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Thriller Sammelband: Bachpassion und Bachfuge
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Thriller Sammelband: Bachpassion und Bachfuge
eBook736 Seiten10 Stunden

Thriller Sammelband: Bachpassion und Bachfuge

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Über dieses E-Book

Die ersten beiden Bände der Bach-Trilogie in einem exklusiven Sammelband: Doppelte Spannung ist garantiert!

Bachfuge
Gruppeninspektor Gruber betraut Frieda Bach und Ronald Wendt mit einem neuen Cold Case. Vor einem Jahr wurden ein ausländisches Mädchen und der pensionierte Lehrer Ewald Meixner tot in dessen Haus in Linz-Urfahr regelrecht hingerichtet. Niemand wusste von der Existenz des Mädchens, Meixner hatte ihre Anwesenheit mehrere Wochen geheim gehalten. Alles deutet auf Menschenhandel und Kindesmissbrauch hin.
Kurz nachdem Frieda und Wendt die Ermittlungen aufgenommen haben, ereignet sich ein neuerlicher Mord in der Nähe von Linz. Dabei handelt es sich um eine Mordserie, die ungefähr zur selben Zeit wie der Doppelmord ihren Anfang nahm, aber nach drei Opfern plötzlich wieder endete. Die Opfer sind ausländische Mädchen, denen die Zahl 88 in die Stirn geritzt wird, was auf einen fremdenfeindlichen Hintergrund hinweist.
Bei ihren Ermittlungen legt sich Frieda mit Waldner - dem Flüchtlingsbeauftragten des Bundes für Oberösterreich - an, weil dieser die Zusammenarbeit verweigert. Gruber ist außer sich und droht ihr, sie ins Archiv versetzen zu lassen, wenn sie sich nicht bei Waldner entschuldigt. Erst später erfährt sie, dass dieser und ihr Vorgesetzter der gleichen Burschenschaft angehören und Parteifreunde sind. Allen Widrigkeiten zum Trotz ermittelt sie weiter.

Bachpassion
Vor Jahren ist Gruppeninspektorin Frieda Bach bei einem Fall ein fataler Fehler unterlaufen, der einem Jugendlichen das Leben gekostet hat. Sie wurde suspendiert und anschließend in eine Abstellkammer verbannt, wo sie nichts anderes zu tun hat, als die Akten und Protokolle ihrer Kollegen auf Fehler zu überprüfen. Doch eines Tages zitiert sie ihr Chef zu sich. Sie soll eine neue Abteilung leiten, die sich mit der Aufarbeitung alter Fälle beschäftigt. Zu ihrem Leidwesen ist Gruppeninspektor Gruber für sie zuständig. Er war es, der damals ihren Fehler gemeldet hat, um ihren Posten zu bekommen. Bei dem ersten Fall, mit dem Gruber sie betraut, handelt es sich um einen grausamen Ritualmord, der vor einem Jahr ganz in der Nähe der Bundespolizeidirektion verübt worden ist. In Ermangelung von verwertbaren Spuren oder Zeugen wurde der Fall zu den Akten gelegt. Im Zuge der Ermittlungen findet Bach heraus, dass sich zwei der Opfer gekannt haben. Beide waren im Stift Wolterskirchen als Erzieher tätig. Heimlich macht sie sich in den Ort auf, der von den Medien den aussagekräftigen Namen „Folterskirchen“ erhalten hat. Als sich kurz darauf ein Verdächtiger erhängt, ist der Fall gelöst. Aber Frieda Bach kann sich des Gefühls nicht erwehren, etwas übersehen zu haben. Was sie nicht ahnt, ist, dass der Serienmörder sie längst als nächstes Opfer auserkoren hat.

SpracheDeutsch
HerausgeberFederfrei Verlag
Erscheinungsdatum11. Apr. 2019
ISBN9783990740637
Thriller Sammelband: Bachpassion und Bachfuge

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    Buchvorschau

    Thriller Sammelband - Ernst Schmid

    2

    Bachfuge

    Die Fuge (von lateinisch fuga »Flucht«) ist ein musikalisches Kompositionsprinzip polyphoner Mehrstimmigkeit. Ein musikalisches Thema wird in verschiedenen Stimmen zeitlich versetzt wiederholt, wobei es jeweils auf unterschiedlichen Tonhöhen einsetzt.

    Bringt die erste Stimme während des zweiten Themeneinsatzes motivisch oder thematisch bedeutsames Material, das später wieder aufgegriffen wird (in manchen Fällen sogar als neues Thema), so spricht man von einem Kontrasubjekt.

    (aus: de.wikipedia.org)

    Präludium

    Die Tür zu ihrer Zelle wurde aufgerissen. Schlaftrunken richtete sie sich auf und starrte zum Eingang. Dort stand einer der Wächter und bedeutete ihr, nach draußen zu kommen. Als sie nicht sofort reagierte, riss er sie von ihrer Pritsche hoch und versetzte ihr einen rüden Stoß. Sie taumelte in den Flur und folgte den anderen Mädchen ins Freie. Die Kälte, die ihr entgegenschlug, raubte ihr den Atem. Der eisige Wind wirbelte Schneeflocken durch die Luft. Sie schlang die Arme um den Körper, um sich ein wenig zu schützen. Trotzdem zitterte sie so stark, dass ihre Zähne klappernd aufeinanderschlugen. Hinter dem Stall tauchte die Sonne auf. Sie stak wie ein herausgerissenes Herz am Himmel und färbte alles blutrot.

    Dass sie am frühen Morgen vor der Teppichstange im Hof Aufstellung nehmen mussten, verhieß nichts Gutes. Das war nur der Fall, wenn eines der Mädchen für ein Vergehen bestraft werden sollte. Ihre Vermutung wurde bestätigt, als der Anführer der Wächter und Diyar, der Junge aus ihrem Nachbardorf, den Hof betraten und sich neben die Stange stellten.

    Sie schaute sich um, um herauszufinden, wer fehlte. Dabei fiel ihr Blick auf Ayshe. Erst vor einer Woche hatte das zierliche Mädchen zehn Peitschenhiebe erhalten, weil sie sich geweigert hatte, Nahrung zu sich zu nehmen. Ihr Gesicht war weiß wie der Schnee, und sie wankte bedenklich. Trotzdem schien sie die Misshandlung einigermaßen glimpflich überstanden zu haben, was sie vor allem Diyar zu verdanken hatte. Er war ein guter Junge, der den Mädchen nichts Böses wollte. Auch er war nicht freiwillig auf dem Bauernhof und wartete nur auf eine Gelegenheit, um wieder von hier zu verschwinden. Das hatte er ihr anvertraut und ihr versprochen, sich um sie zu kümmern und vor Schlimmeren zu bewahren.

    Zu seinem Leidwesen war er auserkoren worden, die Bestrafung an Ayshe durchzuführen, und obwohl er so schonungsvoll wie möglich zuschlug, um sie nicht zu viel leiden zu lassen, platzte die Haut auf Ayshes Rücken nach dem fünften Schlag auf. Der Boden unter ihren Füßen färbte sich rot von ihrem Blut. Der Schmerz stand ihr ins Gesicht geschrieben, trotzdem tat sie den Männern nicht den Gefallen und winselte um Gnade, sondern ertrug stumm die Misshandlung bis zum Ende. Sehr zum Missfallen des Anführers, der Diyar wütend die Peitsche entriss und Ayshe voller Wucht zwei weitere Schläge verabreichte, ohne damit zu erreichen, was er bezweckte. Denn auch diese nahm Ayshe hin, ohne einen Schmerzenslaut von sich zu geben. Wider Erwarten sah der Mann trotz seines offensichtlichen Zorns von weiteren Schlägen ab und befahl, das Mädchen zurück in seine Zelle zu bringen.

    Ob dies dem Umstand geschuldet war, dass eine Verunstaltung Ayshes Wert gemindert hätte, wie Nerida behauptete, wusste sie nicht zu sagen. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass man sie einzig zu dem Zweck hier gefangen hielt, um sie später an den Bestbietenden zu verscherbeln. Doch warum sollte sie am Wort ihrer Freundin zweifeln? Was diese sagte, klang einleuchtend, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte.

    Aber es musste noch einen weiteren Grund geben, warum man sie hier gefangen hielt. Was das war, konnte sie nicht sagen. Sie ahnte nur, dass es mit dem mysteriösen Raum zu tun hatte, der sich im hinteren Teil der Scheune befand und dem sich zu nähern ihnen strengstens verboten war. Irgendetwas Schreckliches ging dort vor sich, das man mit allen Mitteln vor ihnen verbergen wollte.

    Trotzdem hatte Nerida recht. Ihre Jungfräulichkeit war der einzige Grund, warum man sie in Ruhe ließ und nicht über sie herfiel. Nie hätte jemand in dem Dorf, in dem sie aufgewachsen war, diese Worte öffentlich ausgesprochen. Aber Nerida war anders. Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie in Aleppo und hatte sogar eine höhere Schule besucht, bevor sie gezwungen gewesen war, mit ihrer Mutter nach Europa zu fliehen.

