Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Rad ab 2: Zum zweiten Mal mit dem Rad um die Welt - Vier Jahre, 68 Länder und 88.000 Kilometer
Rad ab 2: Zum zweiten Mal mit dem Rad um die Welt - Vier Jahre, 68 Länder und 88.000 Kilometer
Rad ab 2: Zum zweiten Mal mit dem Rad um die Welt - Vier Jahre, 68 Länder und 88.000 Kilometer
eBook538 Seiten14 Stunden

Rad ab 2: Zum zweiten Mal mit dem Rad um die Welt - Vier Jahre, 68 Länder und 88.000 Kilometer

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Job gekündigt, Auto verkauft, Wohnung leergeräumt und alles, was man für viereinhalb Jahre braucht, in ein paar Packtaschen verstaut – im Frühjahr 2013 lässt der Erlanger Abenteurer Peter Smolka das bequeme Leben hinter sich, um zum zweiten Mal den Globus zu umradeln. Er startet nach Osten. Eine Reise ins Ungewisse.
Bis nach Russland begleiten ihn drei Freunde aus Erlangen, jenseits von Moskau ist Smolka dann allein unterwegs. Auf langen Umwegen über Pakistan und Südindien geht es weiter nach China, wo er an der Grenze vier Wochen lang festsitzt. Ein Jahr nach dem Aufbruch steht er in Shanghai am Pazifik. Von dort bringt ihn ein Containerschiff nach Kanada.
Als langsam Reisender ist Peter Smolka immer ganz nah an den Menschen und an der Natur. Er nimmt Indien intensiv mit der Nase auf, Südostasien mit dem Gaumen, genießt die Freiheit in der Weite Kanadas. Auf seinem Weg nach Südamerika kann ihn auch ein Überfall in Nicaragua nicht aufhalten. Als ihm nach 60.000 Kilometern in Argentinien allerdings das treue Fahrrad gestohlen wird, steht er kurz vor dem Abbruch der Reise.
Von Rio de Janeiro wählt Peter Smolka den Seeweg nach Südafrika und nach der Durchquerung ganz Afrikas von Kapstadt bis nach Kairo kehrt er über den Bosporus nach Europa und nach Erlangen zurück – nach 88.000 geradelten Kilometern durch 68 Länder und viereinhalb Jahre später.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum16. Jan. 2019
ISBN9783896626332
Rad ab 2: Zum zweiten Mal mit dem Rad um die Welt - Vier Jahre, 68 Länder und 88.000 Kilometer

Ähnlich wie Rad ab 2

Ähnliche E-Books

Reisen für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Rad ab 2

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Rad ab 2 - Peter Smolka

    Endlich geht’s los!

    Um 5.30 Uhr morgens klingelt das Telefon. Wie zwei Tage zuvor verabredet, meldet sich der Bayerische Rundfunk für ein Interview. Sieben Uhr wäre mir lieber gewesen, aber das passte denen in München nicht in den Zeitplan. „Wegen der Zypernkrise", hieß es mysteriös. Bis um drei Uhr habe ich die leergeräumte Wohnung noch geputzt, dann etwa zwei Stunden geschlafen. Der Moderator fragt nach meinen Plänen und wie ich mich fühle. Tja, wie fühlt man sich, wenn man alle Zelte hinter sich abbricht? Zweifel sind da, ob die Entscheidung richtig war. Es kribbelt im ganzen Körper.

    Dies ist ein Abschied für lange Zeit – von Deutschland, von meiner Familie, von den Freunden. Für mindestens vier Jahre. Denn eines habe ich mir ganz fest vorgenommen: Es wird keine „Heimaturlaube" geben, keine Rückflüge zwischendurch. Ich will um den Erdball radeln. Und wenn ich, zum Beispiel, gerade durch Thailand fahre, dann werde ich danach in Laos sein. Oder in Kambodscha. Aber doch nicht in Deutschland! Was wäre das für eine eigenartige Weltumradlung, wenn man sie in Etappen machen würde? Körperlich in der weiten Welt unterwegs, aber mit den Gedanken ständig zu Hause.

    Versuchen möchte ich außerdem, generell auf Flüge zu verzichten, also auch zwischen den Kontinenten. Weil ein Flug ein Bruch im Reisetempo ist. Ob das in unserer modernen, regulierten Welt noch gelingen kann, ist allerdings fraglich.

    Kurz nach acht Uhr kommt Wolfgang, einer der Mitfahrer für die ersten Tage, aus der Nachbarschaft vorbei. Gemeinsam radeln wir zum Rathaus, wo nach und nach die anderen 19 Mitfahrer eintreffen. Außerdem sind viele Freunde da, um „ade" zu sagen. Da Oberbürgermeister Balleis im Osterurlaub ist, übergibt mir Bürgermeisterin Elisabeth Preuß die Grußschreiben an die Partnerstädte.

    Gegen 9.30 Uhr brechen wir am Rathaus auf. Alle fahren mit Handschuhen. Für Ende März ist es zu kalt, die Temperatur liegt knapp über null Grad. Doch ab und zu kämpft sich die Sonne durch den Hochnebel, wir sind guter Dinge. Noch wissen wir nicht, dass sich dieser Winter zu einem Jahrhundertwinter entwickeln wird.

