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Bachfuge: Thriller
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eBook384 Seiten5 Stunden

Bachfuge: Thriller

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Über dieses E-Book

Gruppeninspektor Gruber betraut Frieda Bach und Ronald Wendt mit einem neuen Cold Case. Vor einem Jahr wurden ein ausländisches Mädchen und der pensionierte Lehrer Ewald Meixner tot in dessen Haus in Linz-Urfahr regelrecht hingerichtet. Niemand wusste von der Existenz des Mädchens, Meixner hatte ihre Anwesenheit mehrere Wochen geheim gehalten. Alles deutet auf Menschenhandel und Kindesmissbrauch hin.
Kurz nachdem Frieda und Wendt die Ermittlungen aufgenommen haben, ereignet sich ein neuerlicher Mord in der Nähe von Linz. Dabei handelt es sich um eine Mordserie, die ungefähr zur selben Zeit wie der Doppelmord ihren Anfang nahm, aber nach drei Opfern plötzlich wieder endete. Die Opfer sind ausländische Mädchen, denen die Zahl 88 in die Stirn geritzt wird, was auf einen fremdenfeindlichen Hintergrund hinweist.
Bei ihren Ermittlungen legt sich Frieda mit Waldner - dem Flüchtlingsbeauftragten des Bundes für Oberösterreich - an, weil dieser die Zusammenarbeit verweigert. Gruber ist außer sich und droht ihr, sie ins Archiv versetzen zu lassen, wenn sie sich nicht bei Waldner entschuldigt. Erst später erfährt sie, dass dieser und ihr Vorgesetzter der gleichen Burschenschaft angehören und Parteifreunde sind. Allen Widrigkeiten zum Trotz ermittelt sie weiter.

SpracheDeutsch
HerausgeberFederfrei Verlag
Erscheinungsdatum13. Apr. 2018
ISBN9783990740156
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    Buchvorschau

    Bachfuge - Ernst Schmid

    de.wikipedia.org)

    Präludium

    Die Tür zu ihrer Zelle wurde aufgerissen. Schlaftrunken richtete sie sich auf und starrte zum Eingang. Dort stand einer der Wächter und bedeutete ihr, nach draußen zu kommen. Als sie nicht sofort reagierte, riss er sie von ihrer Pritsche hoch und versetzte ihr einen rüden Stoß. Sie taumelte in den Flur und folgte den anderen Mädchen ins Freie. Die Kälte, die ihr entgegenschlug, raubte ihr den Atem. Der eisige Wind wirbelte Schneeflocken durch die Luft. Sie schlang die Arme um den Körper, um sich ein wenig zu schützen. Trotzdem zitterte sie so stark, dass ihre Zähne klappernd aufeinanderschlugen. Hinter dem Stall tauchte die Sonne auf. Sie stak wie ein herausgerissenes Herz am Himmel und färbte alles blutrot.

    Dass sie am frühen Morgen vor der Teppichstange im Hof Aufstellung nehmen mussten, verhieß nichts Gutes. Das war nur der Fall, wenn eines der Mädchen für ein Vergehen bestraft werden sollte. Ihre Vermutung wurde bestätigt, als der Anführer der Wächter und Diyar, der Junge aus ihrem Nachbardorf, den Hof betraten und sich neben die Stange stellten.

    Sie schaute sich um, um herauszufinden, wer fehlte. Dabei fiel ihr Blick auf Ayshe. Erst vor einer Woche hatte das zierliche Mädchen zehn Peitschenhiebe erhalten, weil sie sich geweigert hatte, Nahrung zu sich zu nehmen. Ihr Gesicht war weiß wie der Schnee, und sie wankte bedenklich. Trotzdem schien sie die Misshandlung einigermaßen glimpflich überstanden zu haben, was sie vor allem Diyar zu verdanken hatte. Er war ein guter Junge, der den Mädchen nichts Böses wollte. Auch er war nicht freiwillig auf dem Bauernhof und wartete nur auf eine Gelegenheit, um wieder von hier zu verschwinden. Das hatte er ihr anvertraut und ihr versprochen, sich um sie zu kümmern und vor Schlimmeren zu bewahren.

