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Sinnlicht: Eine Kleingartenbeklemmung
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Sinnlicht: Eine Kleingartenbeklemmung
eBook323 Seiten4 Stunden

Sinnlicht: Eine Kleingartenbeklemmung

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Über dieses E-Book

Ein erbärmliches Ableben und ein perfider Mord entlarven Doppelmoral, Wohlstandsverwahrlosung und Polit-Intrigen rund um ein (nazi-)geschichtsträchtiges Kleingarten-Idyll vor den Toren Wiens. Die Geschichten von Lee Mann spielen in einer ganz speziellen Kleingartensiedlung im Osten der österreichischen Bundeshauptstadt Wien. Hier am Donau-Oder-Kanal – kurz DOK genannt – liegt eine vordergründig zauberhafte Idylle, in der es allerdings ganz schön hintergründig zugehen kann.
SpracheDeutsch
HerausgeberEpha
Erscheinungsdatum21. Aug. 2017
ISBN9783962177355
Sinnlicht: Eine Kleingartenbeklemmung

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    Buchvorschau

    Sinnlicht - Lee Mann

    Unanständige.

    I. novembernächtlich

    Müll hat viele Varianten.

    Trennen lernen Arrivanten.

    Heute ist Gelber Sack. Sagt der Müllkalender. Warum der Gelbe Sack ein Sack ist und alles andere eine Tonne, wissen nur Gott und das Umweltreferat der Niederösterreichischen Landesregierung. Überhaupt, die Gesetze des Abfalls. Die kleinste Tonne, die einem hier im Kleingartenidyll um satte Müllgebühren zur Verfügung gestellt wird, ist die braune für Bioabfälle, knapp gefolgt von der anthrazitgrauen für den Restmüll. Letztere ist sogar für die Zweipersonen-Wochenend-Domizile sowas von zu klein, dass die Desperados unter den Anwohnern nachts mit ihrem Haushaltsmist heimlich die Abfallkübel der Marchfeld-Metropole Großleiten verstopfen, zu der die beiden besiedelten Aushub-Becken des liebevoll „DOK" gekürzelten Donau-Oder-Kanals gehören.

    Das größte Volumen bietet der Kübel fürs Altpapier. Herrschaftsseiten! Die Blätter, die in so einem Schreber-Soziotop anfallen, sind grün. Oder braun. Jedenfalls Natur pur, ganz ohne Druckerschwärze. Und wenn doch bedruckt, dann ziemlich Yellow. Aber bestimmt nicht großformatig, vielseitig und rosa.

    Ein kreativer Gebühren-Kalkulierer hat sich schließlich die Bürgerverhöhnung der aufpreispflichtigen XL-Tonne einfallen lassen. Das Extra gibt’s aber nur für den Restmüll. Das Mehr an Füllmenge, das man am dringendsten brauchen würde, um Grasmahd, Strauchschnitt & Co. zu verstauen, ist nicht mal für gutes Geld zu haben.

    Dafür spendiert uns der Abfallwirtschaftsverbund regelmäßig ein schmuckes Info-Magazin in den Briefkasten. Ein Blatt voller Appelle, Anforderungen und Vorschriften. Termine, zu denen der richtige Kübel in der vorgeschriebenen Weise pünktlichst an der vorgeschriebenen Stelle auf Entleerung zu warten hat. Lange Bullet-Point-Listen, piktogrammgeschmückt, was in welche Tonne darf und was nicht. Komplizierte Anmeldevorgänge für die Sperrgut-Abholung. Ausweispflicht für den Müllplatz. Unsere Staatsgewalten scheitern am grenzüberschreitenden Info-Austausch über Terrorverdächtige und lassen zu, dass globale Großkonzerne weniger Steuern zahlen als lokale Imbissbuden. Aber den Mist einer Schrebergartensiedlung regeln, das können sie. Und zwar 1A.