    Drei Radler werden bis nach Wladimir mitfahren: Walter (2. v. l.), Gertrud und Jörg (2. v. r.) (Foto: Tilman Schwob)

    Für die ersten vier Tage haben wir – wegen der Größe der Gruppe – feste Etappen von jeweils rund 100 Kilometern geplant. Vor allem auch, damit jeder schon vorab Unterkunft nach seinem Geschmack organisieren konnte. Am ersten Abend machen wir auf dem Weg zur tschechischen Grenze beim rustikalen Gasthaus Herrenwald in Speichersdorf Station. Die meisten Mitradler richten ihr Schlaflager in einem Nebenraum der Gaststube ein, einige bauen zusammen mit mir ihre Zelte hinter dem Gebäude auf. Der Abend in der Gaststube wird lang, da ich noch auf meinen Bruder Max warte, der aus Frankfurt anreist und erst morgen aufs Rad steigen kann. Trotz der kurzen letzten Nächte bin ich nicht müde, sondern eher aufgedreht.

    Als ich am nächsten Morgen aus dem Zelt schaue, glaube ich für einige Momente, dass wir gar nicht weiterfahren können. Zumindest nicht in dieser großen Gruppe. Über Nacht ist der Winter zurückgekommen – eine dicke Schneedecke liegt über der Wiese, die Fahrräder sind zugeschneit. Ich stapfe die 200 Meter zur Straße vor und kann aufatmen: Auf der Fahrbahn ist die Schneedecke nicht geschlossen.

    In der ersten Nacht der Reise ist der Winter zurückgekommen

    Wir frühstücken im Gasthaus und verabschieden uns dann von denen, die heute zurück nach Erlangen fahren. Unsere Gruppe zählt nun noch 14 Radler, weiter geht es Richtung Osten. Und genau von dort kommt der kalte Wind. Er bremst uns auf dem Weg durch Tschechien, wir mühen uns, ab und zu schneit es wieder.

    Drei Tage später geht am Ostermontag in Zittau die Reise für den Großteil der Mitfahrer zu Ende. Mit der Bahn kehren sie nach Nürnberg zurück. Jetzt sind wir noch zu siebt unterwegs. Das Wetter verschlechtert sich weiter, schneidender Ostwind kühlt uns selbst bei kurzen Pausen aus. Die Stunden im Sattel sind ein einziger Kampf. Ich freue mich über jedes Dorf, weil der Wind durch die Bebauung gebremst wird, fürchte das Ortsende, wo er gleich hinter dem letzten Haus hervorspringen wird, um uns wieder zu ärgern.

    Wir suchen Wege durch Wälder, denn auch dort hat der Wind weniger Kraft. Doch in den Wäldern liegt oft hoher Schnee, durch den wir nur schlingernd vorwärtskommen oder die Fahrräder gleich freiwillig schieben. Auf Feldwegen wühlen wir uns mitunter durch tiefen Schlamm.

    Die Bedingungen sind wirklich rau. Nach und nach streichen die drei Radler, die bis ins Baltikum mitradeln wollten, die Segel. Als letzter gibt Edgar auf, der eigentlich vorhatte, uns drei Wochen bis zur russischen Grenze zu begleiten. Schon nach einer Woche sind wir im Westen Polens nur noch zu viert: Jörg, Walter, Gertrud und ich.

    Jörg war der erste, der als Mitfahrer zusagte. Vor etwas mehr als einem Jahr schaute ich in seinem Fahrradladen Freilauf vorbei, um zu fragen, ob unter seinen Kunden wohl jemand ist, der an einer Tour bis zur Partnerstadt Wladimir teilnehmen würde. Jörg war gerade in der Mittagspause, aber seine Angestellten meinten, sie wüssten schon jemanden: den Chef selbst nämlich. Als Jörg von der Pause zurückkam, empfingen ihn die Worte: „Weißt du schon, was du nächstes Jahr zu Ostern machst? – Du radelst nach Russland!" Jörg wehrte sich nicht.

    Walter ist ein weiterer langjähriger Freund, der immer schon gern in der Natur unterwegs ist. Er reist oft mit dem Fahrrad oder mit dem Faltboot, manchmal schleppt er das Boot auch hinter dem Fahrrad her und wechselt während der Tour zwischen Fluss und Straße. Seine humorvollen Filmvorführungen über diese Reisen haben ihn über die Region hinaus bekannt gemacht.

    Gertrud war eine der letzten, die sich dem Tourstart anschlossen. Sie kam nach meinem Abschiedsvortrag über die erste Weltumradlung zur Bühne. Ich kannte Gertrud nicht, aber zumindest ihre sportlichen Erfolge qualifizierten sie als Mitfahrerin: Sie war gerade erst in ihrer Altersklasse deutsche Meisterin im Wintertriathlon geworden.

    Auf dem Weg durch Polen kämpfen wir weiter gegen das Wetter und auch gegen Tristesse. Die Dörfer sind grau, der Himmel ist grau, der bissige Wind bleibt grausam, auch wenn die Temperaturen inzwischen wieder knapp über dem Gefrierpunkt liegen. Rechts und links der Straßen liegt Schnee, der tagsüber den Boden durchweicht. Wir übernachten öfter in festen Unterkünften, als ursprünglich geplant war. Die Masurischen Seen im Nordosten Polens sind noch vollständig zugefroren. Als wir beim nahen Campingplatz Seeblick anrufen, um zu fragen, ob er schon offen ist, antwortet der Besitzer Marian auf Deutsch: „Kommen Sie besser in drei oder vier Wochen. – Nein, nein, wir sind doch schon fast da! – Er überlässt uns günstige Zimmer zum Vorzugspreis. Ein paar Gläser Tee und Wodka gehen aufs Haus. Wie schon so oft zuvor hören wir jetzt auch von Marian: „Der Winter zieht sich dieses Jahr einen Monat zu lang hin.