    Zu seinem Leidwesen war er auserkoren worden, die Bestrafung an Ayshe durchzuführen, und obwohl er so schonungsvoll wie möglich zuschlug, um sie nicht zu viel leiden zu lassen, platzte die Haut auf Ayshes Rücken nach dem fünften Schlag auf. Der Boden unter ihren Füßen färbte sich rot von ihrem Blut. Der Schmerz stand ihr ins Gesicht geschrieben, trotzdem tat sie den Männern nicht den Gefallen und winselte um Gnade, sondern ertrug stumm die Misshandlung bis zum Ende. Sehr zum Missfallen des Anführers, der Diyar wütend die Peitsche entriss und Ayshe voller Wucht zwei weitere Schläge verabreichte, ohne damit zu erreichen, was er bezweckte. Denn auch diese nahm Ayshe hin, ohne einen Schmerzenslaut von sich zu geben. Wider Erwarten sah der Mann trotz seines offensichtlichen Zorns von weiteren Schlägen ab und befahl, das Mädchen zurück in seine Zelle zu bringen.

    Ob dies dem Umstand geschuldet war, dass eine Verunstaltung Ayshes Wert gemindert hätte, wie Nerida behauptete, wusste sie nicht zu sagen. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass man sie einzig zu dem Zweck hier gefangen hielt, um sie später an den Bestbietenden zu verscherbeln. Doch warum sollte sie am Wort ihrer Freundin zweifeln? Was diese sagte, klang einleuchtend, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte.

    Aber es musste noch einen weiteren Grund geben, warum man sie hier gefangen hielt. Was das war, konnte sie nicht sagen. Sie ahnte nur, dass es mit dem mysteriösen Raum zu tun hatte, der sich im hinteren Teil der Scheune befand und dem sich zu nähern ihnen strengstens verboten war. Irgendetwas Schreckliches ging dort vor sich, das man mit allen Mitteln vor ihnen verbergen wollte.

    Trotzdem hatte Nerida recht. Ihre Jungfräulichkeit war der einzige Grund, warum man sie in Ruhe ließ und nicht über sie herfiel. Nie hätte jemand in dem Dorf, in dem sie aufgewachsen war, diese Worte öffentlich ausgesprochen. Aber Nerida war anders. Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie in Aleppo und hatte sogar eine höhere Schule besucht, bevor sie gezwungen gewesen war, mit ihrer Mutter nach Europa zu fliehen.

    Nerida!

    Sie ließ den Blick entsetzt über die Mädchen gleiten. Ihr Herzschlag setzte für einen Augenblick aus. Nerida fehlte.

    »Bitte nicht sie!«, flehte sie verzweifelt.

    Sie klammerte sich an die vage Hoffnung, dass Nerida, wie viele andere vor ihr, über Nacht weggebracht worden war. Ständig verschwanden Mädchen vom Bauernhof und wurden durch neue ersetzt. Warum nicht auch sie? In ihrem Innersten fühlte sie, dass dies nicht der tatsächliche Grund für die Abwesenheit ihrer Freundin war, sondern dass diese ihren Plan in die Tat umgesetzt hatte und dabei in die Falle gegangen war.

    »Wir müssen fliehen«, hatte Nerida sie vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft an zu überzeugen versucht, ihr Heil in einer gemeinsamen Flucht zu suchen. »Das ist die einzige Möglichkeit, dem Schicksal zu entgehen, das uns hier unweigerlich erwartet.«

    Doch sie war nicht Nerida. Ihr mangelte es am Mut und der Entschlossenheit ihrer Freundin. Das Risiko, erwischt zu werden, und die Ungewissheit, was sie außerhalb des Bauernhofs erwartete, machte ihr mehr Angst als alles, was ihr hier drohte. Und das gestand sie ihrer Freundin auch vor wenigen Tagen ein. »Dann werde ich alleine fliehen. Aber nicht um mein Leben zu retten, sondern um Hilfe für euch zu holen.«

    Hatte Nerida es wirklich gewagt? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Die Mädchen waren eingesperrt, und die Männer bewachten den Bauernhof rund um die Uhr. Eigentlich war eine Flucht aus diesem Gefängnis unmöglich.

    Ein gequältes Stöhnen ließ sie innehalten. Es kam von dem Mädchen neben ihr. Es schaute entsetzt Richtung Stall. Sie folgte dem Blick und erstarrte. Zwei Wächter schleiften Nerida auf den Hof. Sie war barfuß und trug lediglich ein dünnes zerrissenes Kleidchen. Ihr Körper war mit blutenden Schrammen übersät, die Beine blau angelaufen vor Kälte. Sie war so entkräftet, dass einer der Wächter sie stützen musste, während der andere ihre Hände an den Teppichstangen fixierte.

