer erfolgreichen Schlacht.

    Ich zündete mir eine Zigarette an und inspizierte unser kleines, baufälliges Lehmhaus. Überall waren Einschusslöcher in den Wänden. Der Putz bröckelte ab. Unsere Unterkunft sah jetzt noch baufälliger aus als vor drei Tagen, als wir hier angerückt kamen. Vor dem Haus war ein Wall aus Erde aufgeschüttet. Dort lagerten hoch aufgetürmte Sandsäcke. Die Sandsäcke, die mir gerade mein Leben gerettet hatten. Ich starrte wieder in die Dunkelheit.

    Nach einer Weile ging ich in das Haus und machte mir eine Tasse Tee. Alles war provisorisch eingerichtet. Auf dem Boden lagen Teppiche, Decken und Matten. Das waren unsere Schlafplätze, und sie waren genauso unbequem, wie sie aussahen. Strom gab es nicht. Nur einen kleinen Dieselofen. Ich trank den Tee in einem Zug aus, legte mich auf den Boden und zündete mir noch eine Zigarette an. Meine Hand zitterte. Sie hörte nicht auf zu zittern. Ich legte sie mir auf die Brust. Draußen hörte ich die Männer aus meiner Einheit singen, und meine Gedanken kreisten immer wieder um das Gefecht. Die Bilder vom Mündungsfeuer vermengten sich mit den kurdischen Gesängen, und irgendwann schlief ich vor Erschöpfung ein.

    Ich wurde wach, als am nächsten Morgen zwei schwere Trucks vor unserem Haus bremsten. Es kam eine Truppe, die sich ein Bild von der Situation machen wollte. So machten sie das immer. Sie analysierten den nächtlichen Vormarsch, um für neue Angriffe vorbereitet zu sein. Unsere Einheiten machten vielleicht Fehler. Aber sie machten diese Fehler nicht zweimal.

    Drei Männer liefen in der Wüste vor uns herum und sammelten die Leichen der IS-Kämpfer auf. Einer von ihnen war uns gefährlich nahe gekommen. Die Männer nahmen den Toten die Waffen ab, steckten die Munition ein und verfrachteten die leblosen Körper auf die Ladefläche des LKWs. Ich lehnte mich an die Wand von unserem Haus und verfolgte alles. Sie luden fünf Leichen auf. Als der LKW abfuhr und direkt vor dem Haus wendete, konnte ich die Männer erkennen. Es waren junge Kerle. Alle trugen einen Bart. Sie lagen einfach da, das Blut auf ihren zerschossenen Uniformen und die Körper steif wie Wachsfiguren.

    Das war er also. Daish. Ich zündete mir eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Was für eine verdammte Scheiße hier doch ablief.

    »Agit«, rief einer unserer Soldaten. »Komm zu uns.«

    Ich nickte kurz rüber und setzte mich dann zu meinen Kameraden. Mit dem Truck waren einige neue Männer angekommen, die uns hier im Checkpoint unterstützen sollten. Es gab da ein kleines Ritual. Immer wenn neue Kämpfer zu einer Einheit gestoßen waren, wurden sie mit Tee und Zigaretten begrüßt. Man setzte sich zusammen und lernte sich kennen. Einer von den Neuen sprach Englisch. Er hieß Bero.

    »Wo kommst du her?«, fragte er mich.

    »Deutschland.«

    »Du bist kein Kurde, oder?«

    »Nein«, antwortete ich ihm und lächelte.

    »Warum bist du hier? Warum kämpfst du in einem Krieg, der nicht dein Krieg ist?«

    »Ist eine lange Geschichte.«

    »Mein Freund«, lachte er. »Wir sind hier im Niemandsland. Wir haben alle Zeit der Welt. Erzähl sie uns.«

    KAPITEL 1

    Die Geschichte meines Lebens ist die Geschichte einer Entscheidung. Es gibt viele Möglichkeiten, diese Geschichte irgendwo beginnen zu lassen. Aber egal, welchen Anfang ich wähle, egal, wie ich sie erzählen möchte, sie wird doch immer nur von diesem einen Tag bestimmt, von diesem einen Moment, auf den alles hinauslaufen sollte. Der Moment, in dem ich beschloss, nach Syrien zu gehen.

    Die ersten Jahre meines Lebens wohnte ich mit meinen Eltern in Osnabrück. Ich hatte dort eine unbeschwerte Kindheit, die ihr Ende fand, als ich sechs Jahre alt wurde und meine Mutter Karl kennenlernte. Sie verließ meinen Vater, und wir zogen gemeinsam mit ihrem neuen Mann in einen kleinen Ort in den Westerwald. Mein älterer Bruder und meine Schwester waren schon erwachsen und blieben in Osnabrück. Mir fiel der Umzug nicht leicht. Ich vermisste meine Freunde, litt unter der Trennung von meinem Vater und fand mich nicht gut in meinem neuen Umfeld zurecht. Ich war schon immer ein ruhiges und introvertiertes Kind gewesen. Nach dem Umzug zog ich mich komplett zurück. Ich versuchte auf meine eigene Art, mit meinen Sorgen umzugehen. Ich versuchte, mich in eine Art Parallelwelt zu flüchten. Ich las jede Menge Bücher. Und irgendwann entdeckte ich die ersten Abenteuerromane für mich. Das sollte alles verändern.