    Auf den Nebenwegen liegt zu viel Schnee. Wir müssen wieder zurück auf die Hauptstraße.

    In den baltischen Staaten wird alles etwas angenehmer. Der Wind dreht auf südliche Richtungen, schiebt uns nun an und bringt außerdem weniger kalte Luft mit. Manchmal kommt die Sonne heraus, die wir auf ruhigen Nebenstraßen genießen können. Auf den Feldern stolzieren immer wieder Störche durch den Schnee, die sich vermutlich ärgern, dass sie dieses Jahr zu früh aus Afrika zurückgekehrt sind. Die Häuser, viele aus Holz, sind hier bunter als die in Tschechien und Polen – das Baltikum erinnert eher an Skandinavien. In Kaunas, Riga und Tallinn gönnen wir uns jeweils einen Tag Pause, da wir gut im Zeitplan liegen. Gedankenlos können wir mit unserer Zeit nicht umgehen, denn Gertrud, Walter und Jörg haben ihren Rückflug aus Moskau bereits gebucht.

    Russland

    Die Einreise nach Russland ist der erste „echte" Grenzübertritt, nachdem wir bisher ja nur in EU-Ländern unterwegs waren, ohne jegliche Kontrollen an den Grenzen. Doch auch hier kommen wir problemlos und schnell durch, denn die Offiziellen geben sich gelassen.

    Nach zwei Tagen in St. Petersburg führt die weitere Route nach Osten und um den Rybinsksee herum. Den Großraum Moskau zu meiden, hatten wir schon bei unserer Planung zu Hause beschlossen. Und nach den aufreibenden 45 Kilometern durch St. Petersburg mit dem unglaublich dichten Verkehr und den vielen rücksichtslosen Motorisierten wissen wir, dass diese Entscheidung gut war. Gertrud wurde in der Stadt von einem Auto gestreift.

    Da nun der Boden nicht mehr überall aufgeweicht ist, zelten wir meistens irgendwo abseits der Straße. Vor allem die Nächte sind aber weiterhin kalt. Nahe dem Ort Sazonovo sinkt das Thermometer in der Nacht zum 29. April auf minus acht Grad.

    Unser erster Frühlingstag ist der 2. Mai, als es tagsüber ungewohnte zehn Grad warm wird. An diesem Nachmittag erreichen wir Jaroslawl, eine der ältesten Städte in Zentralrussland. Wir stellen die Zelte auf dem idyllischen Campingplatz eines Rudervereins am linken Ufer der Wolga auf. Von hier haben wir über den Fluss hinweg einen Blick auf die Altstadt, als würden wir in Theaterstühlen sitzen. Die feine Skyline wird von den Zwiebeltürmen der russischorthodoxen Mariä-Entschlafens-Kathedrale dominiert. An unserem zweiten Abend in Jaroslawl geht mit dem Sonnenuntergang der Himmel über der Wolga in Flammen auf.

    Zwei Tagesetappen bringen uns nach Wladimir. Nachdem wir am Ortseingangsschild ein Erinnerungsfoto gemacht haben, fahren wir direkt zum Erlangen-Haus, das in russisch-deutscher Zusammenarbeit aufgebaut und 1995 eröffnet wurde. Es wird jetzt gern als „Botschaftsgebäude der Wladimir-Erlangen-Partnerschaft oder kurz als „Erlanger Botschaft bezeichnet. Die Leiterin des Hauses, Irina Chasowa, erwartet uns schon. Peter Steger aus dem Erlanger Rathaus hat uns angekündigt, er wird auch in den kommenden Jahren meine Partnerstadt-Besuche koordinieren.

    Morgens an der Wolga bei Jaroslawl

    Noch am selben Nachmittag gibt es ein Treffen mit dem Oberbürgermeister von Wladimir. Es entwickelt sich ein angeregtes Gespräch mit Sergej Sacharow, wobei es vor allem um unsere Reise geht, aber auch um die Zukunft des Fahrrades als Verkehrsmittel in Wladimir allgemein. Die sieht so rosig nicht aus. Zunächst will man den Autoverkehr mit Ringstraßen aus der Stadt herauslocken, dann erst sei an Radwege zu denken. Aber für die Ringstraßen ist kein Geld da. Dem Radler in Wladimir wird es noch einige Jahre so gehen wie den Radlern in den anderen russischen Städten: Er wird sich seinen Freiraum irgendwo zwischen den starken Motorisierten und den schwächeren Fußgängern suchen müssen.

    Von unserer Reise ist der Herr Sacharow derart begeistert, dass er spontan für den folgenden Tag eine gemeinsame Radtour durch die Stadt organisiert. Für 18 Uhr, mitten durch den Feierabendverkehr. Der Oberbürgermeister fährt an der Spitze, zwei weitere Radler aus Wladimir sind mit dabei. Wir fahren zweireihig, den Rücken hält uns ein Offizieller in seinem Auto mit Warnblinklicht frei.

