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Wolfchild: Kriminalroman mit Schauplatz in Montana
Wolfchild: Kriminalroman mit Schauplatz in Montana
Wolfchild: Kriminalroman mit Schauplatz in Montana
eBook310 Seiten4 Stunden

Wolfchild: Kriminalroman mit Schauplatz in Montana

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Über dieses E-Book

Im Glacier Nationalpark in Montana wird ein Toter gefunden, der offensichtlich von einem Wolf angegriffen wurde. Die mysteriösen Umstände geben Sheriff Sam Larrimore und seinem Freund Jake Nighthorse Rätsel auf. Die New Yorker Polizistin Gina Deluca, deren Leben gerade aus den Fugen gerät, hat bei den Ermittlungen in einem Mordfall eine schicksalhafte Begegnung mit dem indianischen Maler Jay Beaudine. Die weiteren Untersuchungen führen Gina nach Montana, wo ganz andere Gesetze gelten. Die Situation spitzt sich zu, als ein Auftragskiller auftaucht. Wer ist der große Unbekannte, der im Hintergrund die Fäden zieht? Eine Spur aus der Vergangenheit führt zu einem gefährlichen Zusammentreffen.


Die spannende Krimihandlung spielt im modernen Amerika und beschreibt das unterschiedliche Lebensfühl im Osten und Westen der Vereinigten Staaten. Sie schlägt die Brücke zu den Mythen und der spirituellen Welt der amerikanischen Ureinwohner, die auch heute noch die Kultur ihrer Vorväter leben.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum29. Juni 2019
ISBN9783748567998
Wolfchild: Kriminalroman mit Schauplatz in Montana
Autor

C. C. Cardinal

C. C. Cardinal, Jahrgang 1963, hat auf vielen Reisen in den Westen der USA eine Vorliebe für Land und Leute entwickelt. In dem vorliegenden Roman verarbeitet sie ihre Eindrücke und Erfahrungen zu einer fiktionalen Krimihandlung. Die Autorin ist als Übersetzerin tätig und lebt im Raum Würzburg. Sie ist begeisterte Motorradfahrerin.

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    Buchvorschau

    Wolfchild - C. C. Cardinal

    Wolfchild

    Titel Seite

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Titel Seite

    C. C. Cardinal

    WOLFCHILD

    Copyright © Mai 2019 Bettina Welz

    Gartenstraße 7, 97285 Röttingen

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat:

    Infidia Textservice und Lektorat, Würzburg

    Umschlaggestaltung:

    Mediendesign Markus Kalipp, Scheinfeld

    (Titelbild von www.pexel.com, Fotograf: Steve, Kanada

    Grafiken von www.pixabay.com, Alexa)

    Druck und Vertrieb:

    epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

    Kapitel 1

    Der Mond stand wie eine goldene Kugel im Zenit des Nachthimmels. Keine Wolke verdunkelte sein helles Leuchten, das die Schneekristalle zum Glitzern brachte und eine unwirklich anmutende Stimmung heraufbeschwor. Der Schnee war gefroren. Jeder Schritt würde ein knirschendes Geräusch erzeugen und nachtaktive Jäger anziehen.

    Ein großer schwarzgrauer Wolf lauerte reglos neben einem großen Stein. Er wirkte sicher, als ob er eine bestimmte Beute erwartete. Die Umgebung bildete ein perfektes Versteck. Ein einzelnes Tier war ungewöhnlich für Wölfe, die normalerweise in Rudeln lebten. Fast schläfrig verharrend, dann blinzelnd, hob er schließlich lauschend den Kopf. Er war alt, trotzdem entging nichts seinen scharfen Augen und Ohren. Der ehemalige Leitwolf, der nach langer Zeit einem jüngeren, stärkeren Rivalen hatte weichen müssen, bot noch immer eine imposante Erscheinung.

    Sein früher tiefschwarzes Fell wies nach all den Jahren vereinzelte graue Strähnen auf. Der wache Blick aus den bernsteinfarbenen Augen ließ auf eine anhaltende, beträchtliche Stärke schließen. Für einen unbeteiligten Beobachter mochte er müde wirken. In Wahrheit war jeder seiner Muskeln gespannt.