    Nachdem er sie festgebunden hatte, hing sie dort wie ein Schaf kurz vor dem Schächten. Der Anführer der Männer zeigte auf Nerida und spuckte vor ihr verächtlich auf den Boden. Dann begann er zu reden. Was er sagte, verstand sie nicht, weil sie die Sprache nicht beherrschte, aber sein Mienenspiel sprach ohnehin Bände. Als er geendet hatte, spuckte er ein weiteres Mal vor ihr aus und reichte Diyar einen Dolch. Verunsichert nahm der Junge ihn entgegen. Er schaute den Anführer ungläubig an und sagte etwas, worauf dieser ihn barsch zurechtwies. Langsam ging der Junge auf Nerida zu. Er nahm ihr Ohr in die Hand und setzte die Klinge des Dolches an. Als ihr bewusst wurde, was mit Nerida geschehen sollte, stieß sie einen entsetzten Schrei aus. Ihre Freundin war das schönste Mädchen auf dem Bauernhof. Wenn man sie verstümmelte, war auch ihr Tod besiegelt, denn dann hatte sie für die Männer keinen Wert mehr. Sofort war einer der Wächter bei ihr und versetzte ihr eine Ohrfeige. Diyar war leichenblass und ließ mutlos den Dolch wieder sinken. Das brachte den Anführer endgültig in Rage. Er nahm ihm das Messer ab und schubste ihn zur Seite. Mit einer schnellen Bewegung schnitt er das rechte Ohr ab. Aus der Wunde spritzte Blut in sein Gesicht und rann die Wangen herab. Triumphierend hielt er das Ohr in die Höhe und warf es vor die Mädchen in den Schnee. Wie gelähmt verfolgte sie, was weiter geschah. Der Mann packte das andere Ohr und trennte es ebenfalls vom Kopf ab. Nerida traten die Augäpfel aus den Höhlen. Der Schmerz musste unerträglich sein. Aber sie schrie ihn sich nicht aus der Seele, lediglich ein Röcheln drang aus ihrer Kehle. Wieder warf ihnen der Anführer das abgetrennte Ohr vor die Füße. Ein Wehklagen war zu hören. Aber das schien den Mann nicht zu bekümmern. Er drehte sich grinsend um, setzte den Dolch an Neridas Hals und durchtrennte ihn mit einem langsamen Schnitt. Ihre Freundin riss die Augen weit auf. Ein letztes Röcheln war zu hören. Dann klappte der Kopf nach hinten, und aus der Wunde sprudelte eine Fontäne Blut. Als der Boden vor ihr sich hellrot verfärbte, begann sich alles um sie herum zu drehen. Sie wollte sich festhalten, griff jedoch ins Leere. Plötzlich wurde es Nacht.

    1. Kontrasubjekt - 5 Wochen später

    Es war kurz nach sechs Uhr, als sie die Haustür aufsperrte und den Kinderwagen ins Freie schob. Ein bitterkalter Wind blies ihr ins Gesicht und ließ sie erschaudern. Das Wetter hatte über Nacht umgeschlagen. Noch gestern war es frühlingshaft mild gewesen, doch der Winter war zurückgekehrt. Auf den Fahrzeugen, die am Straßenrand abgestellt waren, lag eine dünne Schneeschicht. Nach wie vor tanzten Schneeflocken vom Himmel und tauchten alles in ein trübes Licht. Was hätte sie dafür gegeben, in die Wärme ihres Bettes zurückzukehren und sich auszuschlafen! Aber das Geschrei des Kindes war nicht auszuhalten. Es plärrte den ganzen Tag wie am Spieß, beruhigte sich nur, wenn es bewegt wurde. Das würde sich im Laufe der Zeit geben, hatte der Kinderarzt ihr versichert. Das mochte zutreffen, aber sie war sich nicht sicher, wie lange sie das noch ertragen konnte. Als sie festgestellt hatte, dass sie schwanger war, war ihr erster Gedanke gewesen abzutreiben. Sie fühlte sich noch nicht reif für ein Kind. Hatte andere Interessen, stand mitten im Studium, wollte Karriere machen und das Leben genießen. Doch Günter war strikt dagegen gewesen. Er hatte ihr das Blaue vom Himmel versprochen, nur um sie von diesem Entschluss abzubringen. Hatte ihr gelobt, sie auf Händen zu tragen, sich aufopferungsvoll um sie und das Kind zu kümmern und ihr jene Freiräume zu gewähren, die sie brauchte, um ihre Interessen weiter verfolgen zu können. Er hatte nicht lockergelassen, bis sie sich hatte breitschlagen lassen. Ein Fehler, wie sie sich mittlerweile eingestehen musste, denn ihr Freund hatte keines seiner Versprechen gehalten. Ganz im Gegenteil schien er es sogar darauf anzulegen, alles zu unternehmen, dass sie ihm von sich aus den Laufpass gab. Er hatte kein nettes Wort mehr für sie, ignorierte ihre Wünsche und Sorgen und machte ihr ständig Vorhaltungen, weil sie das Geschrei des Kindes nicht in den Griff bekam. Von Hilfe und Unterstützung konnte keine Rede sein. Entweder kam er gar nicht nach Hause oder erst in den frühen Morgenstunden. Oft war er so betrunken, dass er den halben Tag im Bett verbrachte und nichts Besseres zu tun hatte, als sich über ihre Unfähigkeit im Umgang mit dem Kind zu beschweren. Auf den Gedanken, sie dabei zu entlasten, kam er nie. Oder wollte er nicht kommen.