    Nun. Gelber Sack also. Die fünf schwarzen Plastikblumentöpfe, Bastarde jeder sauberen Trenn- und Raumspar-Taktik, noch tief zwischen den ordnungsgemäß flachgedrückten PET-Flaschen versteckt, und raus vor die Gartentür mit dem blassgelben Bündel.

    *

    Der Mann mit den drei Speicherkarten in der Brusttasche schert sich nicht um Gelber Sack. Für ihn erledigen das Andere. Die Säcke, um die er sich kümmert, sind rot, schwarz, immer öfter auch blau. Sehr selten gibt es Grüne. Und sogar das liberale Pink verheißt vereinzelt Potenzial. Heute hat er einen oberwichtigen Sack vom „Verein Gesundes Wien" sowie zwei einflussreiche Apothekenbetreiber für die Verwertung aufbereitet.

    Die Aufnahmen sind scharf, in jeder Hinsicht.

    Zufrieden schließt der Mann das Gartentor und geht zu seinem Wagen.

    *

    Immer geradeaus, Miri. Geradeaus. Und treten. Treten. Nicht denken.

    Nicht an die Schmerzen in der Hüfte denken, nicht an das Stechen im Handgelenk.

    Einfach in die Pedale treten. Links, rechts, links, rechts.

    Den Weg kennen wir ja. Ist zwar der längere, oben herum um den DOK statt unten durch das Stück Auwald, aber um halb drei, bei Nacht, Regen und Grauem Star, zählt die Berechenbarkeit einer Route mehr als ihre Länge.

    Die Sattelauflage aus alten Deckenfetzen macht’s dir bequem, nicht? Zahlt sich aus, dass wir die genäht haben, gell, Miri.

    Und erst die Regenjacke aus dem Altkleider-Container.

    „Ölzeug" hat sowas in den Kinderbüchern immer geheißen. Norddeutsche Jugendliteratur, gebaut aus Bubenträumen vom Zur-See-Fahren. Bin zwar ein Mädchen, heute schon ein altes, aber geliebt hab ich sie, die Matrosenabenteuer!

    Obwohl, unter Ölzeug konnte ich mir nie recht was vorstellen. Jetzt hab ich es an.

    Sie ist zu weit, die alte Gummijacke. Aber schön lang dadurch.

    Auch nicht mehr so schön gelb, wie sie einmal war, als neue. Ziemlich ausgebleicht.

    Blassgelb.

    Gelbersackgelb.

    Aber dicht.

    Darauf kommt es an.

    Da vorn ist die Abzweigung zum Leidner.

    Der riesige weiße Würfel seiner Gemüsewaschhalle. Das Lagerhaus daneben. Nur Schemen.

    Wegen dem Regen. Wegen dem Grauen Star.

    Und wegen der Reste.

    Miri, Reste darf man nicht verkommen lassen, hat die Oma immer gesagt.

    Und ich lass nix verkommen.

    Schon gar nicht so gute Reste wie die von der Schriefner-Feier.

    Was die Leute sich immer nachschenken lassen, wenn sie es doch eh nicht austrinken.

    Wahrscheinlich wegen der Mädeln, die der Schriefner zum Servieren hat.

    Da haben die Herren Apotheker gleich zweimal zu tief geschaut.

    Und das letzte Schauen ist halt nicht ins Glas gegangen.

    Und dann sind die Männer gegangen. Mit den Mädeln.

    Geblieben sind die Gläser. Eins nach dem anderen haben wir dann brav in die Kisten von der Firma gestellt, die alles angeliefert hat.

    Rest in die Kehle, Glas in die Kiste.

    Sauber, Miri.

    Ein Segen, dass mir der Schriefner immer wieder so eine Arbeit gibt.

    Das Geld ist ein Segen.

    Dass es die von der Mindestsicherung nicht erfahren, ist ein Segen.

    Und heut Abend der gute Schnaps, der war auch ein Segen. Wäre schade drum gewesen, auch nur einen Tropfen davon in die Abwasch zu leeren.

    Ja, weiß schon, wir wollten nix mehr saufen.