    Im Hintergrund ragte die majestätische Kulisse des riesigen Chief Mountains auf. Der quaderförmige Felsen, den die Blackfeet-Indianer als ihren heiligen Berg verehrten, unterstrich die friedliche Stimmung.

    Ein leises, schlurfendes Geräusch unterbrach die Stille der eisigen Nacht. Über den schimmernden Schnee wanderte ein schmaler Schatten. Der Wolf rührte sich nicht, zog aber prüfend die Luft durch seine Nase ein.

    Die Umrisse einer menschlichen Gestalt zeichneten sich ab. An den Füßen trug sie Schneeschuhe, um nicht einzusinken. Mithilfe von Stöcken kämpfte der Mann sich mühsam und mit schweren Schritten durch die Kälte. Er schien müde zu sein und keuchte vor Anstrengung. Vor seinem Mund bildete sich mit jedem Atemstoß eine kleine Nebelwolke. Die Kälte ließ die winzigen Wassertröpfchen zu Kristallen gefrieren. Über der dicken Jacke trug er einen großen Rucksack, dessen Last ihm offensichtlich Schwierigkeiten bereitete. Daneben hing ein Gewehr an einem Riemen lose über seiner Schulter.

    Der Mann hielt schnaufend an und stützte sein Gewicht auf beide Stöcke. Das Ausruhen tat ihm sichtlich gut. Nach einer Weile hob sich sein Blick. Er fiel erst auf den Chief Mountain und verweilte dann am nächtlichen Himmel.

    Ein atemberaubender Anblick, keine Wolke trübte die Sicht. Die Sterne funkelten um die Wette, als wollte jeder den anderen mit seinem Schein übertrumpfen.

    Der Mann seufzte. Das Gewicht auf seinem Rücken erinnerte ihn an den weiten Weg, der vor ihm lag. Eigentlich blieb ihm keine Zeit, den Nachthimmel zu bewundern. Mit dem Auto hätte er die öffentliche Straße benutzen können. Er fürchtete dort jedoch eine Kontrolle durch die Polizei. Der Weg durch die Wildnis war erheblich beschwerlicher, aber so konnte er die Ware sicher an ihren Bestimmungsort bringen. Im Geiste sah er schon das dicke Bündel Dollarscheine vor sich, das ihm die Lieferung auch dieses Mal wieder einbringen würde. Es half nichts. Er musste weitergehen, um den Schutz der Dunkelheit für sich zu nutzen.

    Als er sich anschickte, seinen Weg fortzusetzen, schoss plötzlich ein großer schwarzer Schatten auf ihn zu. Ein heiseres Knurren drang an sein Ohr. Er roch eine scharfe Ausdünstung, und das Blut gefror ihm vor Schreck in den Adern. Bevor er reagieren konnte, war der riesige Wolf schon über ihm und riss ihn von den Beinen. Sein Gewehr war nutzlos. Im Fallen tastete er nach seinem Messer, doch es fiel ihm aus den kraftlosen Händen. Ein unterdrückter Schrei entrang sich seiner Kehle, der in ein leises Röcheln überging, als die Kreatur ihre Fangzähne tief in seinen Hals grub. Das warme Blut rieselte als kleiner Strom in den Schnee und bildete einen hässlichen, dunklen Fleck. Ein letztes Zucken des Opfers, und der ungleiche Kampf war zu Ende. Der Wolf ließ von seiner Beute ab, die reglos im aufgewühlten Schnee liegen blieb.

    Die Augen des Toten waren weit aufgerissen, seine Pupillen starrten stumpf und leblos vor sich hin. Aus seinem Rucksack, der sich durch den Sturz und den anschließenden kurzen Kampf geöffnet hatte, waren prall gefüllte Plastikbeutel herausgefallen, die nun wahllos im Schnee lagen.

    Die Nacht war wieder totenstill. Die Sterne schienen vom Himmel und erhellten die unwirkliche Szenerie, als wäre nichts geschehen.