    Sie gelangte ans Ende der Oidener Straße und bog nach links auf die Raffelstettnerstraße ein. Von dort war es nicht viel mehr als fünfhundert Meter bis zum Pichlingersee. Als sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte und das freie Gelände erreichte, peitschte der eisige Wind ihr ungehindert ins Gesicht. Das Schneegestöber war plötzlich so dicht, dass sie kaum mehr die Hand vor Augen erkennen konnte. Vorsichtig tastete sie sich auf der rutschigen Fahrbahn Richtung See. Kurz überlegte sie, ob sie umdrehen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Was sie jetzt brauchte, war Ruhe. Ruhe, um mit sich ins Reine zu kommen, ob der Entschluss, den sie gefasst hatte, richtig war. Der Weg rund um den See eignete sich hervorragend zum Nachdenken, um diese Zeit würde sie dort keine Menschenseele antreffen.

    Nach wenigen Minuten erreichte sie die Zufahrt zum See. Sie ging bis zu Gabriellas Trattoria und bog auf den Spazierweg am Ufer ab. Mittlerweile war das Kind eingeschlafen. Das Wasser plätscherte beruhigend im Wind. Ansonsten herrschte vollkommene Stille. Bedächtig schob sie den Kinderwagen vor sich her. Eigentlich stand ihr Entschluss fest. Sie würde sich von ihrem Freund trennen. Sie hatte das Leben an seiner Seite satt. Lieber würde sie das Kind alleine großziehen und alle Entbehrungen, die diese Entscheidung mit sich brachte, in Kauf nehmen, als sich weiter von ihm demütigen zu lassen. Leicht fiel ihr dieser Schritt nicht, die Angst überwog, ob sie ein Leben alleine mit dem Kind überhaupt bewältigen konnte. Aber wenn sie sich nicht dazu aufraffte, würde sie, dessen war sie gewiss, allmählich vor die Hunde gehen.

    Sie war so in Gedanken versunken, dass sie das Hindernis auf dem Weg erst bemerkte, als sie nur noch wenige Meter davon entfernt war. Allerdings war die Sicht so schlecht, dass sie nicht erkennen konnte, worum es sich dabei handelte. Ihre erste Eingebung, dass dort ein Körper lag, wischte sie beiseite, weil sie das für unmöglich erachtete. Sie schaute sich hilfesuchend um, obwohl sie wusste, dass niemand in der Nähe war. Schon war sie versucht, den Rückweg anzutreten, gab sich jedoch einen Ruck und ging langsam auf das Hindernis zu. Tatsächlich! Dort lag ein Körper quer über dem Weg. Ein Mädchenkörper. Nackt. Den Rücken ihr zugewandt. Mit einer dünnen Schicht Schnee bedeckt. Sie erstarrte vor Schreck. Hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Wollte sich davonmachen. Brachte es nicht über sich. Musste Hilfe leisten. Sie schob den Kinderwagen zur Seite, fixierte die Bremsen und ging zögernd näher. Blieb kurz stehen. Beugte sich schließlich nach vorne. Erblickte, was sie nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte, und schrie wie von Sinnen.

    Ein Jahr später

    1

    Gruber knallte den Aktenordner auf ihren Schreibtisch und verließ wütend die Abstellkammer.