    Nerida!

    Sie ließ den Blick entsetzt über die Mädchen gleiten. Ihr Herzschlag setzte für einen Augenblick aus. Nerida fehlte.

    »Bitte nicht sie!«, flehte sie verzweifelt.

    Sie klammerte sich an die vage Hoffnung, dass Nerida, wie viele andere vor ihr, über Nacht weggebracht worden war. Ständig verschwanden Mädchen vom Bauernhof und wurden durch neue ersetzt. Warum nicht auch sie? In ihrem Innersten fühlte sie, dass dies nicht der tatsächliche Grund für die Abwesenheit ihrer Freundin war, sondern dass diese ihren Plan in die Tat umgesetzt hatte und dabei in die Falle gegangen war.

    »Wir müssen fliehen«, hatte Nerida sie vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft an zu überzeugen versucht, ihr Heil in einer gemeinsamen Flucht zu suchen. »Das ist die einzige Möglichkeit, dem Schicksal zu entgehen, das uns hier unweigerlich erwartet.«

    Doch sie war nicht Nerida. Ihr mangelte es am Mut und der Entschlossenheit ihrer Freundin. Das Risiko, erwischt zu werden, und die Ungewissheit, was sie außerhalb des Bauernhofs erwartete, machte ihr mehr Angst als alles, was ihr hier drohte. Und das gestand sie ihrer Freundin auch vor wenigen Tagen ein. »Dann werde ich alleine fliehen. Aber nicht um mein Leben zu retten, sondern um Hilfe für euch zu holen.«

    Hatte Nerida es wirklich gewagt? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Die Mädchen waren eingesperrt, und die Männer bewachten den Bauernhof rund um die Uhr. Eigentlich war eine Flucht aus diesem Gefängnis unmöglich.

    Ein gequältes Stöhnen ließ sie innehalten. Es kam von dem Mädchen neben ihr. Es schaute entsetzt Richtung Stall. Sie folgte dem Blick und erstarrte. Zwei Wächter schleiften Nerida auf den Hof. Sie war barfuß und trug lediglich ein dünnes zerrissenes Kleidchen. Ihr Körper war mit blutenden Schrammen übersät, die Beine blau angelaufen vor Kälte. Sie war so entkräftet, dass einer der Wächter sie stützen musste, während der andere ihre Hände an den Teppichstangen fixierte.

    Nachdem er sie festgebunden hatte, hing sie dort wie ein Schaf kurz vor dem Schächten. Der Anführer der Männer zeigte auf Nerida und spuckte vor ihr verächtlich auf den Boden. Dann begann er zu reden. Was er sagte, verstand sie nicht, weil sie die Sprache nicht beherrschte, aber sein Mienenspiel sprach ohnehin Bände. Als er geendet hatte, spuckte er ein weiteres Mal vor ihr aus und reichte Diyar einen Dolch. Verunsichert nahm der Junge ihn entgegen. Er schaute den Anführer ungläubig an und sagte etwas, worauf dieser ihn barsch zurechtwies. Langsam ging der Junge auf Nerida zu. Er nahm ihr Ohr in die Hand und setzte die Klinge des Dolches an. Als ihr bewusst wurde, was mit Nerida geschehen sollte, stieß sie einen entsetzten Schrei aus. Ihre Freundin war das schönste Mädchen auf dem Bauernhof. Wenn man sie verstümmelte, war auch ihr Tod besiegelt, denn dann hatte sie für die Männer keinen Wert mehr. Sofort war einer der Wächter bei ihr und versetzte ihr eine Ohrfeige. Diyar war leichenblass und ließ mutlos den Dolch wieder sinken. Das brachte den Anführer endgültig in Rage. Er nahm ihm das Messer ab und schubste ihn zur Seite. Mit einer schnellen Bewegung schnitt er das rechte Ohr ab. Aus der Wunde spritzte Blut in sein Gesicht und rann die Wangen herab. Triumphierend hielt er das Ohr in die Höhe und warf es vor die Mädchen in den Schnee. Wie gelähmt verfolgte sie, was weiter geschah. Der Mann packte das andere Ohr und trennte es ebenfalls vom Kopf ab. Nerida traten die Augäpfel aus den Höhlen. Der Schmerz musste unerträglich sein. Aber sie schrie ihn sich nicht aus der Seele, lediglich ein Röcheln drang aus ihrer Kehle. Wieder warf ihnen der Anführer das abgetrennte Ohr vor die Füße. Ein Wehklagen war zu hören. Aber das schien den Mann nicht zu bekümmern. Er drehte sich grinsend um, setzte den Dolch an Neridas Hals und durchtrennte ihn mit einem langsamen Schnitt. Ihre Freundin riss die Augen weit auf. Ein letztes Röcheln war zu hören. Dann klappte der Kopf nach hinten, und aus der Wunde sprudelte eine Fontäne Blut. Als der Boden vor ihr sich hellrot verfärbte, begann sich alles um sie herum zu drehen. Sie wollte sich festhalten, griff jedoch ins Leere. Plötzlich wurde es Nacht.

    1. Kontrasubjekt - 5 Wochen später

    Es war kurz nach sechs Uhr, als sie die Haustür aufsperrte und den Kinderwagen ins Freie schob. Ein bitterkalter Wind blies ihr ins Gesicht und ließ sie erschaudern. Das Wetter hatte über Nacht umgeschlagen. Noch gestern war es frühlingshaft mild gewesen, doch der Winter war zurückgekehrt. Auf den Fahrzeugen, die am Straßenrand abgestellt waren, lag eine dünne Schneeschicht. Nach wie vor tanzten Schneeflocken vom Himmel und tauchten alles in ein trübes Licht. Was hätte sie dafür gegeben, in die Wärme ihres Bettes zurückzukehren und sich auszuschlafen! Aber das Geschrei des Kindes war nicht auszuhalten. Es plärrte den ganzen Tag wie am Spieß, beruhigte sich nur, wenn es bewegt wurde. Das würde sich im Laufe der Zeit geben, hatte der Kinderarzt ihr versichert. Das mochte zutreffen, aber sie war sich nicht sicher, wie lange sie das noch ertragen konnte. Als sie festgestellt hatte, dass sie schwanger war, war ihr erster Gedanke gewesen abzutreiben. Sie fühlte sich noch nicht reif für ein Kind. Hatte andere Interessen, stand mitten im Studium, wollte Karriere machen und das Leben genießen. Doch Günter war strikt dagegen gewesen. Er hatte ihr das Blaue vom Himmel versprochen, nur um sie von diesem Entschluss abzubringen. Hatte ihr gelobt, sie auf Händen zu tragen, sich aufopferungsvoll um sie und das Kind zu kümmern und ihr jene Freiräume zu gewähren, die sie brauchte, um ihre Interessen weiter verfolgen zu können. Er hatte nicht lockergelassen, bis sie sich hatte breitschlagen lassen. Ein Fehler, wie sie sich mittlerweile eingestehen musste, denn ihr Freund hatte keines seiner Versprechen gehalten. Ganz im Gegenteil schien er es sogar darauf anzulegen, alles zu unternehmen, dass sie ihm von sich aus den Laufpass gab. Er hatte kein nettes Wort mehr für sie, ignorierte ihre Wünsche und Sorgen und machte ihr ständig Vorhaltungen, weil sie das Geschrei des Kindes nicht in den Griff bekam. Von Hilfe und Unterstützung konnte keine Rede sein. Entweder kam er gar nicht nach Hause oder erst in den frühen Morgenstunden. Oft war er so betrunken, dass er den halben Tag im Bett verbrachte und nichts Besseres zu tun hatte, als sich über ihre Unfähigkeit im Umgang mit dem Kind zu beschweren. Auf den Gedanken, sie dabei zu entlasten, kam er nie. Oder wollte er nicht kommen.

    Sie gelangte ans Ende der Oidener Straße und bog nach links auf die Raffelstettnerstraße ein. Von dort war es nicht viel mehr als fünfhundert Meter bis zum Pichlingersee. Als sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte und das freie Gelände erreichte, peitschte der eisige Wind ihr ungehindert ins Gesicht. Das Schneegestöber war plötzlich so dicht, dass sie kaum mehr die Hand vor Augen erkennen konnte. Vorsichtig tastete sie sich auf der rutschigen Fahrbahn Richtung See. Kurz überlegte sie, ob sie umdrehen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Was sie jetzt brauchte, war Ruhe. Ruhe, um mit sich ins Reine zu kommen, ob der Entschluss, den sie gefasst hatte, richtig war. Der Weg rund um den See eignete sich hervorragend zum Nachdenken, um diese Zeit würde sie dort keine Menschenseele antreffen.