    Der Wolf war verschwunden.

    „Wenn du glaubst, damit durchzukommen, hast du dich geirrt!"

    Detective Gina Deluca war kurz davor, ins Telefon zu schreien und den Hörer aufzuknallen. Sie versuchte, ihre Wut zu unterdrücken. Robert wollte bei der Scheidung zweihundertfünfzigtausend Dollar von ihr für das gemeinsame Apartment. Woher auf einmal so viel Geld nehmen? Sollte ihn doch der Teufel holen. Die ständigen Auseinandersetzungen mit ihrem Noch-Ehemann setzten ihr kräftig zu. Auch ihren Kollegen auf dem Revier war es nicht verborgen geblieben, wie dünnhäutig sie geworden war. Dabei stand sie im Ruf, hart durchzugreifen und sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Das Leben war so schön gewesen. Robert und sie hätten nicht glücklicher sein können.

    Auf der Highschool hatte sie keinen Freund gehabt, was nicht an mangelnden Einladungen lag. Die meisten meldeten sich nach dem ersten Abend nicht wieder. Gina machte das nichts aus. Es war ohnehin nie ein Junge dabei, den sie wirklich interessant fand. Sie ging nur der Höflichkeit halber aus und um ihrer Mutter eine Freude zu machen. Diese sorgte sich sehr um ihr einziges Kind.

    Ihre Mutter war eine temperamentvolle Schönheit aus Italien, die mit einem drüben stationierten Soldaten in die USA gekommen war. Ihre Ansichten und Wertvorstellungen waren typisch italienisch. Eine Frau durfte eine solide Ausbildung absolvieren. Das vorrangige Ziel sollte es aber sein, einen guten Ehemann zu finden. Ginas Mutter wünschte sich für ihre Tochter einmal eine große Familie. Die ständigen Unterweisungen in hausfraulichen Fertigkeiten hatten das Mädchen dazu gebracht, all diese Dinge aus tiefstem Herzen zu hassen. Nur das Kochen machte ihr Spaß. Gina trieb sehr viel Sport, probierte alles Mögliche aus, um ihre Aggressionen abzubauen. Als die Mutter erfuhr, dass ihre Tochter eine hervorragende Kampfsportlerin war und ausgezeichnet Schießen gelernt hatte, war sie zutiefst bestürzt. Sie beschwerte sich bei Ginas Vater, kein Mann werde eine solche unweibliche Frau heiraten.

    Ihr Vater nahm das nicht so ernst. Als ehemaliger Soldat mochte er die entschlossene Art seiner Tochter. Er beruhigte seine Frau mit dem Hinweis, amerikanische Männer seien keine Italiener und kämen auch mit energischen Frauen gut zurecht.

    Nach der Highschool ging Gina ein Jahr nach Europa, besuchte die italienische Verwandtschaft und weitere Länder. Ausgerechnet da passierte es. In einer Jugendherberge stand er urplötzlich vor ihr – ein schlaksiger junger Mann mit wasserblauen Augen und blonden Haaren. Es war Liebe auf den ersten Blick. Von da an machten sie ihre Europareise gemeinsam. Sie hatte unendlich schöne Erlebnisse und Erinnerungen an diese Zeit. Robert war humorvoll und zeigte Verständnis für ihre Bedürfnisse. Seine ausgleichende Art bildete einen Ruhepol für ihr manchmal recht aufbrausendes Wesen.

    Sie kehrten nach Hause zurück und besuchten beide die Universität. Während Robert von Anfang an Medizin studieren wollte, versuchte Gina sich in verschiedenen Disziplinen. Nichts konnte ihr Interesse auf längere Zeit richtig fesseln. In diesem Fall war Ginas Mutter nicht beunruhigt. Die Aussicht auf einen gut verdienenden Schwiegersohn genügte ihr. Der Vater brachte Gina schließlich auf die Idee, in den Polizeidienst einzutreten. Hier könne sie doch ihre Sportlichkeit und den ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit richtig einsetzen. Damit hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Der Polizeiberuf war genau das Richtige.