    Eh, Miri. Morgen.

    Jetzt aufpassen.

    Privatstraße Ende, Anfang öffentliche Landstraße.

    Schon ein Viertel vom Heimweg geschafft.

    War die Fahrbahn immer schon so schmal?

    Und rechts der Graben zum Feld immer schon zu nah?

    Schwenk lieber auf den linken Rand, Miri. Auf den Parkstreifen.

    Kaum Autos, keiner mehr da um die Jahreszeit.

    Entgegen kommen wird uns auch niemand um die Zeit.

    Die Arbeiter vom Leidner fahren erst kurz vor fünf hier durch.

    Gelber Sack. Gelber Sack. Gelber Sack. Nix. Nix. Nix. Vergessene Biotonne. Nix. Nix. Vorzeitig rausgestellte Restmülltonne. Nix. Gelber Sack. Gelber Sack.

    Der Zehn-Meter-Rhythmus der Schrebergarten-Grundstücksbreiten.

    Sind doch noch ein paar Leute da gewesen, nach dem Rechten sehen im Sommerhaus und den Mist pünktlich rausstellen.

    Was ist das da vorne?

    Wenn ich nur besser sehen könnte.

    Miri, pass auf.

    Der Rumpler.

    Auweh, die Hüfte.

    Schuh rutscht vom Pedal Hand zuckt vom Lenker Bein dreht in die Kurbel Kopf schaut nach unten Blick zieht zum Boden.

    Sturzbetrunken. Sturz, betrunken.

    Immer näher kommt das Muster der Pflastersteine, Geometrieverschlingungs-Biedermeier in Gussbeton. 

    Kurbel kreiselt im Nichts Kotflügel kratzt auf Rau-Grau Speiche spleißt Felge filetiert Fußfleisch Nabe nagelt sich in Schenkelfett.

    Miri, jetzt liegen wir da.

    Ich und das Rad.

    *

    „Jetzt hat der Schriefner schon wieder so ein schwachsinniges Event am Laufen und seine verrückte Beleuchtung auf höchste Stufe geschaltet." Gerry Spinnart braucht einen Sekundenbruchteil, um zu erfassen, dass sich die Tonart der Stimme vor ihm signifikant verändert. Besser gesagt: Sein Blut braucht etwas Zeit, um auch wieder den Kopf zu versorgen, der diese Wahrnehmung zu verarbeiten hat. Und wo war das wunderbare Wogen des mächtigen Hinterns auf seinen Hüften hin, das weiche Wiegen des Bassgeigen-Rückens im Rhythmus seiner Stöße? Er hätte Ida nun auch einfach rechts um auf den Bauch drehen können, ganz ohne Rausrutschen. Die Wende bringt er physisch noch einwandfrei. Auch die Worte, die eine abgelenkte Geliebte ganz schnell wieder auf den richtigen Fokus lenken. Doch blöderweise hatte sein Hirn so viel Blut abgekriegt, dass auch er die gleißenden Farbspiele schräg gegenüber nicht mehr ausblenden kann.

    Sinnlicht. So ein Unsinn! Da war nichts sinnvoll und auch überhaupt nichts sinnlich an diesem knallfarben changierenden Kunstlicht, mit dem Ewald Schriefner sein monströses Haus und den fast vollständig zubetonierten Garten seiner Doppelparzelle illuminiert, um die Lebenssinn spendende Wirkung seiner „Lobaulicht-Lampen" zu demonstrieren.