    Nach wenigen Minuten erreichte sie die Zufahrt zum See. Sie ging bis zu Gabriellas Trattoria und bog auf den Spazierweg am Ufer ab. Mittlerweile war das Kind eingeschlafen. Das Wasser plätscherte beruhigend im Wind. Ansonsten herrschte vollkommene Stille. Bedächtig schob sie den Kinderwagen vor sich her. Eigentlich stand ihr Entschluss fest. Sie würde sich von ihrem Freund trennen. Sie hatte das Leben an seiner Seite satt. Lieber würde sie das Kind alleine großziehen und alle Entbehrungen, die diese Entscheidung mit sich brachte, in Kauf nehmen, als sich weiter von ihm demütigen zu lassen. Leicht fiel ihr dieser Schritt nicht, die Angst überwog, ob sie ein Leben alleine mit dem Kind überhaupt bewältigen konnte. Aber wenn sie sich nicht dazu aufraffte, würde sie, dessen war sie gewiss, allmählich vor die Hunde gehen.

    Sie war so in Gedanken versunken, dass sie das Hindernis auf dem Weg erst bemerkte, als sie nur noch wenige Meter davon entfernt war. Allerdings war die Sicht so schlecht, dass sie nicht erkennen konnte, worum es sich dabei handelte. Ihre erste Eingebung, dass dort ein Körper lag, wischte sie beiseite, weil sie das für unmöglich erachtete. Sie schaute sich hilfesuchend um, obwohl sie wusste, dass niemand in der Nähe war. Schon war sie versucht, den Rückweg anzutreten, gab sich jedoch einen Ruck und ging langsam auf das Hindernis zu. Tatsächlich! Dort lag ein Körper quer über dem Weg. Ein Mädchenkörper. Nackt. Den Rücken ihr zugewandt. Mit einer dünnen Schicht Schnee bedeckt. Sie erstarrte vor Schreck. Hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Wollte sich davonmachen. Brachte es nicht über sich. Musste Hilfe leisten. Sie schob den Kinderwagen zur Seite, fixierte die Bremsen und ging zögernd näher. Blieb kurz stehen. Beugte sich schließlich nach vorne. Erblickte, was sie nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte, und schrie wie von Sinnen.

    Ein Jahr später

    1

    Gruber knallte den Aktenordner auf ihren Schreibtisch und verließ wütend die Abstellkammer.

    Wendt schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

    »War das wirklich nötig? Erst vor ein paar Minuten haben Sie beteuert, Gruber nicht mehr verärgern zu wollen, damit wir unsere Arbeit störungsfrei erledigen können. Und dann das!«

    Frieda Bach wusste selbst, dass es ein Fehler gewesen war, Gruber zu beleidigen. Aber sie konnte dessen Selbstgefälligkeit einfach nicht ertragen. Trotzdem hatte Wendt nicht das Recht, ihr vorzuschreiben, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Sie arbeitete erst seit drei Wochen mit ihm zusammen. Nicht freiwillig, sondern nur, weil Liebermann ihr angedroht hatte, sie wieder auf Streife zu schicken, sollte sie ihn nicht als Assistenten akzeptieren. Wendt war ein notorischer Besserwisser, den niemand in seiner Abteilung dulden wollte. Binnen Kurzem hatte er es sich mit allen anderen Kollegen verscherzt. Dass Liebermann ihm nicht die Tür wies, hatte nur einen Grund. Wendts Vater war ein hoher Beamter im Innenministerium, mit dem Liebermann es sich nicht verscherzen wollte. Um Wendt nicht zu brüskieren und um ihm das Gefühl zu geben, eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, war zum Schein eine Abteilung zur Aufarbeitung ungelöster Fälle gegründet worden, der Frieda Bach vorstand. Dass es ihnen beiden gelungen war, in kurzer Zeit eine spektakuläre Mordserie aufzuklären, war sicher nicht geplant gewesen und wäre von Gruber mit allen Mitteln verhindert worden, hätte er auch nur ansatzweise geahnt, dass ihre Ermittlungen von Erfolg gekrönt würden.

    Frieda konnte nicht verhehlen, dass die Zusammenarbeit mit Wendt nach anfänglichen Schwierigkeiten durchaus positiv verlaufen war. Außerdem rettete er ihr bei ihrem letzten Fall das Leben. Trotzdem konnte sie ihm nicht durchgehen lassen, ihre Entscheidungen zu kritisieren. Sie war seine Vorgesetzte und erteilte ihm Anweisungen und nicht umgekehrt.

    »Mag sein, dass mein Verhalten nicht klug war, aber wenn jeder Gruber in den Arsch kriecht, egal, welchen Mist er gebaut hat, nur um es sich nicht mit ihm zu verscherzen, wundert es mich nicht, wenn er sich das Recht herausnimmt, zu schalten und zu walten, wie er will.«

    Wendt schien den Vorwurf auf sich zu beziehen und verzog beleidigt das Gesicht.

    »Das war natürlich nicht auf dich gemünzt«, lenkte sie ein. »Trotzdem bin ich überrascht, wie schnell dein Ärger darüber verraucht ist, dass Gruber die Lorbeeren für die Lösung des Falls eingeheimst hat, obwohl dies ausschließlich unser Verdienst war. Wenn ich mich recht erinnere, wolltest du sogar deinen Vater einschalten, um zu verhindern, dass der Innenminister Gruber mit einem Orden für seine hervorragende Polizeiarbeit auszeichnet.« Verständnislos schüttelte sie den Kopf. »Vielleicht war es ein Fehler, Gruber zu verärgern, weil dadurch unsere Arbeit sicher nicht leichter wird, aber ich habe es einfach nicht ertragen, dass Blanks Tod ihn überhaupt nicht zu bekümmern scheint und er die Schuld dafür anderen in die Schuhe schieben will. Ich habe dir schon mehrmals gesagt, dass Gruber für mich ein rotes Tuch ist. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Wenn du damit nicht leben kannst, musst du dir eine andere Vorgesetzte suchen.«

    Wendt warf ihr einen bestürzten Blick zu.

    »Das will ich auf keinen Fall«, gab er kleinlaut zu.

    »Davon bin ich auch nicht ausgegangen. Dann schauen wir einmal, welchen Fall der verehrte Herr Gruppeninspektor für uns ausgesucht hat.«

    »Unbedingt! Ich freue mich schon, das nächste Verbrechen gemeinsam mit Ihnen zu lösen«, erwiderte Wendt aufgeregt.

    Ehrlich gestanden, konnte sie seinen Enthusiasmus nicht teilen. Sie war sich sicher, dass Gruber dieses Mal mehr Sorgfalt bei der Auswahl des Falles hatte walten lassen, um zu verhindern, dass sie wieder reüssierten. Denn mit jedem Erfolg, den sie verbuchten, nahm seine Reputation Schaden, und das musste ihm ein Gräuel sein. Den Fehler, ihnen einen Fall zu überlassen, der leicht zu lösen war, beging er sicher kein zweites Mal. Immerhin war ihre Abteilung nur eingerichtet worden, um Wendt das Gefühl zu geben, einer sinnvollen und wichtigen Beschäftigung nachzugehen. Davon hatte dieser nach wie vor keine Ahnung. So wartete er auch jetzt ungeduldig darauf, dass sie den Ordner öffnete.

    Auf der ersten Seite befand sich ein Foto. Es zeigte einen alten Mann und ein etwa zwölfjähriges Mädchen. Sie schienen friedlich nebeneinander zu schlafen. Doch zwei Dinge störten die Harmonie. Zum einen war das die haselnussbraune Hautfarbe des Mädchens, die sich deutlich vom weißen Teint des Mannes abhob. Und zum anderen das kreisrunde Einschussloch, das jeweils auf der Stirn der beiden Personen zu erkennen war.

    Frieda Bach prägte sich alle Details ein, die auf dem Bild zu erkennen waren, ehe sie zur nächsten Seite blätterte, auf der Informationen zum Tatort, zur Tatzeit und zur Identität der Opfer zusammengefasst waren.

    Bei dem Toten handelte es sich um den Besitzer des Hauses, in dem die Morde verübt worden waren. Sein Name war Ewald Meixner. Er war zum Todeszeitpunkt, das war ziemlich genau vor einem Jahr, fünfundsiebzig Jahre alt gewesen und hatte dort nach dem Tod seiner Frau zwei Jahren zuvor allein gelebt. Vor seiner Pensionierung war er Lehrer in einem Linzer Gymnasium gewesen.

    Die Identität des Mädchens war unbekannt.

    Obwohl es sich nachweislich mindestens zwanzig Tage in Meixners Haus aufgehalten haben dürfte, hatten weder Meixners Tochter noch die Nachbarn oder andere Personen aus dem Umfeld des Toten Kenntnis von ihrer Existenz gehabt.

    Die beiden waren am siebzehnten März vergangenen Jahres aus nächster Nähe im Wohnzimmer des Hauses in der Höllmühlstraße erschossen worden. Weder im Haus noch auf dem dazugehörigen Grundstück konnten Spuren einer dritten Person sichergestellt werden.