    Wendt schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

    »War das wirklich nötig? Erst vor ein paar Minuten haben Sie beteuert, Gruber nicht mehr verärgern zu wollen, damit wir unsere Arbeit störungsfrei erledigen können. Und dann das!«

    Frieda Bach wusste selbst, dass es ein Fehler gewesen war, Gruber zu beleidigen. Aber sie konnte dessen Selbstgefälligkeit einfach nicht ertragen. Trotzdem hatte Wendt nicht das Recht, ihr vorzuschreiben, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Sie arbeitete erst seit drei Wochen mit ihm zusammen. Nicht freiwillig, sondern nur, weil Liebermann ihr angedroht hatte, sie wieder auf Streife zu schicken, sollte sie ihn nicht als Assistenten akzeptieren. Wendt war ein notorischer Besserwisser, den niemand in seiner Abteilung dulden wollte. Binnen Kurzem hatte er es sich mit allen anderen Kollegen verscherzt. Dass Liebermann ihm nicht die Tür wies, hatte nur einen Grund. Wendts Vater war ein hoher Beamter im Innenministerium, mit dem Liebermann es sich nicht verscherzen wollte. Um Wendt nicht zu brüskieren und um ihm das Gefühl zu geben, eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, war zum Schein eine Abteilung zur Aufarbeitung ungelöster Fälle gegründet worden, der Frieda Bach vorstand. Dass es ihnen beiden gelungen war, in kurzer Zeit eine spektakuläre Mordserie aufzuklären, war sicher nicht geplant gewesen und wäre von Gruber mit allen Mitteln verhindert worden, hätte er auch nur ansatzweise geahnt, dass ihre Ermittlungen von Erfolg gekrönt würden.

    Frieda konnte nicht verhehlen, dass die Zusammenarbeit mit Wendt nach anfänglichen Schwierigkeiten durchaus positiv verlaufen war. Außerdem rettete er ihr bei ihrem letzten Fall das Leben. Trotzdem konnte sie ihm nicht durchgehen lassen, ihre Entscheidungen zu kritisieren. Sie war seine Vorgesetzte und erteilte ihm Anweisungen und nicht umgekehrt.

    »Mag sein, dass mein Verhalten nicht klug war, aber wenn jeder Gruber in den Arsch kriecht, egal, welchen Mist er gebaut hat, nur um es sich nicht mit ihm zu verscherzen, wundert es mich nicht, wenn er sich das Recht herausnimmt, zu schalten und zu walten, wie er will.«

    Wendt schien den Vorwurf auf sich zu beziehen und verzog beleidigt das Gesicht.

    »Das war natürlich nicht auf dich gemünzt«, lenkte sie ein. »Trotzdem bin ich überrascht, wie schnell dein Ärger darüber verraucht ist, dass Gruber die Lorbeeren für die Lösung des Falls eingeheimst hat, obwohl dies ausschließlich unser Verdienst war. Wenn ich mich recht erinnere, wolltest du sogar deinen Vater einschalten, um zu verhindern, dass der Innenminister Gruber mit einem Orden für seine hervorragende Polizeiarbeit auszeichnet.« Verständnislos schüttelte sie den Kopf. »Vielleicht war es ein Fehler, Gruber zu verärgern, weil dadurch unsere Arbeit sicher nicht leichter wird, aber ich habe es einfach nicht ertragen, dass Blanks Tod ihn überhaupt nicht zu bekümmern scheint und er die Schuld dafür anderen in die Schuhe schieben will. Ich habe dir schon mehrmals gesagt, dass Gruber für mich ein rotes Tuch ist. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Wenn du damit nicht leben kannst, musst du dir eine andere Vorgesetzte suchen.«

    Wendt warf ihr einen bestürzten Blick zu.

    »Das will ich auf keinen Fall«, gab er kleinlaut zu.

    »Davon bin ich auch nicht ausgegangen. Dann schauen wir einmal, welchen Fall der verehrte Herr Gruppeninspektor für uns ausgesucht hat.«

    »Unbedingt! Ich freue mich schon, das nächste Verbrechen gemeinsam mit Ihnen zu lösen«, erwiderte Wendt aufgeregt.

    Ehrlich gestanden, konnte sie seinen Enthusiasmus nicht teilen. Sie war sich sicher, dass Gruber dieses Mal mehr Sorgfalt bei der Auswahl des Falles hatte walten lassen, um zu verhindern, dass sie wieder reüssierten. Denn mit jedem Erfolg, den sie verbuchten, nahm seine Reputation Schaden, und das musste ihm ein Gräuel sein. Den Fehler, ihnen einen Fall zu überlassen, der leicht zu lösen war, beging er sicher kein zweites Mal. Immerhin war ihre Abteilung nur eingerichtet worden, um Wendt das Gefühl zu geben, einer sinnvollen und wichtigen Beschäftigung nachzugehen. Davon hatte dieser nach wie vor keine Ahnung. So wartete er auch jetzt ungeduldig darauf, dass sie den Ordner öffnete.

