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Blochmann und der Kuss des roten Krokodils
Blochmann und der Kuss des roten Krokodils
Blochmann und der Kuss des roten Krokodils
eBook310 Seiten4 Stunden

Blochmann und der Kuss des roten Krokodils

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Über dieses E-Book

Es gibt Tage, da nimmt das Leben Fahrt auf, obwohl man glaubt, ausweglos in einer Sackgasse zu stecken.
Cornelius Blochmann, Anfang fünfzig und seit über zwanzig Jahren Mathematiklehrer an einer Gesamtschule, steht mit dem Rücken an der Wand und sieht als einzigen Ausweg aus seinem frustranen Dasein nur noch den Sprung vom Dach.
Beim Versuch, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen, katapultiert er sich ungewollt zurück ins Leben und gerät dabei in bedrohliche Turbulenzen.
Als ihm kurz darauf ein Unfall passiert, entfacht sich eine Dynamik, die nicht nur ihn, sondern sein gesamtes soziales Gefüge zerbröselt, zurechtrüttelt und neu aufstellt.
Blochmann muss erkennen, dass nichts in seinem Leben so ist, wie er dachte und dass die Sackgasse eine Wegkreuzung war, die seine Lebensbahn korrigierte.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum12. Juli 2018
ISBN9783740701116
Blochmann und der Kuss des roten Krokodils
Autor

Braun Tine

Tine Braun lebt als freie Autorin zusammen mit ihrer Familie in der Soester Börde. Blochmann und der Kuss des roten Krokodils ist ihr 2. Roman.

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    Buchvorschau

    Blochmann und der Kuss des roten Krokodils - Braun Tine

    traf.

    Regen, dachte Blochmann und schielte hinüber zu den Fenstern, Regen, na endlich. Cornelius Blochmann stand für einen Moment draußen, außer sich sozusagen, spürte die kühle Nässe im Gesicht durch die Fensterscheiben hindurch, atmete tief, wandte sich innerlich ab, entfernte sich für den Hauch eines Gedanken von sich selbst, von sich selbst und der Brut im Klassenraum. In diesem Augenblick liebte er ihn, den Regen, sofern das Wort „lieben" in Zusammenhang mit Cornelius Blochmann nicht ein Widerspruch an sich war. Lieben, – meine Güte. Und der Regen? Cornelius zog scharf die Luft durch die Zähne. Der Regen, – blieb wieder nichts als eine kurze Episode an diesem Morgen. Ein klägliches Luftholen in der Hitze des Sommers. Ein Platzregen, der mehr versprach, als er hielt. Hätte mehr sein können, dachte er, hätte verdammt nochmal mehr sein können. Wenn es nach ihm ginge, könnte es den ganzen Tag schütten. Ach was, den ganzen Sommer.

    Tat es aber nicht.

    Innerlich kurz vor dem Siedepunkt, wippte er vor der Tafel auf und ab. Zehen, Fersen, Zehen, Fersen. Schon ging dem Regen die Luft aus. Nur vereinzelt klatschten noch verirrte Tropfen an die Fensterscheiben. Vier Fenster in einer Reihe mit Blick auf den Pausenhof. Der Regen verdunstete im Flug und zog Schlieren. Waschküchendunst. Auch gut. Alles war besser als diese gnadenlose Hitze. Nicht schon wieder so ein Tag mit über fünfunddreißig Grad. Keine verdammte Sonne bitte, nicht hier und nicht heute. Denn hier und heute entwickelte sich in dieser Klasse wieder einmal das übliche Desaster. Und das war, weiß Gott nicht sonnig und heiß, sondern wettermäßig ein Tief, ein bitteres, dunkles Tief.

    Blochmanns Kinn schob sich nach vorne. Die Augen zu Schlitzen verkniffen, schnaufte er heiße Luft in den Raum. Noch war kein einziges Wort gefallen, obwohl er, Cornelius Blochmann, bereits im Ring stand.

    Kaum hatte er die Klasse betreten, knallte er im Laufschritt die erste Gleichung an die Tafel. Warf sozusagen den Handschuh, obwohl er wusste, ja seit Stunden, Tagen, Wochen, Monaten, Jahren wusste, dass er auch heute wieder gegen Windmühlen kämpfen würde. Luftkämpfe sozusagen, seit Jahren gegen ignorante Gegner, die ihn stehen ließen, einfach stehen ließen, als sei er unsichtbar, oder ein Nichts, ein einfaches Nichts.

    Ignoranz – die schlimmste Art der Rache.

    An diesem Morgen hatte er nicht einmal die Kreide im Griff. Etwas Bedrohliches lag in der Luft. Die Kreide zitterte, nein, nicht die Kreide, seine Hände, seine Hände zitterten.