    Nach der Heirat lebte sie mit Robert glücklich und zufrieden in einer kleinen Mietwohnung. Später leisteten sie sich ein hübsches Apartment. Es lief fast wie im Märchen. Bis zu dem Tag, als er ihr aus heiterem Himmel eröffnete, er liebe eine andere. Danach war nichts mehr wie vorher. Nicht nur sie musste mit diesem Schock klarkommen, auch ihre Umgebung reagierte verstört auf die Trennung. Gina bemerkte die vorwurfsvollen Blicke. Was hatte sie angestellt, um Robert in die Arme einer anderen Frau zu treiben? Sie fühlte sich unverstanden. Ihr Stolz verbot es, sich bei Familie und Freunden auszuweinen und um Mitleid zu betteln. Für Außenstehende schien es, als habe sie alles gut verkraftet. Sie ließ sich nichts anmerken, deshalb hielt man sie für abgebrüht und gefühlskalt. Natürlich spielte sie nur eine Rolle für ihre Umwelt. Aber das tat sie sehr gut. Die einzigen Menschen, die wirklich über Ginas Seelenzustand Bescheid wussten, waren Karen van Horn, die Sekretärin ihres Chefs, und Rafe Clover, ihr engster Kollege. Die beiden spendeten Trost und halfen mit ihrer Lebenserfahrung. Von Karen gab es die guten Ratschläge. Rafe half eher mit sarkastischen Kommentaren über trübe Stimmungen hinweg. Ab und zu vertrieb ein gutes Glas Rotwein am Abend die Geister der Vergangenheit.

    Wenn Robert einen Rosenkrieg haben wollte, sollte er ihn bekommen.

    Eintauchen, wischen, nachpolieren – es war eine eintönige Arbeit, mit der die beiden Männer in blauen Anzügen in der Fifth Avenue die große, gläserne Flügeltür putzten. Sie war der Eingang zur Galerie Valerie Morgan, für Kunstkenner eine der besten Adressen der ganzen Stadt. Wer hier ausstellte, hatte es geschafft. Seine Werke wurden von einer exklusiven Kundschaft begutachtet, die auch über die notwendigen finanziellen Mittel verfügte, um die Exponate zu kaufen.

    Die derzeitige Ausstellung zeitgenössischer Werke eines amerikanischen Malers schwamm auf der Erfolgswelle. Bei einer besonderen Abendvorstellung am nächsten Tag sollte der Künstler persönlich anwesend sein. Deshalb wurde alles für den großen Moment auf Hochglanz gebracht. Die Besucherliste verzeichnete wichtige zahlungskräftige Gäste. Es war von großer Wichtigkeit, einen reibungslosen Ablauf sicherzustellen.

    Für Valerie Morgan war dies ein Grund, die Arbeiten persönlich zu überwachen. Nachdem sie den beiden Männern eine Weile zugesehen hatte, schweifte ihr Blick zu ihrem Porträt, das neben dem Eingang hing. Als junge Frau war sie eine wahre Schönheit gewesen. Auch mit Anfang fünfzig hatte sie nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt. Bei den meisten Frauen mittleren Alters sah langes Haar nicht mehr passend aus. Valeries haselnussbraune Mähne jedoch fiel in dichten Locken über ihre Schultern und verlieh ihr eine reizvolle Jugendlichkeit. Das fein geschnittene Gesicht ohne störende Fältchen ließ die professionelle Arbeit eines Schönheitschirurgen erahnen. Jüngere Frauen beneideten sie um ihre makellose, schlanke Figur, bei der sich die Rundungen nur an den richtigen Stellen befanden. Sie trug ein cremefarbenes Kostüm von zeitloser Eleganz, das hervorragend zu ihrem Typ passte und sie zehn Jahre jünger aussehen ließ.