    Aufgefunden wurden die Leichen vier Tage nach Eintritt des Todes von einem Nachbarn, der auf Veranlassung von Meixners Tochter im Haus Nachschau hielt.

    Wendt gab einen missbilligenden Laut von sich, nachdem er die Zusammenfassung gelesen hatte.

    »Nicht schon wieder!«, brummte er entnervt.

    »Was willst du damit sagen?«, erkundigte Frieda sich, obwohl sie ahnte, worauf er anspielte.

    »Das liegt doch auf der Hand. Offensichtlich handelt es sich hier schon wieder um einen Fall von Kindesmissbrauch. Warum sollte sonst ein kleines Mädchen bei einem Mann leben, der ihr Großvater sein könnte, und dieser ihre Existenz vor den Nachbarn und sogar den nächsten Angehörigen verheimlichen? Doch nur, weil er etwas verbergen will, von dem die anderen nichts erfahren sollen.«

    »Das war auch mein erster Gedanke. Aber bevor wir voreilige Schlüsse ziehen, sollten wir genaue Kenntnis davon haben, was die Kollegen sonst noch herausgefunden haben.«

    Sie reichte ihm den Aktenordner.

    »Du verschaffst dir jetzt einen Überblick über die Ermittlungsergebnisse und berichtest mir anschließend das Wichtigste. Ich werde in der Zwischenzeit über ein Detail nachdenken, das mir bei der Durchsicht der ersten Seite aufgefallen ist.«

    Wendt nickte ihr ehrfürchtig zu und ging auf Zehenspitzen zu seinem Platz zurück, um sie nicht beim Nachdenken zu stören. Sein Gehabe wirkte so übertrieben, dass sie beinahe laut aufgelacht hätte.

    Natürlich hatte Wendt mit seiner ersten Einschätzung recht. Alles an diesem Fall wies in Richtung Kindesmissbrauch. Stellte sich nur die Frage, warum Gruber ihnen schon wieder einen Akt zugeschanzt hatte, der mit diesem leidigen Thema zu tun hatte? Machte er das absichtlich, um sie zu zermürben? Er wusste genau, dass kein Ermittler sich gerne mit dieser Art Verbrechen auseinandersetzte. Jede Gewalttat war abscheulich, aber meistens gelang es, die nötige Distanz zu wahren, um die Ermittlungen unbeschadet zu überstehen. Bei Verbrechen, in denen Kinder die Opfer waren, war das schier unmöglich. Sie kannte keinen Kollegen, den so etwas kaltließ.

    Sie war Realistin genug, um zu wissen, dass auch Österreich in dieser Hinsicht keine Insel der Seligen war. Das hatte jedoch nichts mit den Übergriffen von Personen ausländischer Herkunft gegen Kinder und Jugendliche zu tun, die in letzter Zeit die Titelseiten der Medien beherrschten. Diese Vorfälle waren bedauerlich genug, aber im besten Fall eine Kommastelle hinter der Null im Vergleich zu den Vergehen, mit denen ihre Kollegen tatsächlich konfrontiert waren. Der überwiegende Teil der Täter stammte aus gutem Haus oder stand in einem nahen verwandtschaftlichen Verhältnis zum Opfer. Fast immer waren es Personen, die in Österreich beheimatet waren und denen man so etwas nie zugetraut hätte, weil es sich bei ihnen um verdiente Mitglieder der Gesellschaft handelte.

    Oder aber der Missbrauch war institutionalisiert und wurde in großem Stil von staatlichen oder kirchlichen Stellen geduldet, wenn nicht sogar gefördert.

    Was ritt also Gruber, sie schon wieder mit einem offensichtlichen Missbrauchsfall zu betrauen? Wollte er sie absichtlich demoralisieren, bis sie entnervt das Handtuch warfen? So, wie sie ihn kannte, war ihm das durchaus zuzutrauen.

    Oder verfolgte er einen anderen Zweck damit? Hatte es etwas mit der Aussage des Innenministers zu tun, der diese schwärende Wunde endlich getilgt sehen wollte?

    Vielleicht waren auch dieses Mal wieder hochgestellte Persönlichkeiten in dieses Verbrechen verwickelt, und Gruber hoffte, dass sie bei den Ermittlungen an ihre Grenzen stießen oder, besser noch, sich dabei um Kopf und Kragen brachten.

    Immer vorausgesetzt, dass es sich bei dem Fall nicht nur um eine Beschäftigungstherapie für Wendt handelte, um ihn bei guter Laune zu halten.

    Sie merkte, dass ihre Gedanken sich im Kreis zu drehen begannen. Das alles war bloße Spekulation und führte zu nichts, solange sie keine Beweise für ihre Theorie hatte. Und an diese Beweise würde sie nie gelangen. Auch das war ihr bewusst. Die einzige Möglichkeit herauszufinden, was es mit diesem Fall tatsächlich auf sich hatte, war, Liebermann aufzusuchen und ihn danach zu fragen. So, wie sie ihn einschätzte, würde er ihr die Wahrheit nicht vorenthalten. Falls er überhaupt eingeweiht war. Nicht umsonst hatte er sie vor Kurzem darauf hingewiesen, dass seine Befugnisse mittlerweile sehr eingeschränkt waren und Gruber längst sein eigenes Süppchen kochte.

    Ein Räuspern holte sie in die Wirklichkeit zurück.

    Wendt schaute sie erwartungsvoll an.

    »Darf man erfahren, ob Ihnen eingefallen ist, was Sie vorher beim Lesen des Akts irritiert hat?«

    »Ich fürchte, ich habe mich getäuscht«, log sie, weil sie ihn nicht mit ihren Befürchtungen verunsichern wollte. »Dafür hoffe ich, von dir etwas zu erfahren, was es sich weiterzuverfolgen lohnt.«

    Wendt verzog missmutig das Gesicht.

    »Leider muss auch ich Sie enttäuschen. Hierbei«, er klopfte demonstrativ auf den Ordner, »handelt es sich um eine äußerst dünne Suppe. Entweder gibt es wirklich keine Anhaltspunkte, die uns weiterhelfen können, oder man hält uns wieder einmal zum Narren.«

    Frieda Bach wusste genau, was Wendt damit zum Ausdruck bringen wollte. Bei ihrem letzten Fall waren Teile der Ermittlungsprotokolle aus Staatsinteresse entfernt und zur Verschlusssache erklärt worden, was ihre Arbeit erheblich erschwert hatte.

    »Oder unsere Kollegen haben wie beim letzten Mal wieder äußerst nachlässig recherchiert. Auch etwas, womit wir damals nicht gerechnet haben. Ich werde Chefinspektor Liebermann diesbezüglich befragen, damit wir wissen, woran wir sind. Trotzdem bitte ich dich zusammenzufassen, was dir beim Lesen aufgefallen ist.«

    »Selbstverständlich. Also, wie schon erwähnt, liefert der Rest des Protokolls kaum neue Fakten. Die Tötung erfolgte im Wohnzimmer des Hauses. Bei der Tatwaffe handelt es sich um eine kleinkalibrige Pistole. Die Schüsse wurden aus nächster Nähe abgegeben. Medizinalrat Sedlacek, der die Leichname untersucht hat, spricht sogar von einer Hinrichtung. Der Tod ist mit sofortiger Wirkung eingetreten. Die Opfer haben sich anscheinend nicht zur Wehr gesetzt. Zumindest gibt es keine Verletzungen, die auf einen Kampf schließen lassen.«

    »Ist im Akt vermerkt, wann die Totenbeschau durchgeführt wurde?«

    Wendt blätterte den Ordner durch, bis er den entsprechenden Eintrag entdeckte.

    »Um zehn Uhr vormittags. Warum wollen Sie das wissen?«

    »Weil um diese Zeit die Chance hoch ist, dass unser Herr Medizinalrat noch so nüchtern war, dass man seinem Befund Glauben schenken kann.«

    Wendt riss empört die Augen auf, was Frieda nicht verwunderte, trug er doch einen unerschütterlichen Glauben an Autoritäten in sich und war ihm jedwede Form der Illoyalität ein Gräuel. Aber selbst ihm konnte in dem halben Jahr, in dem er hier seinen Dienst versah, nicht entgangen sein, dass der Gerichtsmediziner ab Mittag meistens so betrunken war, dass er sich nicht mehr imstande sah, einen Tatort aufzusuchen. Die wenigen Male, die er es dennoch getan hatte, waren regelmäßig in einem Fiasko geendet. Legendär war seine Fehleinschätzung bei einem Ertrunkenen, dessen vom Wasser aufgeblasenen Unterleib er als Schwangerschaft diagnostiziert hatte, obwohl es sich bei dem Toten klar erkennbar um einen Mann gehandelt hatte.