    Normalerweise war Spinnart ja einer der Besonneneren, wenn es um Schriefners Esoterik-Palast geht. An den Spekulationen um abartige Vorgänge im Tiefgeschoß des Gebäudes beteiligt er sich nicht. Und während die meisten anderen Anrainer in diesem DOK-Abschnitt die – im höchst unöffentlichen Umfeld der nach außen abgeschotteten Privatufer-Grundstücke mehr als bizarr anmutende – Einrichtung des „Zentrums für Aukräuter-Heilkunde und Lobaulicht-Therapie nur mehr mit Schaum vor dem Mund kommentieren, vertritt Gerry eher die entspannte „Leben-und-Leben-Lassen-Minderheitenposition. Dass da immer wieder Veranstaltungen für Ortsfremde abgehalten werden, dass das Schnattern der Gästescharen die intime Beschaulichkeit des DOK-Lebens stört, dass da unter dem Deckmantel eines gemeinnützigen Vereins ein ziemlich diskutables Business läuft: Damit kann Gerry im Allgemeinen kritisch, aber nüchtern umgehen. Im Speziellen jedoch, ganz speziell in dem Moment, als sein Ständer keiner mehr war und lasch aus Ida flutschte, hätte er den Aukräuter-Affen da drüben umbringen können.   

    Am nächsten Tag, Ida und er sitzen früh beim Frühstück, nachdem sie noch früher nachgeholt haben, was in der Nacht zuvor so mau verdümpelt war, dauert es nicht lang, bis die ein, zwei üblichen Verdächtigen unter den Ganzjahres-Anwohnern bei Gerry Spinnart ihre Erkenntnisse deponieren: Eine Runde Apotheker war es, die Schriefner gestern Abend in einem seiner obskuren Heilungs-Workshops hofierte. Locker bis drei Uhr wäre die Chose gegangen. Einer der beiden Anrufer hat sogar viel später noch Autos wegfahren gehört, als der Schriefner-Palast schon längst im Dunkeln lag. Und im Lauf des Morgens sollte Gerry schließlich noch ganz andere Neuigkeiten erfahren.

    *

    Die Frau, die wahrscheinlich schon mit einer Perlenkette um den Hals geboren wurde, hat die Fähigkeit des Dämmerns perfektioniert. Denn in dieser Weltverrückung zwischen Schlafen und Wachen, da, wo einem die Träume fast gehorchen, da liebte Konrad sie noch. Wie absurd sein Tod doch war! Lebenslang fit, ernährungsbewusst, von intensiver waidmännischer Naturverbundenheit – und dann rafft ihn in der Blüte seiner Seniorpartner-Jahre der Herzkasperl dahin. Immas Einsamkeit in den acht Jahren seither übertraf die typische Teilzeit-Einsamkeit der heimlichen Geliebten, die sie ihm Jahrzehnte lang von Herzen gerne war, um den Faktor unendlich.

    Im Dämmern holt sie ihn zu sich zurück. Wenn die Träume besonders gut gehorchen, kann sie ihn hören, spüren, riechen. Lediglich das Sehen hatte sich ihr bald nach seinem Ableben auf perfide Weise entzogen. Sie ist in der Lage, Details seines Körpers auf ihre innere Leinwand zu bringen, sie kann tausende Szenarien gemeinsamer Erlebnisse heraufbeschwören, sie sieht sich selbst an, neben, unter, vor, über, hinter ihm. Aber sein Gesicht, das bekommt sie nicht scharf. Nur ganz, ganz selten klart es hervor, gibt ihr trügerische Sicherheit von Nun-nie-wieder-Verlieren. Doch so sehr sie das rare Bild festzuhalten versucht – die Träume sind unbarmherzig.

    Jetzt dämmert sich Imma gerade nach Schloss Kapfenstein, wo Klaus und sie sich nach einer Kanzlei-Tagung noch eine zusätzliche gemeinsame Nacht gestohlen hatten. Als Primus inter Partner-Pares genoss Prof. Dr. Konrad Wolarsky natürlich das Privileg des schönsten Turmzimmers. Was für ein Schwelgen war das, eingehüllt in dicke Decken auf dem breiten Sims des offenen Fensters dem Nebel über den Weinbergen zuprosten. „Du gehst mit mir noch die Recycling-Verordnung durch, Strasser", hatte er ihr, der Leiterin des innovativen, neuen Bereichs Umwelt- und Anlagenrecht, damals vor den Kollegen den Weg zum Dableiben geebnet. Juristische Belange fanden dann jedoch wenig Raum in ihren folgenden Stunden.