    Der Abschied von meinen Erlanger Begleitern steht nun unmittelbar bevor. Den Stress, die 190 Kilometer auf der stark befahrenen M7 von Wladimir nach Moskau zu radeln, will sich keiner von uns antun. Walter, Jörg und Gertrud werden einen Shuttle-Bus nehmen. So bleiben ihnen vor ihrem Heimflug auch noch eineinhalb Tage für die Besichtigung der russischen Hauptstadt. Ich will ganz auf Moskau verzichten und direkt nach Osten in Richtung Kasachstan durchstarten.

    Sergej Sacharow ist es, der mich dazu bringt, die Reiseroute zu ändern. Eine Stadt wie Moskau dürfe man doch nicht auslassen, sagt er – lächelnd, aber doch mit Ernst –, als er von meinen weiteren Plänen erfährt. Und gerade jetzt, an dem verlängerten Wochenende um die Feierlichkeiten zum 9. Mai*), sei die Stadt relativ leer, weil alle zu ihren Datschen aufs Land hinausgefahren seien.

    Moskau – zweifellos eine ganz besondere Stadt. Wann werde ich wieder die Gelegenheit haben, sie zu besuchen? Ich folge schließlich Sacharows Rat und setze die Reise in die falsche Richtung fort, Richtung Westen. Und ich fahre nicht allein. Denn Anton vom VeloTourklub Veles hat, etwas schüchtern, gefragt, ob er mich mit dem Rad in die Hauptstadt begleiten darf. Oder vielleicht auch noch ein paar Tage länger über Moskau hinaus. – Na klar! Sehr gern. Willkommen bei der Tour de Friends!

    Anton hat uns an den vergangenen zwei Tagen in Wladimir begleitet, uns zu den Sehenswürdigkeiten geführt und viel über sein Land erzählt. Er ist ein ruhiger und bescheidener Mensch, 26 Jahre jung. Kennengelernt haben wir uns bereits vor einem Jahr in Erlangen, als er mit vier Tourklub-Kollegen nach Deutschland geflogen ist, um von Erlangen aus zu einer Radtour durch Bayern, Tschechien und Österreich zu starten. Am ersten Tag fuhr ich mit ihnen bis zum Monte Kaolino in Hirschau.

    Damals fiel mir auf, dass die Truppe offenbar ein ganz anderes Verkehrsaufkommen gewöhnt ist als wir in Deutschland. Wenn ich versuchte, die B14 zu meiden und den Schleifen der ausgeschilderten Fahrradroute zu folgen, schauten sie mich verwundert an: „Warum dauernd diese Umwege? Die B14 ist doch gut genug als Radweg."

    Oh ja! Jetzt – hier in Russland – erkenne ich es auch: Unsere B14 ist eigentlich ein Radweg!

    Anton und ich starten nach Moskau. Wir schmeißen uns auf die vierspurige M7. Bezeichnenderweise sind selbst die unerschrockenen Radler vom VeloTourklub diese Strecke noch nie gefahren. „Gibt es denn keine Ausweichroute, Anton? – „Nein, wir können nur auf der M7 fahren.

    Der Verkehr ist wie ein reißender Fluss. Ein Auto dicht nach dem anderen rast an uns vorbei, es gibt keine Pausen, der Strom ist unaufhörlich – als würden sie alle in einem riesengroßen Kreis fahren.

    „Obst und Gemüse von Niederrhein" überholt uns. So steht es auf einem der Lastwagen. Auch die Spedition Altmeyer ist unterwegs. Und gleich mehrere LKW der bankrotten Firma Pfleiderer aus der Oberpfalz fahren Richtung Hauptstadt. Alle natürlich mit russischen Kennzeichen. Die Lastwagen aus Deutschland sind beliebt und werden gar nicht erst umetikettiert.

    Mit Anton auf dem Weg nach Moskau

    60 Kilometer vor dem Moskauer Zentrum und nur noch zehn Kilometer vom Stadtrand entfernt finden wir an einem Fluss einen geeigneten Platz zum Zelten. Ein kleines Wäldchen bietet Sichtschutz gegen das nahe Dorf, zu schaffen machen uns allerdings Wolken kleiner schwarzer, aufdringlicher Fliegen. Das war wirklich ein Vorteil der Kälte auf dem bisherigen Weg: Es gab keine Belästigung durch Insekten.

    Bevor wir uns am nächsten Tag mit den Erlanger Freunden an der Basilius-Kathedrale treffen, machen wir eine ausgedehnte Besichtigungstour durch Moskau. Insgesamt sind wir 110 Kilometer mit den Rädern in der Stadt unterwegs, oft auch auf Gehsteigen, wie das in Russlands Großstädten üblich ist. Die Fußgänger regen sich nicht darüber auf, lassen sich sogar beiseiteklingeln. Dafür werde ich von einem Polizisten gestoppt, weil ich eine achtspurige Straße nicht auf dem Zebrastreifen überquere. Meine russische Erklärung „Ich verstehe nicht tut der Polizist mit einem „Ja, ja … ab – bis Anton zu Hilfe eilt und ihm versichert, dass er wirklich einen Ausländer vor sich hat.