    Die Hitze machte ihn fertig. Die Hitze, die feuchte Schwüle, die Schüler, die Schule, einfach alles.

    Kreidestaub verwirbelte um ihn herum. Eine fettig feine Schicht pappte zusammen mit seinem Schweiß in der Fläche seiner Hände, zerstäubte sich wie üblich auf seinem hellblauen Hemd, an der Oberschenkelaußenseite seiner grauen Hose. Der Geruch von Kreide, dieser erdig fahle Geruch, der ihn fast sein gesamtes Leben lang begleitete, legte sich wie eine Membran um ihn, einer Geruchsaura gleich, eine olfaktorische Markierung im Raum. Seit einiger Zeit wurde ihm regelmäßig schlecht davon, als sei er benebelt, wie nach einer Überdosis. Der Kreidegeruch hing fest in seinen Geruchsknospen und überfiel ihn überall. Auf dem Pausenhof, dem Parkplatz, manchmal sogar im Supermarkt. Die Welt um ihn herum stank nach Kreide. Kaum auszuhalten. Seit Wochen kam sein Magen nicht zur Ruhe. Kaum ein Tag verging ohne Bauchschmerzen oder Übelkeit. Cornelius konnte die Kreide nicht mehr riechen, die Kreide nicht, die Schule nicht, erst recht nicht die Schüler und schon gar nicht die Kollegen.

    Das machte das Ganze nicht einfacher. Alles Vertraute zerbröckelte wie die verdammte Kreide in der Hand oder der weiße Lack an den Fenstern zum Pausenhof, dieser aufgeraute, abgeplatzte Lack, den er in der Pause mit dem Fingernagel abkratzte, bis es schmerzte. Immer dann, wenn er die Pausen in der Klasse verbrachte, den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt, den Blick in die Ferne gerichtet, zwang ihn der Schmerz, den er sich selber beim Abkratzen des Lackes zufügte, genauer hinzuschauen. Hinzuschauen, wie das pure Leben auf dem Schulhof explodierte. Ein täglicher Ausbruch an Lebenslust, Wildheit, Raserei. Ein Pulk aufgedrehter Körper, der seine angestaute, positive oder negative Energie regelmäßig in Geschrei, Gekreische, Gerangel und Gezerre auf dem trostlosen Pausenhof entlud.

    Während ihm auch an diesem Morgen ein Lackfragment unter seinem Fingernagel ins Fleisch stach (nach der zweiten Mathestunde konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten und war in der Klasse geblieben), kam ihm der Schmerz gerade recht. Denn seine aufgestaute Wut brauchte ein Ventil, ein Ventil, das ihm den nötigen Schub für die letzte Stunde gab.

    Noch war er nicht am Ende, noch nicht.

    Kaum hatte er die Gleichung an die Tafel geworfen, stand er, mit pochendem Fingernagel, konzentriert und breitbeinig, wie eine Eins im Raum. Niemand bemerkte seine unruhigen Knie, die fahrige Schwäche in Beinen und Rücken. Wut hielt seinen Körper im Lot. Nichts, was innen vorging, drang nach außen. Das fehlte gerade noch. Wie gewohnt nutzte er den Moment, gleich der Spinne im Netz. Nutzte ihn zu reiner Selbstverteidigung, denn was sich nach der Pause in seiner Mathematikstunde auftat, war nichts als aggressive Beschränktheit.

    Unaufhaltsam, so schien es ihm, steuerte die gesamte Menschheit geradewegs auf eine mathematische Demenz zu.

    Cornelius Blochmann beobachtete diese Entwicklung seit Jahren. Und es machte ihn fertig. Nichts aus der Anfangszeit seiner pädagogischen Euphorie war geblieben. Ja, es sah fast so aus, als seien alle seine Visionen, alle Vorstellungen und Erwartungen, ja selbst die Liebe zu seinem Beruf aus ihm herausgeflossen und ohne Sinn und Verstand im Linoleumboden der Schulklassen versickert oder wie heiße Luft durch die Ritzen der undichten Klassenfenster entfleucht.

    Es wäre ein Leichtes gewesen, aufzugeben. Dem Schicksal seinen Lauf, den Schülern ihr Abdriften in die Geistlosigkeit zu überlassen. Was wäre schon dabei, seine Mathematikstunden abzusitzen, die Aufgaben herunterzuleiern, die Klassenarbeiten durchzuwinken. Ohne groß zu überlegen, so fielen ihm sofort einige Kollegen ein, die sich einen Dreck um die Leistungen ihrer Schüler scherten, die zu Beginn des Unterrichts mental bereits auf dem Golfplatz standen, oder im Liegestuhl in der Sonne lagen.