    »Nun hab dich nicht so! Dass Sedlacek oft zu tief in die Flasche schaut, weiß doch jedes Kind. Sollte dir das bislang trotzdem verborgen geblieben sein, bist du nun um eine Erkenntnis reicher. Allerdings ersuche ich dich, später darüber nachzudenken und jetzt mit deinem Bericht fortzufahren.«

    Wendt warf ihr einen beleidigten Blick zu.

    »Ich interessiere mich eben nicht für diesen Tratsch«, rechtfertigte er sich. »Mir geht es ausschließlich um Fakten.«

    »Schön für dich! Dann lass hören!«

    »Nichts weist auf einen Einbruch hin. Das legt den Schluss nahe, dass Meixner dem Täter selbst die Tür geöffnet hat. Das würde auch erklären, warum die Opfer sich nicht zur Wehr gesetzt haben. Ich würde sogar behaupten, dass Meixner den Mörder gut gekannt hat.«

    »Wie kommst du darauf? Bist du unter die Hellseher gegangen?«

    »Das nicht. Aber ich bin in der Lage, zwei und zwei zusammenzuzählen. Im Gegensatz zu anderen Personen.«

    Frieda Bach riss verblüfft die Augenbrauen in die Höhe. Das waren genau die Überheblichkeit und Arroganz, die ihre Kollegen so auf die Palme brachten. Kein Wunder, wenn sie sich weigerten, mit Wendt zusammenzuarbeiten. Im ersten Moment wollte sie ihn zurechtweisen, aber sie verzichtete darauf, weil ihr bewusst war, dass sie ihn zu dieser Aussage provoziert hatte.

    »Jetzt bin ich aber gespannt, welche Erklärung du dafür auf Lager hast.«

    »Nun, wir wissen, dass Meixner alles unternommen hat, um die Anwesenheit des Mädchens vor anderen Personen geheim zu halten. Nicht einmal seiner eigenen Tochter hat er etwas davon erzählt. Deshalb wird er kaum einen Fremden ins Haus bitten, wenn das Mädchen anwesend ist, sondern nur jemanden, dem er zutiefst vertraut oder der ohnehin davon Kenntnis hat. Das widerspricht zwar der Theorie der ermittelnden Beamten, dass es sich um Ehrenmord handeln könnte, aber der Umstand …«

    »Ehrenmord?«, unterbrach Frieda Bach ihn. »Was soll das schon wieder bedeuten?«

    »Das kann ich Ihnen erklären«, begann Wendt zu erläutern. »Laut Wikipedia bezeichnet der Begriff Ehrenmord die Tötung bzw. Ermordung eines in der Regel weiblichen Mitglieds aus der Familie des Täters als Strafe für eine vermutete Verletzung der familieninternen Verhaltensregeln durch das Opfer. Der Mord soll die vermeintliche Schande bzw. die drohende oder bereits zugefügte gesellschaftliche Herabsetzung des Täters bzw. seiner Familie abwenden und dem Umfeld signalisieren, dass die ›Ehrbarkeit‹ wiederhergestellt wurde. Derart motivierte Morde sind in archaischen, von Stammestraditionen bestimmten Gesellschaften im Nahen und Mittleren Osten am häufigsten zu finden.«

    Sie hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen.

    »Du kannst deinen Vortrag wieder beenden. Mir ist durchaus bewusst, was man unter einem Ehrenmord versteht. Mir ist nur nicht klar, warum unsere Kollegen zu dem Schluss gekommen sind, dass das Motiv für diesen Doppelmord mit der Wiederherstellung der Ehrbarkeit zu tun hat, um es mit deinen Worten auszudrücken.«

    »Wirklich? Mir leuchtet das vollkommen ein. Dadurch wird erst verständlich, warum auch das Mädchen hingerichtet worden ist. Wenn es nur um eine Auseinandersetzung mit einem Zuhälter gegangen wäre, hätte dieser höchstwahrscheinlich das Mädchen verschont, um weiter Profit mit ihm machen zu können. Außerdem legt das Aussehen des Mädchens den Schluss nahe, dass es aus einer Region stammt, in der solche Stammestraditionen noch immer Gültigkeit haben. Angenommen, ihre Angehörigen haben es aufgestöbert, dann wäre es durchaus vorstellbar, dass sie die entsprechenden Konsequenzen gezogen haben.«

    »Aber das Mädchen kann doch nichts dafür, dass es in die Hände einer Kinderschänderorganisation geraten ist«, wandte Frieda Bach ein.

    »Ich denke, das spielt für seine Familie keine Rolle. Seine Ehre wurde befleckt. Diese kann erst wiederhergestellt werden, wenn die Schuld getilgt ist.«

    Frieda Bach nickte ihm anerkennend zu. Man konnte von Wendt halten, was man mochte, aber selten zuvor hatte sie jemanden kennengelernt, der sich so gut darauf verstand, das Wesentliche zu erfassen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Dabei kam ihm natürlich entgegen, dass er über ein fotografisches Gedächtnis verfügte und kein Detail vergaß, das er jemals in sich aufgenommen hatte. Eine Eigenschaft, die sie sehr an ihm schätzte. Das sagte sie ihm auch, woraufhin er verlegen zur Seite blickte und ein Hauch Rot über seine bleichen Wangen glitt.

    »Haben die Kollegen etwas herausgefunden, was die Theorie von einem Ehrenmord untermauern würde?«

    »Es scheint bei der Theorie geblieben zu sein. Auch dem Umstand, dass das Türschloss unversehrt geblieben ist und dies den Verdacht nahelegt, dass Meixner seinen Mörder persönlich ins Haus gelassen hat, wurde keine besondere Beachtung geschenkt. Was mich allerdings nicht wundert. Wie ich schon erwähnt habe, ist nicht jeder in der Lage …«

    Sie winkte ab.

    »Ich denke, du setzt besser deinen Bericht fort, ehe du dich versündigst.«

    »Nun, im vorliegenden Fall ist vielleicht noch interessant, wie die Kollegen zu der Einschätzung gelangen, dass das Mädchen zirka vier Wochen Gast in Meixners Haus war. Viereinhalb Wochen vor dem Mord war Meixners Tochter über das Wochenende bei ihrem Vater zu Besuch. Laut ihrer Aussage hat es damals keinen Hinweis gegeben, dass dieser jemanden bei sich aufgenommen hatte.«

    »Und woraus schließen die Kollegen, dass das Mädchen nicht kürzer dort verweilt hat? Vielleicht ist es erst wenige Tage vor dem Mord bei ihm untergeschlüpft.«

    »Weil eine Rechnung über den Kauf von Mädchenkleidung gefunden wurde, ausgestellt am zwanzigsten Februar, also fünfundzwanzig Tage vor der Tat. Bezahlt wurde die Rechnung mit Meixners Kreditkarte. Die Kleidungsstücke wurden übrigens in einer Reisetasche sichergestellt, die fertig gepackt im Flur des Hauses abgestellt war.«

    »Eigenartig.«

    »Vielleicht wollte er das Mädchen loswerden, weil er bedroht wurde oder ihm ihr weiterer Aufenthalt in seinem Haus plötzlich zu gefährlich geworden ist.«

    »Möglich, und bevor er es wegbringen konnte, wurden sie ermordet. Eigentlich unvorstellbar, dass den Nachbarn nichts aufgefallen ist. Vier Wochen sind eine lange Zeit. Dass es Meixner gelungen ist, das zu verheimlichen, zeigt deutlich, wie viel Mühe und Interesse er darauf verwendet haben muss, dies zu verbergen. In diesem Zusammenhang würde ich gerne erfahren, ob bei der Obduktion Anzeichen für einen sexuellen Missbrauch des Mädchens entdeckt wurden. Hat Sedlacek irgendetwas gefunden, das in diese Richtung weist?«

    Wendt zuckte mit den Achseln.

    »Davon habe ich keine Ahnung.«

    »Was heißt, du hast keine Ahnung? Steht etwas davon im Obduktionsbericht oder nicht?«

    »Das kann ich nicht sagen, weil kein Obduktionsbericht beigelegt ist.«

    »Aber das gibt es doch gar nicht.«

    Wendt reichte ihr den Aktenordner.

    »Überzeugen Sie sich selbst, wenn Sie mir nicht glauben!«

    Dass ein derart wichtiges Dokument fehlte, bestätigte nur ihren anfänglichen Verdacht, dass Gruber sie hereinzulegen versuchte. Höchstwahrscheinlich war der Fall längst gelöst, und die Ermittlungen sollten nur zum Schein stattfinden. Allerdings hatte sie keine Lust, sich länger an der Nase herumführen zu lassen und Zeit in eine Sache zu investieren, die der Mühe nicht wert war. Dafür war sie sich zu schade. Sie beschloss, sich bei Liebermanns Sekretärin einen Termin geben zu lassen, um die Sache vorab zu klären. Gerade als sie den Telefonhörer abheben wollte, wurde die Tür geöffnet, und Liebermann höchstpersönlich trat ein. Wendt schnellte in die Höhe und nahm Haltung an. Frieda starrte ihren Vorgesetzten wie ein Gespenst an, weil dieser zum ersten Mal, seit sie in diese Abstellkammer verbannt worden war, hier auftauchte. Ehe er das Wort an sie richtete, schaute er sich um und verzog missbilligend das Gesicht.