    Unser Übernachtungsproblem im sündhaft teuren Moskau löst sich, als wir am Roten Platz die Erlanger Freunde treffen. Um schon möglichst nahe am Domodedovo-Flughafen zu sein, hatten sie ihre Zelte auf dem Campingplatz des Rus-Hotels im Süden Moskaus aufstellen wollen. Aber mit „Campingplatz" ist nur der bewachte Parkplatz des Hotels gemeint, auf dem man sein Wohnmobil parken darf. Für wirkliches Camping fehlt jegliche Infrastruktur. In den Doppelzimmern, die sie daraufhin nehmen mussten, ist noch ein Bett frei.

    Das zweite Bett findet sich bei Antons Bruder, ebenfalls im Moskauer Süden. Anton hatte seinen Bruder eigentlich nicht behelligen wollen, weil er recht beengt wohnt. Trotz guten Einkommens kann er sich zusammen mit seiner Freundin nicht mehr als eine Einzimmerwohnung leisten. Die nämlich kostet schon fast 1000 Euro Miete im Monat. Moskau gilt als eine der teuersten Städte der Welt. Forbes will herausgefunden haben, dass es nirgendwo so viele Milliardäre gibt wie in dieser Metropole.

    Am nächsten Morgen endet, was vor über sechs Wochen am Rathaus in Erlangen begann: die lange Reise mit Jörg, Walter und Gertrud nach Russland. Wir verabschieden uns vordem Hotel. Von Domodedovo werden sie sich in die Luft erheben und nur zwei Stunden später wieder deutschen Boden unter den Füßen haben.

    Vom Süden Moskaus aus in die Spur nach Südosten zu kommen, ist gar nicht so einfach. Man ist umgeben von Autobahnen, ring- und sternförmig verlaufend, die nur an wenigen Stellen überquert werden können. Also beschließen Anton und ich, direkt auf dem äußeren Autobahnring zu fahren. Er ist ausdrücklich für Radfahrer verboten, hat aber sechs Spuren in jeder Richtung. Da sollte doch für Radler wenigstens eine Spur frei sein.

    Rückenwind treibt uns voran, dazu kommen die Druckwellen, die die Lastwagen vor sich herschieben. Die fahren unverschämterweise auch auf unserer Radspur. Und sie fahren nicht, sie fliegen geradezu! Unwillkürlich ducken wir uns zum Schutze, so wie ein kleines Kind die Augen schließt, um nicht gesehen zu werden. Nach zwölf Kilometern ist der Stress vorbei. Wir biegen ab und sind jetzt nur noch auf doppelspuriger Straße unterwegs.

    Rund 400 Kilometer radeln wir hinter Moskau gemeinsam. Im Städtchen Shazk verabschiedet sich schließlich auch Anton von mir. Er nimmt von hier aus den direkten Weg zurück nach Wladimir. Zwei Tage später ist er wieder zu Hause. Dort angekommen, findet er eine überraschende Nachricht vor, die sein Leben verändern soll – und uns noch ein unerwartetes Wiedersehen bescheren wird.

    *) Tag des Sieges über das Deutsche Reich

    Zeitsprung

    Jedes Jahr zur Umstellung auf die Sommerzeit – und danach wieder beim Zurückstellen der Uhren – gibt es die einschlägigen Berichte in den deutschen Medien: Der Zeitsprung um eine ganze Stunde fügt uns gesundheitliche Schäden zu!

    Kann man also eine Reise von Samara nach Ufa, ganz im Osten des europäischen Russlands, überleben? 150 Kilometer vor Ufa nämlich wird man urplötzlich um zwei Stunden nach vorn katapultiert.

    Bis 2010 hatte Russland noch elf Zeitzonen, die dann aber aus wirtschaftlichen und administrativen Gründen auf neun reduziert wurden. Seitdem fehlt die Zeitzone UTC+5, in der Samara bis dahin lag. Jetzt hat man dort die gleiche Uhrzeit wie im 1000 Kilometer weiter westlich liegenden Moskau. Dadurch geht in Samara die Sonne im Sommer gegen vier Uhr auf, aber schon um 21 Uhr unter. Das führt auch dazu, dass die Menschen zum Teil schon um fünf Uhr auf den Beinen sind. Nach dem Zeitsprung kurz vor Ufa ist nun wieder alles normal, und die Abende sind angenehm lang.

    Mit Ufa erreiche ich die Hauptstadt der autonomen Republik Bashkortostan. Die Bashkiren sind ein muslimisches Turkvolk aus dem Gebiet der heutigen Mongolei. In ihrer autonomen Republik stellen sie allerdings nur ein Drittel der Bevölkerung, die Mehrheit sind Russen und Tataren.

    Die Hauptstadt hat gut eine Million Einwohner und ist eingezwängt zwischen den Flüssen Belaya und Ufa. Die Stadt zieht sich über 30 Kilometer in die Länge. Hier bin ich bei Nuriya angemeldet, einem Mitglied der weltweiten Warm-Showers-Gemeinde. Das Prinzip dieses Verbundes ist das gleiche wie beim bekannteren Couch Surfing: Jedes Mitglied bietet bei sich zu Hause einen oder mehrere Übernachtungsplätze an. Wer gerade selbst auf Reisen ist, darf im Gegenzug bei anderen Mitgliedern um Unterkunft bitten. Für mich ist es das erste Mal, dass ich Warm Showers als Gast nutze.