    Jay würde Augen machen, wenn sie ihm erzählte, dass sein teuerstes Bild bereits einen Abnehmer gefunden hatte. Dieser große Erfolg stellte die Basis für ihn dar, weitere Bilder zu verkaufen. New York war nur der Anfang. Mit ihren guten Beziehungen konnte sie Ausstellungen in Übersee organisieren und ihm zu einem internationalen Durchbruch verhelfen.

    Ihr Blick blieb an einer Schwarz-Weiß-Fotografie an der Wand hängen. Sie zeigte einen Mann mit ernstem Gesichtsausdruck und straff zurückgekämmten dunklen Haaren. Wie sie es ihm geraten hatte, lächelte er nicht auf dem Bild. Dadurch strahlte er eine geheimnisvolle Aura aus. Verstärkt wurde sie von einer Narbe, die sich von der rechten Schläfe bis zum Wangenknochen zog. Nur seine braune Hautfarbe hob sich nicht deutlich hervor. Jay Beaudine war Indianer vom Stamme der Blackfeet.

    Die Galerie Valerie Morgan präsentierte als Neuheit die Werke des Malers. Seit Jahren arbeitete sie mit Künstlern aus unterschiedlichen Ländern. Bisher hatte sie keine Ausstellung für einen Indianer organisiert. Dieser Teil der Bevölkerung fand im amerikanischen Vielvölkerstaat wenig Beachtung. Beaudines Werke trafen jedoch auf große Bewunderung. Die farbigen Ölgemälde waren von beeindruckender Schönheit.

    Jays exotische Ausstrahlung übte eine ungeahnte Anziehungskraft auf sie aus. Manchmal brachte er sie sogar dazu, ihre Selbstkontrolle zu verlieren. Es war eine ganze neue Erfahrung für sie. Ein irritierendes Gefühl, das sie ungeahnt stimulierte. Ihn zu lieben war aufregend. Der Gedanke daran jagte das Blut in einer warmen Welle durch ihren Körper. Er war ganz anders als ihre bisherigen Eroberungen. Es gelang ihr nicht, ihn zu durchschauen oder seine Handlungsweise zu erahnen. Sie hatte eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe und schaffte es in den meisten Fällen, eine Person nach ihren Vorstellungen zu manipulieren. Es war spannend und ein ziemliches Stück Arbeit, ihn so zu formen, wie sie ihn haben wollte. Das richtige Mittel dazu würde sich sicherlich finden. Sie musste nur ihrem siebten Sinn vertrauen. Es freute ihn, wenn sie seine Herkunft und die indianische Kultur wertschätzte, da diese den Hintergrund zu seiner Kunst bildeten. Wenn ihr ein paar bewundernde Worte dabei halfen, ihn noch mehr auf ihre Seite zu bringen, sollte es ihr recht sein. Es war wichtig für sie, in jeder Lebenslage die Oberhand zu behalten. Am Ende würde sie auch Jay Beaudine zähmen. Es war nur eine Frage der Zeit.

    Ihr ausgeprägter Geschäftssinn sagte ihr, dass die Ausstellung ein Erfolg würde. Nicht nur war Jay ein begehrenswerter Mann, auch am Verkauf seiner Bilder konnte sie gut verdienen. Ihr Lebensstil war aufwendig, die Unterhaltung einer Galerie in New York sehr teuer. Geld konnte man nie genug haben. In einem Vorvertrag hatte sie sich die Exklusivrechte für weitere Ausstellungen gesichert. Unwissentlich war Jay dadurch von ihr abhängig, was sie zu ihrem Vorteil zu nutzen gedachte. Eric, ihr Ehemann, langweilte sie inzwischen in höchstem Maße. Er interessierte sich nur für seine Musik und ließ ihr nicht die Aufmerksamkeit zukommen, die sie verdiente. Für den Augenblick hatte sie jedoch einen probaten Ersatz gefunden.

    Sie lächelte. Jay hatte ihren kleinen Wortwechsel vorhin am Telefon für bare Münze genommen. Eine geschickte Inszenierung, mit der sie ihn weiter in die Enge trieb. Das bot ihr einen guten Grund, von ihm eine Entschuldigung einzufordern. Valerie atmete tief durch. Sie musste sich bei ihrem Wiedersehen heute Abend nur richtig verhalten. Er wollte später zu einer Aussprache vorbeikommen, und die würde sie zu ihrem Vorteil nutzen. Das war nachher ein wichtiger Moment, sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht.