    Es sich leichtmachen, aufgeben, absitzen, all das wäre möglich, dachte er, Dadurch allerdings würde er zum Verräter, zum Verräter an sich und an der Mathematik. Aufgeben hieße auch ein Aufgeben seiner Verantwortung, seiner Werte. Sich nicht mehr zu bemühen käme einer Kapitulation vor der Beschränktheit gleich.

    Niemand konnte ihm absprechen, dass er sich nicht bemühte, weiß Gott nicht.

    Tag für Tag gab er sein Bestes, Schultag für Schultag. In jedem neuen Schuljahr begann er von vorne, immer und immer wieder, um diesen hohlen Geistern das beizubringen, was die Grundlage allen Seins ist, – Mathematik.

    Mehr als zwanzig Jahre lang. Tag für Tag, Mathematikstunde für Mathematikstunde. Immer wieder aufs Neue, Klasse für Klasse. Und das Ergebnis? Null. Nichts. Nada. Sie kapierten es nicht. Mathematik interessierte keinen seiner Schüler. Letztendlich wollten sie gar nichts wissen.

    Und er? Hatte mittlerweile die Grenzen seiner Toleranz und allen guten Willens erreicht. Nach all den Jahren hatte er endlich begriffen. Niemals, und damit meinte er wirklich niemals, würde nur einer von ihnen ansatzweise die Lust an seiner Mathematik aufbringen so wie er selbst. Keiner seiner Schüler erlebte die gleiche Faszination, die gleiche Liebe, und hier war das Wort „Liebe" in Zusammenhang mit Blochmann, nicht nur angebracht, sondern über jeglichen Zweifel erhaben, keiner seiner Schüler teilte seine Empfindungen zur Mathematik. Keiner. Diese Hoffnung konnte er langsam begraben. Blochmann schloss die Augen, musste sich sammeln, sich wieder fassen. Die Oberhand behalten. Die Stunde durchstehen. Diese Bande sollte bloß nicht denken, dass er das Handtuch warf.

    Die Kreide in seiner Hand kratzte die Tafel entlang. Kratzte und quietschte bei jeder Ziffer, bei jedem Doppelpunkt und jedem Gleichheitszeichen. Mitten in der Gleichung zerbrach sie, zerbröselte unter dem Druck, der sich in ihm angesammelt hatte und aus seinen Fingern einen Schraubstock machte.

    Die kreidigen Reste lösten sich auf, wurden zu krümeligem Staub, fielen vor Blochmanns feste Wanderstiefel und pappten sich in das grobe Sohlenmuster.

    Mit jedem abgeschrittenen Meter verteilte er einen weißen Staubabdruck, was er mit Genugtuung aus den Augenwinkeln registrierte. Wenn er schon keine Spuren in den Köpfen seiner Schüler hinterließ, so wenigstens auf dem verdammten Linoleumboden. Hitze und Frust trieben ihn weiter an. Cornelius Blochmann nahm noch einmal Fahrt auf. Mit ausladendem Schritt marschierte er vor der Tafel auf und ab, warf Ziffern und Zahlen an die schieferfarbene Wand, warf Ziffern und Zahlen sichtbar mit weißer Kreide und hörbar mit dröhnender Stimme. Stampfte, kreideweiße Spuren hinterlassend, über den graumelierten Linoleumboden, während er mit der rechten Hand die Tafel bearbeitete. Die linke Hand zur Faust geballt, klemmte er den dazugehörenden Arm hinter den Rücken, schob den kugeligen Bauch vor und die Wirbelsäule ins Hohlkreuz.

    Wieder einmal gab er alles. Gab sich regelrecht hin. Verfiel den Formeln und Gleichungen. Verlor sich in sich selbst, wie immer, oder doch nicht wie immer.

    Seit einiger Zeit schwante ihm, dass die Kapazität des Fasses voll war. Immer öfter erreichte er schmerzhaft seine Grenzen. Da hing etwas bedrohlich quer in der Luft, etwas, das er noch nicht definieren konnte, das aber bereits in allen Fasern seines Körpers spürbar war. Obwohl seine Stimme wie gewohnt durchs Klassenzimmer dröhnte, verlor sie schneller als üblich an Volumen und Kraft, drohte mitunter nach innen oder sonst wohin zu kippen. Die Luft um ihn herum wurde knapp. Blochmann musste sich anstrengen, sich jeden Meter und jede Minute erkämpfen.