    In den gleichförmigen Betonblocks einer russischen Großstadt eine bestimmte Wohnung ausfindig zu machen, ist für den Neuling eine Herausforderung. Wenn man den Wohnblock gefunden hat, sucht man weiter nach dem richtigen Blockabschnitt, was wegen verwitterter Markierungen bedeuten kann, dass man sich durchfragen muss. Schließlich steht man unten am Eingang wie vor einem Panzerschrank, vor einer glaslosen Tür aus schweren Metallplatten. Namensschilder gibt es nicht, auch keine einzige Klingel. Dafür aber neben der Tür ein Tastaturfeld, ähnlich dem eines öffentlichen Telefons. Man gibt die Nummer des Appartements ein und – auch das muss man erst einmal wissen – drückt dann noch das „B".

    Nuriyas Stimme klingt aus dem Lautsprecher, kurz danach ertönt der Summton des Türöffners. Im dritten Stock stehe ich noch einmal vor einer Tresortür. Dahinter verbirgt sich Nuriyas Einzimmerwohnung. Ihr Fahrrad, das im engen Flur geparkt ist, wandert auf den Balkon, meines steht jetzt im Flur. Mischa, ihr Sohn, schiebt seine Spielsachen zusammen, um Platz für meine Packtaschen zu schaffen.

    Im Zimmer lehnt ein großer Rucksack an der Wand. Er gehört dem Russen Alexandre, der sich über Couch Surfing bei Nuriya gemeldet hat und gerade einen Stadtrundgang macht. Abends sitzen wir zusammen und plaudern. Solange Nuriya dabei ist, sprechen wir Englisch. Mit Alexandre allein kann ich mich auf Deutsch unterhalten. Er wohnt seit 18 Jahren in Berlin und arbeitet als freier Journalist, unter anderem für GEO. Eines seiner aktuellen Projekte – auf mehrere Jahre ausgedehnt – ist der Besuch aller autonomen Republiken der Ex-Sowjetunion. Insgesamt 20 solche Republiken gibt es zwischen dem Kaukasus und der Beringstraße.

    Nuriya hat Medizin studiert, arbeitet aber seit der Trennung von ihrem Mann ebenfalls als Journalistin. Ihr Themenschwerpunkt ist die Öl- und Gasindustrie. Damit verdiene sie doppelt soviel wie als Ärztin, sagt sie; nur so könne sie den Lebensunterhalt und die Wohnung überhaupt bezahlen.

    Mischa schläft in dieser Nacht auf der Matratze neben Nuriya, Alexandre auf dem Sofa, ich ziehe mich mit meiner Schlafmatte in die winzige Küche zurück.

    Auf dem weiteren Weg nach Osten wird es bergig, und damit wird auch die Landschaft abwechslungsreicher. Um Moskau herum war sie völlig flach mit endlos weiten Wiesen und Feldern. Mit der Annäherung an die Wolga bei Samara wurde es hügelig, aber der Ausblick blieb weit, solange keine Wälder die Sicht begrenzten. Das Uralgebirge mit seinen ersten Ausläufern zwingt nun die Straße in Kurven und gelegentlich auch zu Serpentinen. Ein erfrischendes Auf und Ab, viel Wald, große Seen, tiefgrüne Täler – Erinnerungen an den Schwarzwald kommen auf.

    Dass der Ural als Grenze zwischen Europa und Asien gilt, ist keine willkürliche Festlegung. Das Gebirge entstand vor rund 300 Millionen Jahren durch das Ineinanderschieben zweier Urkontinente. Hier, im südlichen Teil der Gebirgskette, sind die Berggipfel bis zu 1600 Meter hoch. Die Straße nach Chelyabinsk erreicht an der höchsten Stelle gut 800 Meter.

    Chelyabinsk ist eine triste Industriestadt und wie Ufa etwas über eine Million Einwohner groß. Noch einmal mache ich mich zwischen monotonen Betonblöcken auf die Suche nach einem Warm-Showers-Mitglied, auf die Suche nach Anton Wahl. Da die angegebenen GPS-Daten einen Kilometer von seinem tatsächlichen Standort abweichen, brauche ich eine halbe Stunde länger als verabredet, bis ich vor seiner Panzertür stehe.

    Wie sein Nachname vermuten lässt, hat Anton deutsche Vorfahren. Sein 93 Jahre alter Großvater lebte nach dem Krieg mehrere Jahrzehnte als Deutscher in Russland, wo er eine Russin heiratete. Inzwischen ist er nach Frankfurt zurückgekehrt. Ein Teil der Familie, so erzählt Anton, ist dorthin nachgezogen. Er hat aber praktisch keinen Kontakt zu diesem Zweig der Verwandtschaft. Er wird seinen Großvater auch nicht besuchen, wenn er demnächst für zwei Monate durch Mittel- und Nordeuropa radelt.

    Als vor vier Monaten ein großer Meteorit über Russland niederging und die westeuropäischen Medien ausführlich darüber berichteten, war das für mich „irgendwo in Russland". Irgendwo in diesem unfassbar großen Land, in das Deutschland fast 50-mal hineinpasst. Heute erfahre ich, dass der Meteorit quasi über Antons Kopf hinweg geflogen ist.