    Valerie begab sich auf einen abschließenden Rundgang durch die Galerie, um zu überprüfen, ob alles in Ordnung war. Die Mitarbeiter, die im Außen- und Innenbereich sämtliche notwendigen Tätigkeiten ausgeführt hatten, waren nach getaner Arbeit bereits nach Hause gegangen. Alleine und ungestört entging nichts ihren scharfen Augen. Sie genoss das erhebende Gefühl, durch ihr Reich zu wandeln. Die spitzen Absätze an ihren Schuhen erzeugten klackende Geräusche auf dem italienischen Marmorboden, die in den hohen Räumen nachhallten.

    Am Ende blieb sie vor dem Gemälde stehen, welches das Hauptwerk der Ausstellung bildete und am nächsten Tag von seinem Käufer abgeholt werden sollte. Es zeigte eine beeindruckende Büffeljagd. Die lebendigen Farben ließen es fast wie eine Fotografie erscheinen. Jedes Detail war mit kunstfertiger Präzision ausgeführt. Zottige, davonstürmende Bisons, verfolgt von mit Pfeil und Bogen bewaffneten indianischen Jägern auf ihren bemalten Pferden. Valerie betrachtete die Szene einzig und allein mit dem nüchternen Blick der Kunstexpertin. Es war das Dokument einer anderen Zeit, die gewaltsam beendet worden war und niemals wiederkommen würde.

    Ein leises Geräusch ließ sie aufhorchen. Urplötzlich lag ein seltsamer Geruch in der Luft. Sie fühlte sich unbehaglich, schüttelte diese Empfindung aber schnell ab. Schließlich war sie allein in der Galerie. Wahrscheinlich bekam sie Hirngespinste, weil sie den ganzen Tag noch nichts Ordentliches gegessen hatte. Sie nahm sich vor, nachher mit Jay ins nahe gelegene chinesische Restaurant zu gehen.

    Sie setzte ihren Weg zum Hauptschaltschrank fort, um einen Teil der Lampen zu löschen. Das restliche Licht verlieh der Galerie einen warmen Schein. Jay Beaudine sollte seine Bilder mit ihr zusammen in einer romantischen Stimmung betrachten. Der Abend war noch lang.

    Nachdem sie den Schalter umgelegt hatte, bemerkte sie wieder diesen seltsamen Geruch, diesmal begleitet von einem schlurfenden Geräusch. Valerie drehte sich um und erstarrte zu einer Salzsäule. Zwei grausame, kalte Augen blickten sie an. Der eisige Schreck, der sie durchfuhr, hielt sie wie in einer Stahlklammer gefangen und machte sie bewegungslos. Sie wollte schreien, doch kein Laut entrang sich ihrer Kehle, als sich der Schatten langsam auf sie zubewegte.

    Der Junge zählte ungefähr zwölf Jahre. Sein auffälliges schwarzes Haar unterstrich die braune Gesichtsfarbe. An dem Baum, vor dem er stand, hing eine Wurfscheibe, auf die er mit kleinen Pfeilen zielte. Er schien geübt zu sein, meistens traf er in die inneren Ringe. Wenn er die Wurfgeschosse aufgebraucht hatte, begann er stets von Neuem. Langeweile stellte sich nicht ein. Er konzentrierte sich mit großem Einsatz auf seine Tätigkeit.

    Der auffrischende Wind jedoch veränderte die Flugbahn der Pfeile. Der Junge richtete den Blick himmelwärts und sah bizarre Wolken, die sich zu dicken Knäueln zusammenballten. Seine dunklen Augen wirkten riesengroß in dem hageren, kleinen Gesicht. Das ausgewaschene T-Shirt hing schlaff an ihm herunter. Eine löchrige Jeans flatterte um seine mageren Beine.