    Interessanterweise drehen sich Immas Dämmerungen selten um sexuelle Eindeutigkeiten. Mag sein, weil ihr das auch in der Realität nie so besonders wichtig gewesen ist. Oder, weil Konrads Erotik soviel sperriger war als sein Lieben diesseits der Erregung. Jedenfalls holt sie sich gerade seine Umarmung, die warme, entschlossene Hand auf ihrer Schulter, seine Stirn an ihrer, den Duft von dezent verstoffwechseltem Hermès am Ende eines langen Tages, das Ritual des weitergereichten Einer-für-Zwei-Bademantels zur Ablöse im Badezimmer und die Innigkeit, mit der er sie zum Einschlafen stets in sich einschlug. Es war selten, dass sie ein Bett teilen konnten. Und daher umso kostbarer.

    Bett. Nein, das ist nicht ihr Bett, in dem sie hier liegt. Obwohl die Nacht schon weit fortgeschritten sein muss, das fühlt sie. Wo war sie? Imma braucht einige Momente zur Orientierung. Das funzelige Licht der Küchenbar hilft kaum, erst langsam werden die Konturen klar: Es ist das Sofa ihres DOK-Hauses, aus dem sie gerade ihre dünnen Glieder windet. Das ging früher schon mal flüssiger. Verdammtes Altern. Fast zugeparkt von Kartons und gestapelten Möbeln, resümiert sie: Spätnachmittags wieder eine Fuhre aus der Stadtwohnung rausgebracht, gemeinsam mit ihrem sonderbaren, unheimlichen, aber momentan in mehr als einer Hinsicht sehr nützlichen Halbbruder Nick hier reingeräumt, seinen Bericht in der anderen Angelegenheit gehört, den Bastard nach ein paar verlogenen Nettigkeiten heimgeschickt, dann auf der Couch eingenickt. Und nun war es halb vier Uhr früh. Verdammt. Der Möbelwagen muss zurück. Noch einen Halbtag Miete für den Transporter – solchen Luxus kann sie sich nicht mehr leisten.

    *

    Auch Nikodem Strasser wachte in diesen wee small hours of the morning. Er hatte wieder mal Stunden im Netz verbracht, leidlich erfolgreich. Nun, noch zu aufgekratzt, um gleich einzuschlafen, rekapitulierte er den Stand des Projektes Bernreich. Target: Edith Bernreich, neue Kollegin im Management-Team seines Arbeitgebers. Mission: ihr möglichst baldiges berufliches Scheitern. Client: Immakulata Strasser, diese ausgedörrte, hölzerne Heuchlerin von Halbschwester.

    Was Imma gegen die Bernreich hatte, war klar. Schwesterchen hatte es Nick hasserfüllt hingespien, die Zeitung mit der Karriere-Meldung über den neuen Job ihrer Erzfeindin hysterisch in sein Gesicht wedelnd. „Diese Schlange, geiferte sie, „diese Schlange ist schuld daran, dass ich aus der Kanzlei geschmissen wurde! Die demütigende Kündigung, die folgenden Jahre der Hungerleider-Selbstständigkeit sowie deren fatale Auswirkungen auf die Pensionshöhe, der soziale Abstieg auf dem professionellen Parkett, weil Immas Visitenkarte nun nicht mehr das Logo einer Top-Tier-Sozietät trug – alles wegen Bernreich. Dass das Unheil seine Ursache tatsächlich in Konrad Wolarskys Absägung – offiziell: ehrenvoller Übertritt in den wohlverdienten Ruhestand – hatte, dass Immas Rauswurf lange vor Edith Bernreichs Engagement von Konrads Kronprinz und designiertem Nachfolger vorgeplant war, dass sich die halbe Kanzlei schon seit Jahren über die ungerechtfertigte Protektion den Mund zerriss, die Strasser und ihr unprofitabler Fachbereich dank der Liaison mit dem Chef genossen, dass die Bernreich gar nicht wusste, welchen Abschied ihre Ankunft bedingen würde: alles keine Argumente für Imma. Wie so oft nahm hier eine Frau die andere Frau ins Visier, statt die wahren Schuldigen zu stellen. Ein seltsames Naturgesetz.