    Ich liebte die Fünf Freunde-Bücher. Oder die Geschichten von Huckleberry Finn. In meinem Kopf erlebte ich sie alle mit. Ich stellte mir vor, wie ich mit George, Julian, Dick, Anne und Timmy über die Pirateninseln streifte und geheime Schätze entdeckte. Oder wie ich mit Huckleberry und Tom Sawyer auf einem kleinen Floß den Mississippi entlangtrieb. Es half mir, meinen Alltag zu vergessen. Und es veränderte etwas in meinem Denken. In meinem Verständnis von der Welt. Ich begriff sie nicht mehr als einen schlechten Ort, an dem ich mich nicht zurechtfinden konnte. Ich begriff sie plötzlich als einen großen Abenteuerspielplatz. Und ich wollte diesen Abenteuerspielplatz entdecken.

    Nach der Schule bin ich mit meinen Mitschülern oft in den Wald gezogen. Wir haben uns Baumhäuser eingerichtet, kleine Dämme am Bach gebaut oder sind einfach nur auf Schatzsuche gegangen. Ich wurde zu einem richtigen Draußen-Kind. Ich war noch immer eher ruhig und zurückhaltend, aber ich entdeckte nun auch meine wilde Seite, die mir bislang verborgen war. Für mich war alles, was ich jetzt anstellte, ein einziges großes Abenteuer. Und ich wurde süchtig nach Abenteuern.

    Trotzdem fehlte mir mein Vater. Ich habe ihn sehr geliebt und konnte mich nur schwer mit dem Gedanken anfreunden, dass aus meinem Vollzeit-Papa ein Wochenend-Papa werden sollte. Meine Mutter merkte, wie sehr mich diese Wochenendbeziehung belastete, und an meinem zehnten Geburtstag erlaubte sie mir das erste Mal, dass ich ihn alleine besuchen durfte. Das war für mich das Größte. Sie brachte mich zu der Bushaltestelle in unserem Dorf, und von dort fuhr ich zum Bahnhof, wo ich in den Zug stieg und dann etwa vier Stunden nach Osnabrück unterwegs war.

    Für mich war diese Fahrt das größte Abenteuer überhaupt. Und ich durfte es Woche für Woche ganz alleine bestehen. Der große, lange Zug mit all den fremden Menschen, die großen Bahnhöfe, an denen ich ein- und ausstieg, die vielen Fahrgäste, die kamen und gingen – für mich war das extrem aufregend.

    Mein Vater war Spediteur und hatte ein eigenes Unternehmen. Er richtete sich in seiner Firma eine kleine Wohnung ein, und wenn er samstags arbeiten musste, bin ich über das riesige Gelände gestromert und habe mir dort kleine Hütten gebaut. An den Sonntagen versuchte mein Vater immer, mir etwas Besonderes zu bieten. Wir sind dann ins Disneyland Paris gefahren oder haben einen Tagesausflug nach Frankreich gemacht. In das Schlumpfdorf, das mittlerweile kein Schlumpfdorf mehr, sondern ein normaler Freizeitpark ist. Aber die großen Achterbahnen gab es damals schon.

    Mein Vater war ein richtiger Oldschool-Typ. Ein echter Gentleman. Die Leute liebten seinen Charme. Er legte sehr viel Wert auf Höflichkeit und Respekt. Das impfte er mir richtig ein. »Jeder Mensch«, wiederholte er immer wieder, »hat deinen Respekt verdient. So lange zumindest, bis er dieses Recht verwirkt.« Kein Mensch kann sich frei machen von Vorurteilen. Aber es ist eine Stärke, seine Urteile auf den Prüfstand zu stellen und sie ändern zu können. Das hat sich mir stark eingeprägt. Mein Vater war aber auch ein Sturkopf. Ein Mann, der sich nie hat helfen lassen. Er dachte immer, er könnte seine Probleme selber lösen. Wenn er sich verletzte, ging er nicht zum Arzt. Das heilt schon von alleine, sagte er.

    Und dann ist mein Vater gestorben. Ich war dreizehn Jahre alt, und sein Tod hat mich fertiggemacht. Er erlitt einen Herzinfarkt, den er eigentlich gut überstand. Zumindest dachten wir das. Er blieb noch einen Monat im Krankenhaus und starb völlig unerwartet an einem Folgeinfarkt im Schlaf. Als ich die Nachricht bekam, war ich vollkommen am Ende. Sein Tod hat mich komplett aus der Bahn geworfen.