    Er stand im hohen Gras, um ihn herum lagen verstreut verrostete Autoteile und anderer Schrott. In einiger Entfernung stand ein alter Wohnwagen, der schon deutlich bessere Zeiten gesehen hatte. Irgendwann waren seine Räder abhandengekommen. Niemals mehr würde er auf die Landstraße zurückkehren.

    Ein brummendes Geräusch zog das Interesse des Jungen auf sich. Begleitet von einer Staubwolke näherten sich gleich zwei Fahrzeuge. So viel Besuch war ungewöhnlich. Er runzelte beunruhigt die Stirn, als er in dem ersten Fahrzeug ein Polizeiauto erkannte. Achtlos fielen die Pfeile aus seiner Hand, und er rannte atemlos hinüber zum Wohnwagen.

    Er riss die Tür auf und trat ein. Sofort stieg ihm abgestandene Luft in die Nase, eine Mischung aus Alkoholdunst und Tabakrauch. Seine Eltern saßen an dem kleinen Tisch. Offensichtlich waren sie bereits am frühen Nachmittag so betrunken, dass sie sein Hereinkommen nicht bemerkt hatten.

    Einen Augenblick später verschafften sich zwei Polizisten und eine Frau in Zivil Zutritt zum Wohnwagen. Mit einem Mal war die klaustrophobische Enge der armseligen Behausung körperlich spürbar. Der Junge sagte kein Wort. Seine Pupillen weiteten sich, und er drückte sich ängstlich an die Wand, während er die Eindringlinge musterte.

    Er sah, wie die Frau ihren Blick durch den winzigen Raum schweifen ließ. Abscheu zeichnete sich deutlich auf ihrem Gesicht ab. Die spärliche Einrichtung war abgewohnt. Alles starrte vor Schmutz, und sie wusste offenbar nicht, wohin sie ihre Füße setzen sollte. Die zum alltäglichen Leben notwendigen Gegenstände lagen in einem großen Durcheinander auf dem Boden und bedeckten ihn fast komplett.

    Die Eltern des Jungen hoben erst die Köpfe, als der größere der beiden Polizisten ein Blatt Papier hervorzog. Er las vor, hiermit sei ihnen das Sorgerecht für ihren Sohn entzogen. Eine geeignete Pflegefamilie werde ab sofort die ordnungsgemäße Erziehung übernehmen.

    Der Junge erstarrte. Der gepeinigte Aufschrei der Mutter und der bittere Gesichtsausdruck des Vaters würden für alle Ewigkeit in seinem Gedächtnis bleiben. Er streckte verzweifelt die Hände nach ihnen aus, doch zwei kräftige Arme ergriffen ihn und schleiften ihn aus dem Wohnwagen.

    Im Polizeiauto sitzend sah er, wie seine Eltern aneinandergeklammert vor ihrer armseligen Behausung standen. Die Mutter schluchzte, die Tränen liefen ihr in Strömen über das verhärmte Gesicht. In den Augen seines Vaters stand eine eisige, unbändige Wut. Es war gängige Praxis, Indianern die Kinder unter mehr oder weniger fadenscheinigen Gründen wegzunehmen. Man ließ ihnen die Erziehung der Weißen angedeihen und zerstörte damit die indianische Kultur immer weiter.

    Ein hohler Ruf erklang aus dem Baum, an dem die Wurfscheibe hing. Der Junge drehte den Kopf und erspähte auf dem obersten Ast eine Eule. Das Erscheinen dieses nächtlichen Jägers verhieß im Glauben seines Volkes großes Unglück. Er wusste, der Schrei war an ihn gerichtet. Trotz der Entfernung fühlte er, wie der Vogel tief in seine gequälte Seele blickte und ihn aufforderte, stark zu sein. Der Junge erkannte unwillkürlich, dass er seine Eltern nie wiedersehen würde. Obwohl ihm dieser Gedanke fast das Herz zerriss, blieb er äußerlich ruhig und mit versteinerter Miene sitzen.