    »Ich hoffe, ich störe nicht, aber ich wollte es mir nicht nehmen lassen, dich persönlich im Dienst willkommen zu heißen. Außerdem möchte ich euch beiden noch einmal zu diesem großartigen Erfolg gratulieren. Das muss euch erst einmal jemand nachmachen. Alle Achtung!«

    Wendt reckte vor Stolz die Brust nach vorne und grinste erfreut von einem Ohr zum anderen. Frieda blieb skeptisch, weil sie nicht glaubte, dass diese Belobigung der wahre Grund für Liebermanns Auftritt war.

    »Wenn der Herr Kollege so nett wäre, einen Moment draußen zu warten. Ich hätte kurz etwas mit Frau Gruppeninspektor Bach alleine zu besprechen.«

    Natürlich kam Wendt sofort der Aufforderung seines Vorgesetzten nach, doch ihm war anzusehen, dass er sich ausgeschlossen fühlte.

    Liebermann wies mit der Hand durch den Raum und schüttelte konsterniert den Kopf.

    »Frieda, wenn ich gewusst hätte, in welchem Loch man dich hier untergebracht hat, hätte ich sofort veranlasst …«

    »Die Erkenntnis kommt reichlich spät nach drei Jahren. Findest du nicht?«, fiel sie ihm ins Wort. »Du hättest dir nur einmal die Mühe machen müssen, Nachschau zu halten, wo ich hause. Aber wie heißt es so schön: Aus den Augen, aus dem Sinn!«

    »Ich verstehe deine Verbitterung. Aber, wie ich schon gesagt habe, ich werde sofort veranlassen, dass man dir eine Räumlichkeit zuweist, die deiner würdig ist.«

    »Gib dir keine Mühe! Ich bleibe hier. Falls ich es mir anders überlege, lasse ich es dich wissen.«

    Liebermann warf ihr einen flehenden Blick zu.

    »Das sagst du nur aus Trotz, um mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Kannst du nicht einmal über deinen Schatten springen?«

    »Lass gut sein, Kurt! Ich glaube, du kennst mich noch immer nicht. Ich sage das nicht aus Trotz, sondern aus purer Berechnung. Mittlerweile habe ich nämlich die Vorzüge dieser Abstellkammer schätzen gelernt, und diese will ich eigentlich nicht mehr missen. Hier bin ich weitab vom Schuss, niemand beachtet oder kontrolliert mich, und ich habe meine Ruhe. Was will man mehr?«

    »Kann ich dir sonst irgendwie zu Diensten sein?«

    »Das kannst du tatsächlich. Und ich denke, du weißt genau, was ich von dir erwarte.«

    Liebermann zuckte zusammen und breitete hilflos die Arme aus.

    »Frieda, warum bist du nur so ungerecht zu mir? Ich habe dir erst vor Kurzem gesagt, dass ich gegen Gruber nichts ausrichten kann. Er hat einflussreiche Freunde und wartet nur darauf, dass ich einen Fehler mache, um meinen Platz einzunehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das wirklich willst.«

    »Jetzt übertreibst du aber gewaltig. Bist du der Chef oder nicht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gruber wagt, eine deiner Anordnungen zu ignorieren. Vielmehr habe ich das Gefühl, dass du den Weg des geringsten Widerstandes gehst, weil du es dir mit ihm nicht verscherzen willst und dir meine Wünsche ziemlich gleichgültig sind.«

    Liebermann stieß einen gequälten Seufzer aus.

    »Frieda, bist du blind, oder interessiert es dich nicht, was in unserem Land vor sich geht? Wenn tatsächlich eintritt, was alle Experten vorhersagen, und für mich besteht daran eigentlich kein Zweifel, wird schon bald kein Stein auf dem anderen bleiben.«

    Sie wusste, worauf er anspielte. Am Wochenende war die Regierung endgültig gescheitert. Neuwahlen waren die Folge, und wenn zutraf, was die Meinungsforscher seit Langem vorhersagten, würde die nationale Partei als fulminanter Sieger daraus hervorgehen und das Land nach ihrem Sinn umgestalten. Um sich auszumalen, was das bedeutete, brauchte man kein Prophet zu sein, denn seit die Partei Oberwasser hatte, wagten auch ihre Anhänger sich aus der Deckung und taten ungeniert kund, was sich vor Jahren niemand öffentlich auszusprechen getraut hätte, weil es entweder strafbar oder aber nicht statthaft war. Dass Gruber dieser Partei nahestand, war kein Geheimnis, und wie bei vielen anderen war nicht zu übersehen, dass auch sein Selbstbewusstsein wuchs, je mehr Stimmen ihr vorhergesagt wurden. Schon glaubten viele wieder, die Herren der Welt zu sein, und gerierten sich auch so. Ihr ehemaliger Partner bildete da keine Ausnahme.

    »Ich bedaure sehr, dass du Gruber nicht in die Schranken weist. Aus meiner Sicht ist das ein unverzeihlicher Fehler, den du noch bereuen wirst. Aber das ist deine Entscheidung, und mir bleibt wohl oder übel nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren. Eine Bitte hätte ich trotzdem: Versprich mir, ehrlich zu sein!«

    »Das bin ich immer gewesen«, beteuerte Liebermann. »Ich würde dich nie hintergehen.«

    »Dann sag mir, ob es der Mühe wert ist, sich mit diesem Fall auseinanderzusetzen! Oder handelt es sich dabei nur um einen Fake, um Wendt bei Laune zu halten?«

    »Natürlich nicht! Ich habe mich persönlich davon überzeugt, dass dieser Fall es wert ist, von euch bearbeitet zu werden. Wie kommst du darauf?«

    Frieda Bach klopfte demonstrativ auf den Aktenordner.

    »Weil ich nicht glauben kann, dass das alles ist, was die Kollegen herausgefunden haben. Ich hatte sofort das Gefühl, dass die Unterlagen nicht vollständig sind. Selbst der Obduktionsbericht fehlt. Das gibt es doch gar nicht.«

    »Ich schwöre dir, dass ihr alles bekommen habt, was an Material vorhanden ist. Dass die Ermittlungen nicht mehr ergeben haben, war einer der Gründe, warum der Fall so schnell wieder zu den Akten gewandert ist.«

    »Und welche Gründe gab es noch?«

    »Schlichtweg Personalmangel. Du kannst dich sicher daran erinnern, dass damals nach dem Auffinden der drei Ritualopfer, das war wenige Tage vor und nach diesem Doppelmord, bei uns die Hölle los war. Laut Anordnung des Innenministers mussten alle verfügbaren Kräfte zur Bearbeitung dieses aufsehenerregenden Falls abgestellt werden. Zwar wurden die Ermittlungen von Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung geleitet, aber du weißt ja, wie das abläuft. Die Kollegen in Wien koordinieren die Abläufe, aber die Drecksarbeit müssen die Beamten vor Ort machen.«

    »Heißt das, dass die Ermittlungen einfach ruhend gestellt wurden?«

    »Natürlich nicht. Wilk und Gebhard haben den Fall weiterbearbeitet.«

    »Dann wundert mich gar nichts mehr.«

    Wilk war mittlerweile im Ruhestand und hatte in den Jahren vor seiner Pensionierung, um es einmal höflich auszudrücken, nur mehr ein sehr reduziertes Engagement an den Tag gelegt. Mit Gebhard hatte Frieda nie persönlich zu tun gehabt. Von Oskar hatte sie jedoch erfahren, dass der junge Kollege ein Burnout-Syndrom erlitten hatte und bereits nach einem Jahr wieder aus dem Polizeidienst ausgeschieden war. Kaum vorstellbar, dass gerade diese beiden Kollegen mit den Ermittlungen in einem Doppelmord betraut worden waren.

    »Ich weiß, was du damit sagen willst«, erwiderte Liebermann. »Natürlich hätte ich den beiden nie diesen Fall übertragen, wenn nicht schon vorher festgestanden hätte, dass es kaum brauchbare Spuren gibt, die es weiterzuverfolgen lohnt. Andererseits wurde sicher nicht alles unternommen, um das Verbrechen aufzuklären. Deshalb seid auch ihr damit betraut worden. Eine gewissenhafte Recherche liefert unter Umständen neue Ansätze, die uns zum Täter führen könnten.«

    »Schön und gut, aber das erklärt nicht, weshalb ausgerechnet der Obduktionsbericht fehlt«, kam Frieda Bach noch einmal auf ihre Ausgangsfrage zurück.