    Nick hatte persönlich rein gar nichts gegen seine neue Kollegin. Genau genommen war sie nicht mal übel. Weder fachlich noch menschlich. Aber soziale Befindlichkeiten waren keine berechenbaren Ressourcen. Am Screen wie im Leben zählten für Nick nur das Kalkül und die Input-Output-Relation. Und die sprach aus seiner Perspektive halt gegen Bernreich.

    Lange Zeit lag es zurück, dass Nick sich tiefere Emotion erlaubte. Etwa 13, 14 Jahre alt musste er gewesen sein, als er erfuhr, wer sein Vater war und dass es da noch einen anderen Teil seiner Familie gab. Den anständigen. Den anerkannten. Den an der guten Adresse. Doch weil der noble Hofrat Strasser, johannistriebig unvorsichtig, noch einen späten Stich gemacht, sein geschwängertes Pantscherl effizient unter Druck gesetzt und die dralldumme junge Frau dazu gebracht hatte, ihr Baby zur kleinbäuerlichen Verwandtschaft ins tiefste Burgenland abzuschieben, war nur Imma die Gnade der hochwohlgeborenen Kindheit zuteil. Sie aß mit silbernen Löffeln. Nick hingegen hatte den Saudreck zwischen den Zehen. Das einzige, was ihn mit seiner um mehr als ein Jahrzehnt älteren Halbschwester und dem Strasser-Stamm sichtbar verband, war seines Vaters Vorliebe für pompöse Vornamen. Immakulata, Nikodem. Was musste Nicks Mutter doch für eine Gans gewesen sein, dass sie sich nicht nur sämtliche Ansprüche ab-, sondern auch noch diese Namensgebung aufschwatzen ließ.

    Natürlich hatte der erwachsene MMag. (FH) Nikodem Strasser versucht, zu seinem Recht zu kommen. Doch von Amts wegen war nichts zu machen, moralisch konnte man dem bereits verstorbenen alten Strasser und seiner ebenfalls schon toten Gattin nicht mehr beikommen, und juristische Belangung der einzig offiziell hinterbliebenen Halbschwester scheiterte an den hohen Kosten sowie an der befürchteten zusätzlichen Stigmatisierung, als Bankert nicht nur genetisches Treibgut, sondern in dieser Eigenschaft auch noch aktenkundig oder gar, der Halbprominenz der Hofrats-Sippe geschuldet, medienöffentlich zu sein.

    Allerdings punktete Nick schließlich mit einem seiner Talente, das ihm bald zur nahezu einzigen echten zwischenmenschlichen Leidenschaft geriet: Er liebte die Suche nach den Hebeln, mit denen Andere zu knacken waren. „Herausfinden, welche Knöpfe man drücken muss", nannte er das. War die solchermaßen erforschte Person irrelevant, löschte er sie von seinem Radar. Konnte sie seinen Interessen nützen, wurde ihre Manipulierbarkeit zur kalkulierbaren Ressource. Und genau so hatte er Imma erwischt. Dieses weihrauchwütige, charitybewegte, sozialdünkelgeplagte und vor allem reputationsbesorgte Opfer war ihm glatt reingefallen auf sein herzensrein vorgebrachtes Ansinnen nach emotionaler Familienzugehörigkeit bar jeglichen materiellen Anspruchs.

    Und so entstand eine fruchtbare Zweckgemeinschaft: Die verarmte, inoffiziell verwitwete und emotional vereinsamte Imma hatte jemanden, der ihre gallig-traurigen Geschichten anhörte, ihre Lasten schleppte und ihre Karrierekillerin aufs Korn nahm. Nick wiederum nutzte seine Halbschwester als zentralen Knotenpunkt zum Aufbau eines gesellschaftlichen Netzwerks und schaute sich heimlich das eine oder andere Insignum aus dem ungeschriebenen Kanon der gehobenen Herkunft ab, um es, Copy-Paste, zur Verfeinerung seines eigenen Pedigrees zu nutzen.