    Auf der ersten Seite befand sich ein Foto. Es zeigte einen alten Mann und ein etwa zwölfjähriges Mädchen. Sie schienen friedlich nebeneinander zu schlafen. Doch zwei Dinge störten die Harmonie. Zum einen war das die haselnussbraune Hautfarbe des Mädchens, die sich deutlich vom weißen Teint des Mannes abhob. Und zum anderen das kreisrunde Einschussloch, das jeweils auf der Stirn der beiden Personen zu erkennen war.

    Frieda Bach prägte sich alle Details ein, die auf dem Bild zu erkennen waren, ehe sie zur nächsten Seite blätterte, auf der Informationen zum Tatort, zur Tatzeit und zur Identität der Opfer zusammengefasst waren.

    Bei dem Toten handelte es sich um den Besitzer des Hauses, in dem die Morde verübt worden waren. Sein Name war Ewald Meixner. Er war zum Todeszeitpunkt, das war ziemlich genau vor einem Jahr, fünfundsiebzig Jahre alt gewesen und hatte dort nach dem Tod seiner Frau zwei Jahren zuvor allein gelebt. Vor seiner Pensionierung war er Lehrer in einem Linzer Gymnasium gewesen.

    Die Identität des Mädchens war unbekannt.

    Obwohl es sich nachweislich mindestens zwanzig Tage in Meixners Haus aufgehalten haben dürfte, hatten weder Meixners Tochter noch die Nachbarn oder andere Personen aus dem Umfeld des Toten Kenntnis von ihrer Existenz gehabt.

    Die beiden waren am siebzehnten März vergangenen Jahres aus nächster Nähe im Wohnzimmer des Hauses in der Höllmühlstraße erschossen worden. Weder im Haus noch auf dem dazugehörigen Grundstück konnten Spuren einer dritten Person sichergestellt werden.

    Aufgefunden wurden die Leichen vier Tage nach Eintritt des Todes von einem Nachbarn, der auf Veranlassung von Meixners Tochter im Haus Nachschau hielt.

    Wendt gab einen missbilligenden Laut von sich, nachdem er die Zusammenfassung gelesen hatte.

    »Nicht schon wieder!«, brummte er entnervt.

    »Was willst du damit sagen?«, erkundigte Frieda sich, obwohl sie ahnte, worauf er anspielte.

    »Das liegt doch auf der Hand. Offensichtlich handelt es sich hier schon wieder um einen Fall von Kindesmissbrauch. Warum sollte sonst ein kleines Mädchen bei einem Mann leben, der ihr Großvater sein könnte, und dieser ihre Existenz vor den Nachbarn und sogar den nächsten Angehörigen verheimlichen? Doch nur, weil er etwas verbergen will, von dem die anderen nichts erfahren sollen.«

    »Das war auch mein erster Gedanke. Aber bevor wir voreilige Schlüsse ziehen, sollten wir genaue Kenntnis davon haben, was die Kollegen sonst noch herausgefunden haben.«

    Sie reichte ihm den Aktenordner.

    »Du verschaffst dir jetzt einen Überblick über die Ermittlungsergebnisse und berichtest mir anschließend das Wichtigste. Ich werde in der Zwischenzeit über ein Detail nachdenken, das mir bei der Durchsicht der ersten Seite aufgefallen ist.«

    Wendt nickte ihr ehrfürchtig zu und ging auf Zehenspitzen zu seinem Platz zurück, um sie nicht beim Nachdenken zu stören. Sein Gehabe wirkte so übertrieben, dass sie beinahe laut aufgelacht hätte.

    Natürlich hatte Wendt mit seiner ersten Einschätzung recht. Alles an diesem Fall wies in Richtung Kindesmissbrauch. Stellte sich nur die Frage, warum Gruber ihnen schon wieder einen Akt zugeschanzt hatte, der mit diesem leidigen Thema zu tun hatte? Machte er das absichtlich, um sie zu zermürben? Er wusste genau, dass kein Ermittler sich gerne mit dieser Art Verbrechen auseinandersetzte. Jede Gewalttat war abscheulich, aber meistens gelang es, die nötige Distanz zu wahren, um die Ermittlungen unbeschadet zu überstehen. Bei Verbrechen, in denen Kinder die Opfer waren, war das schier unmöglich. Sie kannte keinen Kollegen, den so etwas kaltließ.