    »Daran sind die beiden Kollegen schuldlos. Es wurde nämlich keine Obduktion durchgeführt.«

    »Sag das noch einmal!«, rief Frieda Bach verblüfft aus. »Welcher Idiot hat das angeordnet?«

    »Ich«, erwiderte Liebermann. »Aber das hat nichts mit Dummheit oder Nachlässigkeit zu tun, sondern mit einer Anweisung des Innenministeriums, aus Kostengründen nur noch dann eine gerichtsmedizinische Untersuchung zu veranlassen, wenn es berechtigte Zweifel an der Todesart der Opfer gibt. Das war bei dieser Sache nicht der Fall. Selbst einem Laien wäre nicht verborgen geblieben, dass die beiden Opfer erschossen worden sind.«

    »Ich fasse es nicht«, ereiferte sie sich. »Das heißt, wir tappen vollkommen im Dunkeln. Wir haben nicht einmal einen Beweis, ob das Mädchen von diesem Meixner sexuell missbraucht worden ist. Was für eine Schlamperei!«

    Liebermann schaute sie bestürzt an.

    »Daran ist damals tatsächlich nicht gedacht worden. Aber ich bin mir sicher, dass Sedlacek vor Ort überprüft hat, ob Missbrauchsspuren vorhanden waren.«

    »Ist das dein Ernst? Da kann ich genauso gut zu einem Wahrsager gehen und mir aus dem Kaffeesud weissagen lassen.«

    »Ich glaube, du tust Sedlacek unrecht«, setzte er zur Verteidigung des Gerichtsmediziners an, verstummte aber wieder, als Frieda Bach in lautes Gelächter ausbrach.

    »Nun, wenn das alles war«, erwiderte er pikiert. Er erhob sich und wandte sich zum Gehen.

    »Ich hätte noch eine Frage«, hielt sie ihn zurück. »Was soll eigentlich die Aussage des Innenministers bedeuten, dass diese schwärende Wunde endlich getilgt werden muss?«

    Liebermann hob sofort abwehrend die Hände in die Höhe.

    »Dafür kann ich nichts. Das ist auf Grubers Mist gewachsen. Er hat dem Minister diesen Floh ins Ohr gesetzt.«

    »Das verstehe ich nicht. Was hat der Minister mit diesem Fall zu schaffen? Steht er in irgendeiner Beziehung zu diesem Meixner? Oder will er jemand anderen decken?«

    »Nein, sicher nicht. Dabei geht um etwas ganz anderes. Kurz nach diesem Doppelmord sind, wie schon vorher erwähnt, diese spektakulären Ritualopfer geschehen. Du kannst dich sicher daran erinnern.«

    Konnte sie nicht, weil sie sich in der Zeit ihrer Verbannung für nichts anderes interessiert hatte als für ihre Rache, um Gruber und allen anderen die Schmach heimzuzahlen, die sie ihr angetan hatten. Aber das wollte sie Liebermann nicht auf die Nase binden, weshalb sie nickte.

    »Die Ermittlungen in dieser Mordserie hat damals das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung übernommen, weil der Verdacht bestand, dass die Gewalttaten politisch motiviert waren. Da auch in unserem Fall das Opfer ausländischer Herkunft ist und eines der getöteten Mädchen nur wenige Tage später ganz in der Nähe entdeckt worden ist, haben die Kollegen von der Staatspolizei untersucht, ob dieser Mord etwas mit den anderen zu tun haben könnte. Sehr schnell war klar, dass es sich um unterschiedliche Täter handeln muss, fehlen doch bei Meixner und dem unbekannten Mädchen die markanten Stigmata, mit denen die anderen gebrandmarkt wurden.«

    »Markante Stigmata?«, fragte sie verständnislos nach.

    »Du willst mir doch nicht weismachen, dass du dich nicht daran erinnern kannst. Diese Ritualmorde waren damals in aller Munde. Der Täter hat die Mädchen ausgeweidet und anschließend den aufgeschnittenen Oberkörper wieder zusammengenäht. Die Naht hat die Form eines Kreuzes. Auf der Stirn wurde den Opfern die Zahl Achtundachtzig eingeritzt. Außerdem wurden die Leichname in freiem Gelände abgelegt. Kurzum, die Fälle haben nichts miteinander zu tun.«

    »Natürlich ist mir dieser Fall bekannt«, log sie. »Aber ich verstehe immer noch nicht, was der Innenminister damit zu tun hat, abgesehen einmal davon, dass die Lösung eines ungeklärten Verbrechens natürlich gut für sein Image ist?«

    Liebermann vergewisserte sich, dass die Tür geschlossen war, und senkte die Stimme.

    »Hier geht es weniger um das Image, sondern vielmehr um das politische Überleben des Ministers. Diese Ritualmorde haben dem Ansehen der nationalen Partei sehr zugesetzt, weist doch alles darauf hin, dass rechtsextreme Kreise dafür verantwortlich zeichnen. Die Zahl Achtundachtzig ist nämlich ein Code, den Neonazis als internes Erkennungszeichen verwenden. Die Ziffer Acht ist der achte Buchstabe im Alphabet. Achtundachtzig steht für HH, und das wiederum ist die Abkürzung für Heil Hitler.«

    »Und was hat das mit dem Innenminister zu tun? Meines Wissens gehört er einer anderen Partei an. Müsste er nicht sogar froh sein, wenn seine politischen Gegner in Misskredit geraten?«

    »Früher wäre das sicher der Fall gewesen. Aber er ist Realist und weiß, dass der Aufstieg der Rechten ohnehin nicht zu stoppen ist. Seine Partei liebäugelt schon lange damit, nach den Wahlen eine Verbindung mit den Nationalen einzugehen, und er selbst würde gern Innenminister bleiben. Allerdings haben die Ermittlungen in diesen Ritualmorden seine Chancen nicht gerade erhöht, weil die nationale Partei vor allem ihm anlastet, dass sie damit in Verbindung gebracht wurden. Ein Fall wie dieser Doppelmord käme ihm deshalb gerade recht, diese Scharte wieder auszuwetzen, könnte er damit den Rechten doch eindringlich vor Augen führen, dass er ihnen nicht ans Zeug flicken will, sondern ganz im Gegenteil sogar einen Beitrag liefert, sie vom Vorwurf weißzuwaschen, mit irgendwelchen politisch motivierten Verbrechen in Verbindung zu stehen.«

    »Trotzdem ist mir noch nicht klar, wie das vor sich gehen soll.«

    »Ganz einfach«, erklärte Liebermann ihr. »Unter den Opfern befindet sich ein Mädchen ausländischer Herkunft, und nichts spricht für eine rassistisch motivierte Tat. Alles deutet auf ein Verbrechen im Pädophilenmilieu hin oder auf einen Ehrenmord, begangen von den eigenen Verwandten des Mädchens, um dessen Ehre wiederherzustellen. Ein idealer Fall, um die nationale Bewegung von jedem Verdacht reinzuwaschen, und ein genialer Schachzug von Gruber, gelingt es ihm damit doch, mehrere Dinge auf einmal zu erledigen. Er verhilft seiner Partei zu einer weißen Weste, sichert sich das Wohlwollen des Ministers und bringt euch gehörig in die Bredouille. Nicht umsonst hat er ein Verbrechen ausgewählt, das aufgrund mangelnder Spuren und Hinweise sehr schnell wieder zu den Akten gelegt wurde. Scheitert ihr, wird der Minister euch allein dafür zur Rechenschaft ziehen. Reüssiert ihr hingegen, wird Gruber sicher einen Weg finden, sich diesen Erfolg erneut an die Fahnen zu heften. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihm das gelingt.«

    »Und das lässt du so einfach zu?«

    »Ich habe dir schon gesagt, dass mir die Hände gebunden sind, aber ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass ihr Erfolg habt. Dabei werde ich euch, soweit es in meiner Macht liegt, unterstützen. Solltet ihr den Fall nicht lösen, bedeutet das auch keinen Beinbruch. Der Minister wird zwar sein Missfallen zum Ausdruck bringen, aber das war es dann auch schon. Was sollte euch schon groß passieren? Meine Rückendeckung habt ihr jedenfalls.«

    »Gruber wird sich ins Fäustchen lachen«, erwiderte sie abfällig.

    »Dann lass ihn! Soll er seinen Spaß haben. Das kann dir doch egal sein.«

    Das war es nicht. Gruber eine Gelegenheit zu geben, über sie zu triumphieren, war das Letzte, was sie wollte. Allein der Gedanke daran machte sie fuchsteufelswild. Sie bemerkte Liebermanns fragenden Blick und lenkte schnell ab.

    »Wurden diese Ritualmorde eigentlich jemals aufgeklärt?«

    Liebermann schüttelte den Kopf.

    »Das dritte Opfer wurde wenige Tage nach dem zweiten in der Nähe von Weitra im Waldviertel aufgefunden. Täglich haben wir mit einem neuen Leichenfund gerechnet. Du weißt ja selbst, wie das bei einem Serienmörder abläuft. Die Intervalle zwischen den Taten verkürzen sich rapide. Glücklicherweise ist es nie dazu gekommen. Nach dem dritten Mord war Schluss.«

    Er klopfte dreimal auf Holz.