    Außerdem gab es da noch den Deal, der alles rund machte: Grundstück und Haus am DOK würden nach Immas Tod garantiert an Nick gehen. Das Testament unabänderlich, das Veräußerungsverbot im Grundbuch eingetragen. Und saftiger Endvierziger, der er war, hatte Nick alle Hoffnungen, die seit dem Tod ihres Liebhabers seelisch wie körperlich zunehmend hinfällige Anfangssechzigerin bald zu beerben.

    Er vermochte gar nicht genau festzumachen, warum ihm so viel an diesem Schrebergarten lag. Vielleicht, weil Leute aus kleinen Verhältnissen nur mit überschaubaren Paradiesen umgehen können? OMG! Ja, du kriegst den Mann aus dem Saudreck. Aber du kriegst den Saudreck nicht aus dem Mann. Anyway. Dafür zahlte es sich jedenfalls aus, sein Netz der Intrigen und Manipulationen um Edith Bernreich zu spinnen. 

    *

    Ob die Mädeln vom Schriefner jetzt noch Apotheker zwischen den Schenkeln haben? Ich hab mein Rad zwischen den Beinen.

    Ist mir immer noch lieber als so ein besoffener, geiler Weißmantel.

    Blöd nur, dass bei mir kein weiches Bett drunter ist. Nur harter, nasser Asphalt.

    Wenn ich mich kleiner mache, zusammen rolle, geht es besser.

    Den Hals muss ich grad strecken in der Position, sonst macht mein Genick nicht mehr mit.

    Die Hand tut so weh. Mit der anderen vor den Bauch halten, das hilft.

    Aufstehen, Miri. Nein, nicht mal versuchen. Chancenlos.

    Der Kopf will nicht der Körper kann nicht.

    Ist ja zum Aushalten so. Lieber warten. Nicht mehr treten. Nicht mehr denken. Schlafen vielleicht. Nur nicht denken.

    Alter Mensch altes Rad rostiges Blech auf ausgeleiertem Fleisch verbogener Draht auf mürben Knochen.

    Ein Bündel Lebensversagen. Blassgelb.

    *

    Beim Leidner arbeitest du schwer. Lang, laut, dreckig. Passiert auch immer wieder was mit den Maschinen für das Gemüse. Letztes Mal die Finger von Ondrej. Und natürlich keine Rettung, keine Meldung, kein Krankengeld. Nur der besoffene Altedoktor aus Großleiten für Erstehilfe. Aber du beschwerst dich nicht. Ist ein guter Job, wenn du ein ungelernter Slowake bist, Baumaterial für dein kleines Haus kaufen musst und Ivanka unbedingt euer zweites Kind machen will. Hast sogar den Bus. Immer Donnerstag bis Sonntag. Fahrst die anderen aus Bratislava zur Leidner-Fabrik. Immer um Viertel nach, alle bei Treffpunkt an der Straße zur Grenze, um fünf Uhr dann Ankommen, schnell Umziehen. Kaffee vom Automat in der Früh gratis, aber nur erste zehn Minuten und nur einmal Drücken pro Mann.

    Der Regen ist nicht gut. Geht langsam heute. Erst Hainburgdonaubrücke, und schon Zehn nach.