    Sie war Realistin genug, um zu wissen, dass auch Österreich in dieser Hinsicht keine Insel der Seligen war. Das hatte jedoch nichts mit den Übergriffen von Personen ausländischer Herkunft gegen Kinder und Jugendliche zu tun, die in letzter Zeit die Titelseiten der Medien beherrschten. Diese Vorfälle waren bedauerlich genug, aber im besten Fall eine Kommastelle hinter der Null im Vergleich zu den Vergehen, mit denen ihre Kollegen tatsächlich konfrontiert waren. Der überwiegende Teil der Täter stammte aus gutem Haus oder stand in einem nahen verwandtschaftlichen Verhältnis zum Opfer. Fast immer waren es Personen, die in Österreich beheimatet waren und denen man so etwas nie zugetraut hätte, weil es sich bei ihnen um verdiente Mitglieder der Gesellschaft handelte.

    Oder aber der Missbrauch war institutionalisiert und wurde in großem Stil von staatlichen oder kirchlichen Stellen geduldet, wenn nicht sogar gefördert.

    Was ritt also Gruber, sie schon wieder mit einem offensichtlichen Missbrauchsfall zu betrauen? Wollte er sie absichtlich demoralisieren, bis sie entnervt das Handtuch warfen? So, wie sie ihn kannte, war ihm das durchaus zuzutrauen.

    Oder verfolgte er einen anderen Zweck damit? Hatte es etwas mit der Aussage des Innenministers zu tun, der diese schwärende Wunde endlich getilgt sehen wollte?

    Vielleicht waren auch dieses Mal wieder hochgestellte Persönlichkeiten in dieses Verbrechen verwickelt, und Gruber hoffte, dass sie bei den Ermittlungen an ihre Grenzen stießen oder, besser noch, sich dabei um Kopf und Kragen brachten.

    Immer vorausgesetzt, dass es sich bei dem Fall nicht nur um eine Beschäftigungstherapie für Wendt handelte, um ihn bei guter Laune zu halten.

    Sie merkte, dass ihre Gedanken sich im Kreis zu drehen begannen. Das alles war bloße Spekulation und führte zu nichts, solange sie keine Beweise für ihre Theorie hatte. Und an diese Beweise würde sie nie gelangen. Auch das war ihr bewusst. Die einzige Möglichkeit herauszufinden, was es mit diesem Fall tatsächlich auf sich hatte, war, Liebermann aufzusuchen und ihn danach zu fragen. So, wie sie ihn einschätzte, würde er ihr die Wahrheit nicht vorenthalten. Falls er überhaupt eingeweiht war. Nicht umsonst hatte er sie vor Kurzem darauf hingewiesen, dass seine Befugnisse mittlerweile sehr eingeschränkt waren und Gruber längst sein eigenes Süppchen kochte.

    Ein Räuspern holte sie in die Wirklichkeit zurück.

    Wendt schaute sie erwartungsvoll an.

    »Darf man erfahren, ob Ihnen eingefallen ist, was Sie vorher beim Lesen des Akts irritiert hat?«

    »Ich fürchte, ich habe mich getäuscht«, log sie, weil sie ihn nicht mit ihren Befürchtungen verunsichern wollte. »Dafür hoffe ich, von dir etwas zu erfahren, was es sich weiterzuverfolgen lohnt.«

    Wendt verzog missmutig das Gesicht.

    »Leider muss auch ich Sie enttäuschen. Hierbei«, er klopfte demonstrativ auf den Ordner, »handelt es sich um eine äußerst dünne Suppe. Entweder gibt es wirklich keine Anhaltspunkte, die uns weiterhelfen können, oder man hält uns wieder einmal zum Narren.«

    Frieda Bach wusste genau, was Wendt damit zum Ausdruck bringen wollte. Bei ihrem letzten Fall waren Teile der Ermittlungsprotokolle aus Staatsinteresse entfernt und zur Verschlusssache erklärt worden, was ihre Arbeit erheblich erschwert hatte.

    »Oder unsere Kollegen haben wie beim letzten Mal wieder äußerst nachlässig recherchiert. Auch etwas, womit wir damals nicht gerechnet haben. Ich werde Chefinspektor Liebermann diesbezüglich befragen, damit wir wissen, woran wir sind. Trotzdem bitte ich dich zusammenzufassen, was dir beim Lesen aufgefallen ist.«

    »Selbstverständlich. Also, wie schon erwähnt, liefert der Rest des Protokolls kaum neue Fakten. Die Tötung erfolgte im Wohnzimmer des Hauses. Bei der Tatwaffe handelt es sich um eine kleinkalibrige Pistole. Die Schüsse wurden aus nächster Nähe abgegeben. Medizinalrat Sedlacek, der die Leichname untersucht hat, spricht sogar von einer Hinrichtung. Der Tod ist mit sofortiger Wirkung eingetreten. Die Opfer haben sich anscheinend nicht zur Wehr gesetzt. Zumindest gibt es keine Verletzungen, die auf einen Kampf schließen lassen.«

    »Ist im Akt vermerkt, wann die Totenbeschau durchgeführt wurde?«

    Wendt blätterte den Ordner durch, bis er den entsprechenden Eintrag entdeckte.