    Er hatte in seiner Wohnung gerade mit dem Rücken zum Fenster gestanden, als plötzlich die Blitze kamen, drei hintereinander. Danach hat er aus dem Fenster geschaut, um zu sehen, was denn dort vor sich geht. Glücklicherweise hat er nicht zu lange am Fenster gestanden. Denn zwei Minuten später kam mit dem Donner auch die Druckwelle, die Abertausende von Scheiben in der Region Chelyabinsk hat bersten lassen. Schnittwunden waren die häufigsten Verletzungen, die der Meteorit verursacht hat. 1500 Menschen mussten ärztlich behandelt werden.

    Das Städtchen Sim im Ural. Die Gasleitungen verlaufen oberirdisch.

    Die meisten Einzelteile des explodierten Meteoriten fielen in den Chebarkul-See 80 Kilometer westlich von Chelyabinsk. Aus der Größe des Loches in der Eisdecke und nach Auswertung vieler weiterer Daten schlossen Wissenschaftler auf die Dimensionen des Meteoriten vor der Explosion: Er hatte vermutlich einen Durchmesser von 20 Metern und ein Gewicht von 10.000 Tonnen. Ein paar Gramm davon hat Anton gefunden, ein Gramm hat er mir geschenkt – ein schwarzes außerirdisches Kügelchen.

    Der letzte Ort in Russland, das Städtchen Troitsk, ist wesentlich entspannter, als ich es erwartet hatte. Grenzorte haben oft eine unangenehme Atmosphäre mit Kleinkriminellen und finsteren Charakteren, die dunkle Geschäfte mit dir machen wollen. Aber hier, in Troitsk, spürt man überhaupt nicht, dass ein Grenzübergang bevorsteht. Es gibt auch keine Ansammlung von Lastwagen, kein hektisches Treiben von fliegenden Händlern. Troitsk ist eine ganz normale russische Kleinstadt.

    Der blonde Russe am Schalter des Grenzpostens spricht kein Englisch, doch er lässt mich kurz aufhorchen, als er sagt: „Visum kaputt. Er spricht eigentlich auch kein Deutsch, aber das Wort „kaputt kennt jeder in Russland. Normalerweise allerdings im Zusammenhang mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Damals war nämlich „CHitler kaputt".

    Mein Visum ist ungültig? Kann nicht sein! Es stellt sich heraus, dass „Visum kaputt" keine Feststellung war, sondern eine Frage: Soll ich Sie wirklich ausstempeln? Sie können dann nicht mehr zurück. – Ja, ich weiß, so sind die Regeln.

    Die Beamten auf der kasachischen Seite haben alle eine sehr asiatische Erscheinung: runde, flache Gesichter mit schmalen Augen, schwarzes Haar. Es ist, als wäre ich innerhalb von fünf Minuten von Hamburg in die Mongolei geradelt.

    In Kostanay, der ersten Stadt 200 Kilometer nach der Einreise, bekomme ich bei der Migrationspolizei nur eine vorläufige Registrierung (wie in Russland muss man sich auch in Kasachstan in den ersten Tagen behördlich melden). Die endgültige Registrierung müsse ich in der Hauptstadt machen, erklären mir zwei freundliche Damen.

    Also eile ich weiter ins 700 Kilometer entfernte Astana. Dort wundern sie sich im Migrationsamt, was ich denn bei ihnen will – man habe mich doch in Kostanay schon registriert. Hoffentlich gibt’s da nicht noch eine weitere Auslegung der Gesetze, wenn ich in ein paar Wochen aus Kasachstan ausreisen will.

    Steppe

    Wenn man die Landkarte auf der Lenkertasche 3000 Kilometer lang nicht wenden muss, dann ist entweder die Lenkertasche so groß wie ein Schreibtisch oder die Landkarte hat einen eher kleinen Maßstab.

    Meine Lenkertasche hat Normalgröße, ungefähr die eines Schuhkartons. Ungewöhnlich ist die Landkarte. Eine Radwanderkarte sieht jedenfalls anders aus. Seit sechs Wochen fahre ich nun schon mit einem 1:10.000.000-Maßstab durch die Landschaft, ein Zentimeter auf dem Papier entspricht 100 Kilometern in der Natur.

    Deutschland würde bei diesem Maßstab auf eine Zigarettenschachtel passen. Aber ich bin froh, dass der Verlag auf die Rückseite seiner großen Russlandkarte wenigstens diese grobe Übersicht über Kasachstan gedruckt hat. Sonst stünde ich jetzt ganz ohne Landkarte da. Die Suche nach Anschlussblättern ist in den letzten Wochen erfolglos geblieben. Weder Buchläden (das sind hier in der Gegend ohnehin nur bessere Schreibwarengeschäfte) noch Tankstellen hatten etwas im Angebot.

    In der Steppe Kasachstans kommt man allerdings selbst mit diesem Minimaßstab ganz gut zurecht. Das Land ist so weiträumig, dass selbst kleinste Orte in der 1:10.000.000-Karte eingetragen sind, so etwa Kalshengel, ein Dörfchen mit 60 Einwohnern im Südosten des Landes.

    Die beiden Mobilfunkmasten des Ortes zeichnen sich schon aus 20 Kilometern Entfernung in der platten Landschaft vor dem blauen Himmel ab. Dann, langsam, werden Gebäude erkennbar. Der Ort erscheint zunächst groß, es gibt sogar einen zweistöckigen Komplex. Eine Fabrik?