    »Ich hoffe, dabei bleibt es.«

    »Und wie erklärt ihr euch das?«

    Er zuckte mit den Achseln.

    »Entweder ist der Täter schwer krank oder bereits tot oder wegen eines anderen Deliktes im Gefängnis gelandet. Keine Ahnung! Hauptsache, er taucht nie wieder auf.«

    Liebermann erhob sich und verließ die Abstellkammer. Nachdenklich schaute Frieda ihm nach. Dass sie zum Spielball der Politik werden sollte, war ihr überhaupt nicht recht. Sie wollte unbeeinflusst ihrer Arbeit nachgehen und nicht ständig unter Kontrolle stehen. Am liebsten hätte sie den Fall wieder abgegeben. Auch, weil die Chancen, diesen zu lösen, offensichtlich minimal waren. Andererseits bot sich die einmalige Gelegenheit, Gruber endlich heimzuzahlen, was er ihr angetan hatte. Da der Innenminister angekündigt hatte, die Ermittlungen im Auge zu behalten, würde nicht unbemerkt bleiben, wenn es ihnen gelang, das Verbrechen zu lösen, was wiederum Grubers Ambitionen auf den Chefsessel einen Dämpfer versetzen musste, weil ihm dies nicht gelungen war.

    Wendt hatte inzwischen wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen und musterte sie skeptisch.

    »Schlechte Nachrichten?«

    »Wie man’s nimmt.«

    Da Wendt am Anfang seiner Karriere im Polizeidienst stand und ein Versagen für ihn wesentlich mehr Auswirkungen hatte als für sie, beschloss sie, ihm reinen Wein einzuschenken und die Entscheidung zu überlassen, ob sie den Fall übernehmen sollten. Sie sparte bei ihrem Bericht nichts aus. Nur Liebermanns Angebot, ihnen eine andere Räumlichkeit zur Verfügung zu stellen, verschwieg sie ihm, weil er ihre Ablehnung nicht verstanden und ihr übel genommen hätte. Wie sehr ihm das alles zusetzte, zeigten die Misstöne, mit denen seine Stirnhöhlen Friedas Bericht begleiteten. Sie pfiffen wie ein Teekessel, in dem das Wasser auf höchster Temperatur vor sich hin siedete.

    »Was meinst du?«, fragte sie ihn, nachdem sie geendet hatte. »Sollen wir den Fall übernehmen oder ablehnen? Ich überlasse die Entscheidung dir.«

    Er zeigte mit dem Finger verwundert auf sich.

    »Warum mir? Sie leiten doch die Abteilung.«

    »Weil die Auswirkungen, falls wir scheitern, dich mehr treffen als mich. Also, was sagst du?«

    Er zuckte zusammen und zog intuitiv den Kopf ein. Seine blassen Wangen röteten sich vor Aufregung, und seine Stirnhöhlen begannen erneut zu pfeifen. Gleichzeitig war nicht zu übersehen, dass ihr Angebot, selbst eine Entscheidung zu fällen, ihn mit Stolz erfüllte. Schließlich ballte er die rechte Hand zur Faust und hieb damit in die Luft.

    »Natürlich übernehmen wir den Fall! Dass uns der Minister beobachtet und Gruber ein Spielchen mit uns treibt, soll uns nicht davon abhalten. Wie haben Sie so schön gesagt: Mit Ihrer Intuition und meiner sachlichen Logik bilden wir ein unschlagbares Team. Das sollten wir ruhig ein weiteres Mal unter Beweis stellen. Ich werde sofort die Akten über die Morde an den anderen Mädchen ausheben, damit wir selbst überprüfen können, ob es einen Zusammenhang mit unserem Fall gibt. Dass wir uns nicht immer auf die Recherchen unserer Kollegen verlassen können, haben wir ja schon beim letzten Mal zur Genüge feststellen müssen.«

    Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich seinem Computer zu und loggte sich in die Datenbank des Innenministeriums ein. Frieda Bach ließ ihn gewähren, obwohl sie für heute lieber Dienstschluss gemacht hätte. Aber sie wollte seinen Enthusiasmus nicht bremsen. Außerdem freute sie sich über seinen Loyalitätsbeweis, denn ohne langes Zögern hatte er sich gegen Gruber und für sie entschieden. Das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall gewesen. Offensichtlich hatte auch er mittlerweile erkannt, dass Gruber nicht nur Gutes im Schilde führte und seine Gunstbezeugungen nur mit Vorsicht zu genießen waren. Amüsiert beobachtete sie Wendt bei der Arbeit. Sein Gesicht spiegelte offen wider, was er gerade empfand. Schnell wich die anfängliche Begeisterung einer gewissen Ernüchterung. Nachdenklich legte er die Stirn in Falten, bis er verärgert die Lippen verzog. Zuletzt starrte er voller Enttäuschung auf den Bildschirm.

    »Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«, erkundigte sie sich, obwohl sie bereits den Grund für seine Verstimmung ahnte.

    »Die Akten wurden vom Staatsschutz zur Verschlusssache erklärt und können nur mit einer richterlichen Verfügung zur Ansicht freigegeben werden«, gab er kleinlaut zu.

    »Und was ist mit den beiden Mädchen, die in Oberösterreich aufgefunden wurden?«

    Er tippte etwas in den Computer ein und verzog erneut enttäuscht das Gesicht.

    »Hier gibt es nur eine kurze Beschreibung der Auffindungsorte und ein Foto der Opfer. Ich kann die Bilder hochladen, aber das wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Der Rest wurde als vertraulich eingestuft.«

    »Darf man erfahren, wo die beiden gefunden worden sind, oder muss man dir heute alles aus der Nase ziehen?«, erwiderte sie ungeduldig.

    »Ich bin ja schon dabei. Ein Mädchen wurde in der Nähe von Grein in einem Straßengraben gefunden, das zweite beim Pichlingersee. Der Täter scheint sich nicht einmal die Mühe gemacht zu haben, die Leichname zu verbergen, sondern hat sie einfach nur abgelegt. Die Auffindungsorte sind eindeutig nicht die Tat… Mein Gott! Ist das entsetzlich!«

    Wider jede Vernunft

    Eigentlich habe ich mir geschworen, mich nie wieder um andere zu kümmern. Der angebliche Gewinn, den soziales Engagement nach sich zieht, kann niemals aufwiegen, was einem dabei genommen wird. Denn fremdes Leid lässt sich nicht teilen, es steigert sich ins Vielfache, bis man es nicht mehr ertragen kann. Dabei kennt es kein Erbarmen. Es nährt sich an der Seele des Helfers wie ein Parasit, saugt ihn aus, bis er selbst dem Elend anheimfällt. Und davor gibt es kein Entrinnen. Das Leid bleibt haften an einem wie der Kaugummi im Profil der Schuhsohle, den man nicht mehr loswird, gleichgültig, was man dagegen unternimmt.

    Ich weiß, wovon ich spreche. Mein Leben lang habe ich mich anderer angenommen, bis ich irgendwann merkte, dass mir nicht einmal mehr die Kraft geblieben war, mich um mich selbst zu sorgen. Darauf zu hoffen, dass jemand mir zurückzahlte, was ich in ihn investiert hatte, erwies sich als vergebliche Mühe. Niemand ließ sich jemals blicken, um mir zur Seite zu stehen, als ich Hilfe brauchte.

    Dass ich nun, wider jede Vernunft, erneut den Wunsch verspüre zu helfen, hat mit den überwältigenden Bildern zu tun, die mich Tag für Tag aufs Neue in ihren Bann ziehen. Davor kann man nicht die Augen verschließen. Ich leide mit den Abertausenden, die sich auf den Weg in eine ungewisse Zukunft gemacht haben. Mich dauert ihr Schicksal, und ich wünsche mir von Herzen, dass ihre Träume wahr werden und sie ihr angestrebtes Ziel erreichen.

    Für die meisten Flüchtlinge stellt Linz nur eine Zwischenstation auf ihrem Weg in eine neue Heimat dar. Nichtsdestotrotz gilt es, ihnen zu zeigen, dass wir sie mit offenen Armen willkommen heißen. Dass ihr Wagnis nicht umsonst war. Dass sie die richtige Entscheidung getroffen haben. Daran will ich Anteil haben, ungeachtet des Leids, das sich wieder meiner bemächtigen wird, wenn ich mich nicht davon fernhalte.

    Obwohl mich etwas hoffen lässt: dass es dieses Mal anders sein könnte. Von den Flüchtlingen scheint nämlich eine Kraft auszugehen, die jeden Anflug von Verzweiflung im Keim erstickt. Ihr Wille ist ungebrochen, aller Erschöpfung und Unbilden zum Trotz. Mit jedem Kilometer, den sie bewältigen, lassen sie ein Stück Leid hinter sich und erstarken. Dies scheint auch der Grund zu sein, warum die Herzen der Menschen

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