    »Um zehn Uhr vormittags. Warum wollen Sie das wissen?«

    »Weil um diese Zeit die Chance hoch ist, dass unser Herr Medizinalrat noch so nüchtern war, dass man seinem Befund Glauben schenken kann.«

    Wendt riss empört die Augen auf, was Frieda nicht verwunderte, trug er doch einen unerschütterlichen Glauben an Autoritäten in sich und war ihm jedwede Form der Illoyalität ein Gräuel. Aber selbst ihm konnte in dem halben Jahr, in dem er hier seinen Dienst versah, nicht entgangen sein, dass der Gerichtsmediziner ab Mittag meistens so betrunken war, dass er sich nicht mehr imstande sah, einen Tatort aufzusuchen. Die wenigen Male, die er es dennoch getan hatte, waren regelmäßig in einem Fiasko geendet. Legendär war seine Fehleinschätzung bei einem Ertrunkenen, dessen vom Wasser aufgeblasenen Unterleib er als Schwangerschaft diagnostiziert hatte, obwohl es sich bei dem Toten klar erkennbar um einen Mann gehandelt hatte.

    »Nun hab dich nicht so! Dass Sedlacek oft zu tief in die Flasche schaut, weiß doch jedes Kind. Sollte dir das bislang trotzdem verborgen geblieben sein, bist du nun um eine Erkenntnis reicher. Allerdings ersuche ich dich, später darüber nachzudenken und jetzt mit deinem Bericht fortzufahren.«

    Wendt warf ihr einen beleidigten Blick zu.

    »Ich interessiere mich eben nicht für diesen Tratsch«, rechtfertigte er sich. »Mir geht es ausschließlich um Fakten.«

    »Schön für dich! Dann lass hören!«

    »Nichts weist auf einen Einbruch hin. Das legt den Schluss nahe, dass Meixner dem Täter selbst die Tür geöffnet hat. Das würde auch erklären, warum die Opfer sich nicht zur Wehr gesetzt haben. Ich würde sogar behaupten, dass Meixner den Mörder gut gekannt hat.«

    »Wie kommst du darauf? Bist du unter die Hellseher gegangen?«

    »Das nicht. Aber ich bin in der Lage, zwei und zwei zusammenzuzählen. Im Gegensatz zu anderen Personen.«

    Frieda Bach riss verblüfft die Augenbrauen in die Höhe. Das waren genau die Überheblichkeit und Arroganz, die ihre Kollegen so auf die Palme brachten. Kein Wunder, wenn sie sich weigerten, mit Wendt zusammenzuarbeiten. Im ersten Moment wollte sie ihn zurechtweisen, aber sie verzichtete darauf, weil ihr bewusst war, dass sie ihn zu dieser Aussage provoziert hatte.

    »Jetzt bin ich aber gespannt, welche Erklärung du dafür auf Lager hast.«

    »Nun, wir wissen, dass Meixner alles unternommen hat, um die Anwesenheit des Mädchens vor anderen Personen geheim zu halten. Nicht einmal seiner eigenen Tochter hat er etwas davon erzählt. Deshalb wird er kaum einen Fremden ins Haus bitten, wenn das Mädchen anwesend ist, sondern nur jemanden, dem er zutiefst vertraut oder der ohnehin davon Kenntnis hat. Das widerspricht zwar der Theorie der ermittelnden Beamten, dass es sich um Ehrenmord handeln könnte, aber der Umstand …«

    »Ehrenmord?«, unterbrach Frieda Bach ihn. »Was soll das schon wieder bedeuten?«

    »Das kann ich Ihnen erklären«, begann Wendt zu erläutern. »Laut Wikipedia bezeichnet der Begriff Ehrenmord die Tötung bzw. Ermordung eines in der Regel weiblichen Mitglieds aus der Familie des Täters als Strafe für eine vermutete Verletzung der familieninternen Verhaltensregeln durch das Opfer. Der Mord soll die vermeintliche Schande bzw. die drohende oder bereits zugefügte gesellschaftliche Herabsetzung des Täters bzw. seiner Familie abwenden und dem Umfeld signalisieren, dass die ›Ehrbarkeit‹ wiederhergestellt wurde. Derart motivierte Morde sind in archaischen, von Stammestraditionen bestimmten Gesellschaften im Nahen und Mittleren Osten am häufigsten zu finden.«

    Sie hob die Hand und brachte ihn

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