    Ich meine, nur noch 500 Meter vor mir zu haben, als es tatsächlich noch drei Kilometer sind. Mit der weiteren Annäherung wird das Dorf überraschenderweise wieder kleiner. Jetzt lösen sich nämlich die Gebäude voneinander, man kann sie abzählen. Links der Straße liegt, zwischen mehreren Baumgruppen, die eigentliche Siedlung mit den Häusern der Viehzüchter. Allein die Bäume sind in der weiten, heißen Steppe schon eine Wohltat für die Seele. Auf der rechten Seite der Straße reiht sich ein quaderförmiges Kafe an das andere. Etwa zehn dieser Imbissstuben gibt es hier, vor jedem Eingang steht ein Grill, auf dem Schaschlik zubereitet wird. Kalshengel ist für den Reisenden, der aus Norden kommt, die erste Versorgungsstation nach 100 Kilometern. Bis zur nächsten sind es 80 Kilometer: Kurty – natürlich auch auf meiner Landkarte vermerkt, acht Millimeter weiter im Südosten.

    Es ist 17 Uhr und immer noch 30 Grad warm. Zwei Dörfer habe ich heute schon gesehen, 150 Kilometer in den Beinen. Noch einmal 80 Kilometer – bis nach Kurty – schaffe ich nicht, auch wenn die Leute hier meinen, dass es doch nicht mehr weit sei.

    Monotonie in der kasachischen Steppe

    Gaukhar Jeljubaeva bedient im Kafe von Marinovka

    Es ist witzig: Auf der einen Seite bewundern sie den Radler, der sich diese ungeheure Weite antut. Sie bremsen ihr Auto ab von 120 auf Null und bleiben mitten auf der Straße stehen, um zu fragen, woher ich denn komme, wohin ich denn will. Sie sagen: „Unglaublich!" Sie wollen sich immer wieder mit mir fotografieren lassen – das passiert so oft, dass diese photo shootings mich manchmal aus dem Fahrrhythmus bringen. Sie beschenken mich mit Obst, reichen mir aus dem fahrenden Auto heraus Getränke. In den Ortschaften muss ich mitunter kleinere Einkäufe nicht bezahlen, mehrmals auch nicht meine Rechnung in den Kafes. Sie sind herzenswarm, und ihre Gastfreundschaft gehört zur kasachischen Kultur.

    Auf der anderen Seite überschätzen sie aber die Geschwindigkeit, mit der sich ein Radfahrer bewegt, völlig. Drei junge Burschen aus Karaganda, die ihr Auto 300 Kilometer vor Balkhash stoppten und mir Obst in die Hand drückten, meinten, wir könnten uns ja in Balkhash wiedersehen. „Klar, sagte ich, „in zwei Tagen bin ich auch dort. Sie wunderten sich: „Ach so. Da sind wir schon wieder zurück in Karaganda." – Vielleicht ist diese Fehleinschätzung auch der Grund dafür, dass erst zweimal Autofahrer anhielten, um mir eine Mitfahrgelegenheit anzubieten. Angebote übrigens, die durchaus verlockend sind, wenn sich der halbfrontale Wind wieder einmal zu Sturmstärke gesteigert hat. Besonders gefährlich sind die heftigen Böen, die mich manchmal bis auf die Gegenfahrbahn drücken.

    Der zweistöckige Komplex steht am Ende von Kalshengel und ist keine Fabrik, sondern eine Bauruine. Ein völlig unpassender Klotz, der einmal als Hotel geplant war. Direkt vor dem zerfallenden Gebäude hat, ein wenig unromantisch, Uydal seine Jurte aufgebaut. Er betreibt das letzte Kafe vor dem Ortsausgang.

    Ich stelle mein Zelt neben der großen Ruine auf und geselle mich dann zu Uydal. Außen an der Jurte hängt ein Stromzähler. Das ist gut, denn das bedeutet, dass es kaltes Bier gibt. Dazu grillt er mir zwei saftige Schaschlikspieße, die er mit Fladenbrot serviert.

    Die Luft ist klar, die Sonne versinkt langsam und in kräftigen Farben. Die Wolken türmen sich auch heute wieder hoch hinauf in den kasachischen Himmel, sie sind lila, gelb und orange. Wir sitzen vor der Jurte und schauen auf die Straße, auf die M36 – in den Fernseher von Kalshengel. Auch in den Abendstunden bewegt sich da alle Minute mal etwas. Uydal erklärt mir jedes Modell, das über unseren Bildschirm huscht. „Das ist ein Toyota FJ Cruiser. – „Da, ein Mercedes GLK. Und dann kommt noch ein simpler VW Golf vorbei. Uydal ist, wie so viele Kasachen, begeistert von mashinas. Er fragt, wie viel in Deutschland ein Maybach kostet. Ich habe nur eine ungefähre Ahnung, werfe „200.000 Euro" in den Raum. Später lese ich nach, dass es eher zwei- bis dreimal so viel ist. Auf jeden Fall muss man dafür eine Menge Schaschlikspieße verkaufen.

    Uydal möchte auch wissen, ob Russland denn nicht gefährlich gewesen sei.

    Russland gefährlich? Warum? Nein, war es nicht. Oder … Moment … jedenfalls nicht in dem Sinne, wie du es wahrscheinlich meinst. Keine spürbare Kriminalität, nicht die Gefahr, beraubt zu werden. Gefährlich allerdings war der Straßenverkehr, und der war teilweise extrem gefährlich. Außerdem sollte man zusehen, dass man am Wochenende den Betrunkenen aus dem Wege

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1