    *

    Wenigstens auf der Stadtautobahn ist die Beleuchtung besser. Den Weg aus Großleiten bis hierher hat Imma wie in Trance zurückgelegt. Der Regen, der Nebel, der ungewohnt große Wagen. Finster war’s, der Mond schien helle, als ein Wagen blitzeschnelle… Warum dröhnt sie sich das Denkvermögen zu mit dem Morgensterngedicht, schon Kilometer lang? Wie blank gewischt, ihr Hirn. Konzentrier dich, Trampel. Du hast keine Kaskoversicherung mit abgeschlossen. Endlich. Die Abfahrt zum Möbelhaus. Den Parkplatz für die Miettransporter finden, in die Lücke manövrieren, Innenraum-Check, Laderaum-Check, nichts vergessen. Wagenpapiere, das Rückgabe-Formular ausfüllen, Zeitpunkt der Rückgabe: 23.51 Uhr. Merkt ja keiner. Hauptsache, das Auto ist am Morgen ordnungsgemäß retourniert. Unterschreiben, ab damit in die Service-Box.

    Imma hat funktioniert. In ihrem Smart spürt sie sich langsam auch wieder. Die Straßen auf ihrem Heimweg sind menschenleer, die eleganten Gründerzeitfassaden lehnen sich entspannt in den Schlafatem sorgloser Bewohner. Es wird ihr das Herz zerreißen, die Innenstadt-Adresse aufzugeben und die Altbauwohnung zu verkaufen, die Mutter und sie aus Vaters Erbe erworben hatten. Mutter war hier gestorben, eine Hand in Immas Schoß, die andere, auf der anderen Seite des Bettes, vom Weihbischof persönlich zu Trost und letzter Segnung für die Frau Hofrat weich umfangen.

    Mit der Geneigtheit kirchlicher Würdenträger war es bald vorbei, nachdem Immas finanzielle Verhältnisse ins Trudeln gerieten und sie die großzügigen Wohltätigkeiten nicht mehr aufrecht halten konnte. Ende mit Ehrenämtern in Spendenkommittees, Schluss mit lukrativen Mandaten des Domkapitels, nicht einmal zur Beichte hatte der Weihbischof sie noch angenommen. Inzwischen hatte sie aufgehört, ihn anzurufen, nachdem sie einmal durch Zufall auf dem Weg zu einer Veranstaltung beobachten musste, wie er sie auf dem Handy einfach wegdrückte.

    Sie hatte es noch einige Jahre nach Konrads Tod und ihrem Austritt aus der Kanzlei hindurch geschafft, den Eindruck finanzieller Bewegungsfreiheit vor- und in der guten Gesellschaft mitzuspielen. Teure Handtaschen, die sie nicht brauchte, Designerschuhe, die ihren Hallux immer schmerzhafter quälten und Luxusurlaube, die sie gar nicht genoss, gingen dann eben nicht mehr auf Wolarskys Kreditkarte, sondern auf ihre eigene. Bis nichts mehr ging. Damit gingen dann zwar auch die exklusiven Einladungen, die Hobby-Cliquen zwischen Golfplatz und Tiefschnee sowie ihre allesamt konsequent standesbewussten Freunde. Doch immerhin reduzierte das die Notwendigkeit, sichtbaren Aufwand zu betreiben, markant.

    Dazu hatte der Mega-Flop ihrer Vermögensveranlagung die Finanzsituation längst über alle Maßen angespannt. Auf Konrads Empfehlungen hin war Immas Erbe fast zur Gänze in riskante Derivatgeschäfte und Devisenspekulationen investiert gewesen. Leider konnte er ihr nicht mehr empfehlen, rechtzeitig auszusteigen. Lehman und die anderen standen noch in voller Blüte, als ihr Lebensmann knickte. Dann krachte die Wall Street, die Blasen platzten – und mit ihnen mutierte das Strassersche Geldmanagement zum grandiosen Desaster. Nun hatte sie fette Kredite zu bedienen, deren Rückzahlungen ihre knappe Pension und selbst die Option eines Vermietungserlöses aus der Stadtwohnung bei weitem überstiegen. Die City-Immobilie verkaufen und an den DOK ziehen war die einzige Alternative.

    Imma schlief traumlos. Und das einzige, was ihr ein paar Stunden später dämmerte, war die Ahnung kommender Verzweiflungen.

    *

    Cӑcat, war das kalt hier! „Magda, wach auf, wir müssen raus hier, bevor die Leidner-Leute kommen."

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