    Der Polizist am Steuer sah in den Rückspiegel und betrachtete den reglosen Jungen mit Unbehagen. Ein weißes Kind hätte an seiner Stelle geweint und gestrampelt. Wieso verhielt dieser Junge sich so still? Der Beamte ließ seinen Blick über die schäbige Umgebung wandern. Sie befanden sich im reichsten Land der Erde, doch hier gab es weder ein festes Haus, geschweige denn Strom oder fließend Wasser. Der nicht asphaltierte Weg bestand nur aus Schlaglöchern und verdiente die Bezeichnung Straße nicht. Bei der Herfahrt war er nicht über den zweiten Gang hinausgekommen. Es drängte ihn, diese unbekannte, fremde Welt schnell wieder zu verlassen.

    Eine unheimliche Kraft schien sie in die Tiefe zu ziehen. Ginas Blick wanderte nach oben. Dort war das Sonnenlicht! Dort musste sie hin! Doch sie konnte nichts tun. Unaufhaltsam sank sie nach unten in ein bodenloses, unergründliches schwarzes Loch.

    Ein schrilles Geräusch ertönte. Das Klingeln des Telefons riss Gina aus ihrem Albtraum. Es hatte sich so real angefühlt. Sie wunderte sich, dass sie überhaupt Atem holen konnte. Ihre Hände fuhren hoch und umfassten den Kopf. Das ständige nervtötende Läuten des Telefons machte alles noch schlimmer. Sie wollte nicht aufstehen, an nichts denken, nur liegen bleiben. Das Bimmeln ging immer weiter. Als sie schließlich abhob, ertönte die verärgerte Stimme ihres Partners Rafe Clover.

    „Na endlich, hoffentlich bist du jetzt wach. Ich hole dich in fünfzehn Minuten ab. Solltest du nicht vor dem Haus stehen, kannst du sehen, wie du zum Tatort kommst."

    Sie hörte, wie er den Hörer aufknallte. Folglich benutzte er nicht das Mobiltelefon, sondern rief vom Revier aus an. Gina kannte Rafe gut genug. Er würde sein Wort halten. Eile war angesagt, schnell anziehen und etwas gegen die Kopfschmerzen einnehmen. Als sie sich im Fahrstuhl die Jacke überstreifte, bemerkte sie belustigt den furchtsamen Blick eines älteren Mannes. Er fixierte ihr umgeschnalltes Pistolenhalfter. Möglicherweise sah sie gerade nicht wie eine Polizistin aus, sondern eher wie ein übernächtigter Drogenjunkie. Als sie zur Tür hinaushastete, kam schon Clovers Chevy vor ihr zum Stehen.

    Das Auto war wie immer sauber geputzt. Rafe trug einen makellosen dunkelgrauen Anzug mit blauem Hemd und passender Krawatte. Ginas Kleidung dagegen bestand aus saloppen Jeans, T-Shirt und einer schwarzen Lederjacke. Damit unterstützte sie aufs Neue Rafes These, dass Schwarze, ob Mann oder Frau, mehr Wert auf elegante Kleidung legten als viele Weiße. Rafe und seine Frau besaßen einen wohlsortierten Kleiderschrank. Clover war Mitte fünfzig. Die vereinzelten grauen Haarsträhnen und das faltenfreie Gesicht verliehen ihm ein distinguiertes Aussehen und eine gewisse Ähnlichkeit mit Sidney Poitier.

    Er warf Gina einen leicht mitleidigen, abschätzenden Blick zu. Ihrem Äußeren nach war es gestern spät geworden. Der derzeitige Lebenswandel seiner Partnerin gefiel ihm nicht besonders. Als er sie darauf ansprach, antwortete sie nicht, sondern stellte die Gegenfrage, wo die Fahrt hinginge.

    „Wir fahren zu einer Galerie, antwortete Rafe. „Die Inhaberin wurde tot aufgefunden. Er bemerkte Ginas Augenringe, das fehlende Make-up und die verwuschelten Haare. Seit der Trennung von ihrem Mann war aus der fröhlichen Kollegin von einst eine verbitterte Frau geworden. Sie legte jedes Wort auf die

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