    Die wilde Seite, die ich an mir entdeckt hatte, wurde immer ausgeprägter. Als ich älter wurde, reichten mir die Abenteuer in den Baumhäusern nicht mehr. Ich war ein Kind der MTV-Jahre, und MTV stand damals ganz im Zeichen der Anarchie. Jackass war unser Lieblingsformat. Ein Haufen durchgeknallter Vollidioten, die den Tag über nichts anderes machen, als sich möglichst kreativ selbst oder gegenseitig in die Scheiße zu reiten. Das konnten wir auch. Wir vermengten eine riesige Schüssel Kartoffelpüree mit Ketchup und Mayo und verklebten damit die Hauswände unseres verhassten Nachbarn, wir wagten Sprünge von unseren Hausdächern in die Hecken der Nachbarn oder sind nachts in irgendwelche Schwimmbäder eingebrochen, um nackt zu baden.

    Aber nachdem mein Vater gestorben war, verlor ich meine Mitte. Von diesem Moment an wurde aus dem wilden Kind ein Sorgenkind. Meine Sucht nach Abenteuern wurde immer größer, und ich geriet in einen Kreislauf, der mich immer tiefer runterzog. Meine Noten wurden schlechter, und je schlechter sie waren, desto mehr lenkte ich mich davon ab, indem ich noch mehr Mist baute, was wiederum einen noch schlimmeren Effekt auf meine schulischen Leistungen hatte.

    Ich konnte einfach nichts mehr richtig machen. Einmal spielte ich mit meinen Jungs vor dem Schulunterricht eine Runde Basketball. Wir waren schon damals ziemlich heftig unterwegs, und gerade als ich zum spielentscheidenden Wurf ansetzte, wurde ich von einem Kollegen übelst gecheckt. Dabei muss mir irgendwie ein Wirbel rausgerutscht sein. Ich hatte höllische Schmerzen und ging zu meinem Sportlehrer, um ihm davon zu erzählen. Aber er kaufte es mir nicht ab. Er dachte, ich simuliere. Das schwarze Schaf in der Klasse war ich sowieso schon. Immer etwas zu vorlaut, immer etwas zu wild. Der Junge, der macht, was er will.

    Darum schleppte er mich mit in den Stadtpark, wo an dem Tag Ausdauerlauf anstand. Jeder Schritt war für mich eine Qual, aber mein Lehrer zwang mich einfach weiterzulaufen. Irgendwann habe ich die Schmerzen nicht mehr ausgehalten. Meine Mitschüler konnten ihn davon überzeugen, dass ich nicht markierte, und er rief meine Mutter an, die mich vom Unterricht abholte. Als ich am nächsten Tag mit einer schweren Halsbinde in die Schule kam, schaute er mich zwar schuldbewusst an, eine Entschuldigung bekam ich von ihm aber nicht zu hören.

    Zu diesem Zeitpunkt begann ich, ein sehr feines Gespür für Recht und Unrecht zu gewinnen. Ich wusste sehr genau, wann ich Mist gebaut hatte, und ich war immer bereit, dafür geradezustehen. Aber ich konnte es nicht ertragen, wenn ich oder irgendjemand anderes zu Unrecht bestraft wurde. Ich ließ mich sogar zum Klassensprecher wählen, weil ich das Gefühl hatte, auf diese Weise wäre ich in einer Position, in der ich die Willkür mancher Lehrer etwas ausbremsen könnte.

    Aber es brachte alles nichts. In der neunten Klasse bin ich von der Schule geflogen. Ich kam von der Real- auf die Hauptschule, und das zwei Monate, bevor das Schuljahr vorbei war. Das war für mich eine furchtbare Demütigung. Auch weil ich in der fünften und sechsten Klasse ja auf dem Gymnasium angefangen hatte und langsam selber merkte, wie es Stück für Stück abwärts ging. Ich wurde vom ersten Tag an auf der neuen Schule in eine Schublade gesteckt. Das habe ich gehasst. Ich musste immer daran denken, was mein Vater mir gesagt hatte. Dass jeder Mensch eine Chance verdient. Und ich hatte das Gefühl, dass niemand bereit war, mir eine Chance zu geben, dass ich mich beweisen könnte.

    ***

    Ich hätte meine Geschichte auch in Münster beginnen lassen können. Ein paar Jahre später in einer feucht-fröhlichen Nacht im November 2010. Eine Nacht, deren Folgen für mich bis heute spürbar sind. Ich war in einer schäbigen Kneipe gelandet und wurde in eine üble Schlägerei verwickelt, und Schuld daran hatte nur der Pauli – auf sehr indirekte Weise, zugegebenermaßen,

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