    An diesem Morgen verhedderte sich nach der zweiten Gleichung seine Atmung. Stiche in der Herzgegend. Zu viel oder zu wenig Sauerstoff in den Lungen. Wer kannte sich da schon aus. Beklemmung. Verstärkter Druck unter der Schädeldecke.

    Seine Stimme wurde faserig, als wolle sie sich verabschieden, und verpuffte schließlich unter der wabernden Interesselosigkeit seiner Schüler.

    Einige wenige Worte verflüchtigten sich in der verbrauchten Luft des Klassenzimmers.

    Kurz vor Aufgehen der Gleichung entfuhr ihm gerade noch ein kurzatmiger Schnaufer.

    Benommen stützte er sich auf die Lehne seines Stuhles und mühte sich bewusst um ein konzentriertes Einatmen und Ausatmen. Wie in Zeitlupe hob er den Kopf, um nicht dazustehen wie ein Vollidiot. Stiche im Brustkorb und das hohle Kopfgefühl drückte er weg, so gut das ging. Für einige Sekunden verblassten alle Bilder um ihn herum. Kein Geräusch erreichte seine Sinne. In dieser Haltung gelang es ihm wie gewohnt, sich zu erden und innerlich noch einmal Anlauf zu nehmen. Jetzt wollte er sich diesen Bengel noch einmal vornehmen, der wie immer stumm und desinteressiert auf seinem Platz vor sich hin starrte.

    Aus dem Handgelenk heraus zitierte er ihn vor die Tafel, obwohl er bereits wusste, dass auch dies wieder nur ein zum Scheitern verurteilter Versuch war.

    Ein etwa sechzehnjähriger Junge baute sich ihm gegenüber auf und erwartete seine Attacke. In weiten, über die Turnschuhe hängenden Jeans, deren Schritt knapp über den Knien hing, provozierte er Blochmann alleine durch seine Standhaltung. Ein schwarzes viel zu enges T-Shirt franste aus seinem Hosenbund. In den halbhohen, nur zur Hälfte verschnürten weißen Turnschuhen balancierte er mehr, als er stand. Stampfte Blochmann vorwärts, grätschte der Junge nach hinten, hielt instinktiv einen sicheren Abstand, mit der Tür im Rücken.

    Der Junge starrte mit offenem Mund abwechselnd auf die Tafel und auf Blochmann, der Striche und Zahlen über den künstlichen Schiefer zog, dass es krachte. Nicht, dass hier Angst im Spiel war, nein, weder Angst noch Respekt. Angst hatte in dieser Klasse niemand vor Blochmann, im Gegenteil. In den hochgezogenen Schultern und dem unterwürfigen Blick des Jungen vermutete Blochmann nichts als eine Farce.

    Aufgesetzt und scheinheilig. Das war das Bild, das sich ihm zeigte.

    Seine Schüler spielten ein Katz-und-Maus-Spiel mit ihm, und das schon seit langem. Gaukelten ihm etwas vor, nur um gute Noten zu bekommen. Für sie ging es in seiner Mathematikstunde nicht um den Inhalt, nicht um Verstehen oder einen Sinn. Sie brauchten gute Noten und dafür war ihnen alles recht.

    Dieser Junge zum Beispiel, dieser Junge mimte das Opfer, stellte sich dar, als sei er ängstlich und voller Respekt vor dem Lehrer.

    Blochmann ballte seine Fäuste. Nichts davon war ehrlich, nichts. Da stand dieser Kerl und log ihm ins Gesicht, ohne den Mund aufzumachen. Reizte ihn mit seiner gespielten Demutshaltung bis auf die Knochen.

    Dabei wollte auch der nur Zeit herausschinden, Zeit, bis es endlich zur Pause läutete. Um dann in der Pause sein wahres Gesicht zu zeigen.

    Vermutlich zogen sie nach der Stunde über ihn, den Lehrer her, lachten über ihn, lachten über seine Marotten, amüsierten sich auf seine Kosten, belächelten ihn und machten ihre Witze. Er wusste Bescheid.

    Das ging seit Jahren schon so.

    Blochmann fühlte, dass ihm langsam die Luft ausging. Er musste zu einem Ende kommen. Ein Ende der Gleichung, ein Ende dieser Mathematikstunde, ein Ende dieses Schultages.

    Es reichte ihm, er war erschöpft. Glücklicherweise war dies heute seine letzte Stunde. Wieder einen Tag geschafft. Die Schulstunden durchgestanden. Jetzt noch das Ganze abrunden und dann – nichts wie weg.

    So setzte er das letzte X vor eine gerade Zahl. Die vermaledeite Gleichung ging endlich auf. Erleichtert schmetterte er die Kreide auf die Ablage der Tafel.

    Der Junge hatte sich nicht von seinem Platz bewegt, stand wie angewachsen, die Hände bis zu den Ellenbogen in den Hosentaschen vergraben. Wagte kaum zu atmen, hielt den Blick auf den Lehrer fixiert.

    Setzte irgendwie an, um möglichst unauffällig zurück zu seinem Stuhl zu schleichen.

    Wurde jedoch schon im Ansatz von Blochmann ausgebremst, der sich noch lange nicht geschlagen gab. Noch lange nicht.

    Wie üblich hatte er den kurzen Augenblick genutzt, um seine letzten Kraftreserven zu mobilisieren. So einfach würden sie ihm nicht davonkommen. Ein kurzer Blick von unten hinein in die Klasse signalisierte ihm, dass die Stimmung kochte. Gut so. Er musste ein Zeichen setzen, ein Zeichen seiner Kraft, ein Zeichen von Würde und Respekt.

    Mit flatternden Händen baute er sich vor dem Schüler auf, der ihn um eine halbe Kopflänge überragte und der sofort den instinktiven Abstand wiederherstellte. Ruhe trat ein. Nicht schon wieder ins Leere laufen, dachte er, ein Zeichen setzen. So springst du nicht mit mir um, so nicht.

    So springt ihr alle nicht mit mir um.

    Blochmann schnappte sich ein letztes Mal die Kreide von der Ablage, so als zöge er einen Pfeil aus seinem Köcher.

    „Hier", herrschte er den Jungen an, „hier, versuch es, verdammt nochmal, zu verstehen. Dies sind die Unbekannten und so kommst du zu den Zahlen. So sieht der Lösungsweg aus, so die einzelnen

    Schritte."

    Als ginge es um alles oder nichts, zog er weiße Kreidekreise um die wichtigsten Ziffern, unterstrich mit dicken weißen Balken die einzelnen Elemente, um schließlich das letzte Kreidestückchen zwischen Zeigefinger und Daumen zu zerbröckeln.

    „Hast du es jetzt kapiert?"

    Der Junge zuckte mit den Schultern, wechselte das Standbein und schob seine Hände tiefer in den Hosentaschen. Gedanklich war er längst in der Pause. Lange würde das hier nicht mehr dauern.

    Blochmanns Ausbruch prallte an ihm ab, verpuffte in der miefigen Luft dieses heißen Sommertages.

    In der Klasse erwachte nach kurzer Unterbrechung das übliche Getuschel.

    Kurz darauf kappte das Schrillen der Pausenklingel die köchelnde Stimmung. Wie auf Kommando verfielen die Schüler in einen Stop-and-go-Modus. Allgemeines Geraune und polterndes Geschiebe von Stühlen und Tischen veränderte in Sekunden die Szenerie.

    Cornelius Blochmann hing energetisch noch fest, brauchte einen Moment der Besinnung. Zeit genug für die Schüler, die Taschen zu packen und die Plätze zu räumen.

    Hausaufgaben, verdammt, Hausaufgaben hätten noch angestanden.

    Zu spät. Wieder einmal zu spät. Wie so oft in der letzten Zeit.

    Ihm war, als habe er sein Zeitgefühl verloren. Als bekäme er wieder einmal das Ende nicht hin. Als müsse er weiterrechnen, immer weiterrechnen. Um den Stillstand zu vermeiden. Ja, vielleicht war der Stillstand das Bedrohlichste. Der Stillstand in einer Welt, die ihn nicht an sich heranließ, ihn ausspuckte, beim Versuch, sich ihr zu nähern. An deren Rand er hing und den Boden unter den Füßen nicht mehr spürte.

    Einzig die Zahlen gaben ihm Halt. Ihnen vertraute er, sie blieben ihm treu und berechenbar. In der Welt der Zahlen fühlte er sich zuhause.

    Da wusste er, woran er war. Die machten ihm nichts vor. Die hatte er im Griff, die Zahlen.

    Blochmann stützte sich mit hängendem Kopf über das Pult, schloss für einen Moment die brennenden Augen, während ihm der Schweiß hinter den Ohren in den Nacken rann. Angeekelt betrachtete er durch seine Wimpern hindurch die Kreidefingerabdrücke auf der glatten Arbeitsfläche, den Heften und sogar dem Klassenbuch.

    Unübersehbar hatte er auf dem gesamten Pult seine Spuren hinterlassen. Seine Spuren, Kreidespuren. Mehr aber auch nicht. In den Köpfen seiner Schüler dagegen hatte er wie immer nichts hinterlassen. Nichts. Da war er sich sicher.

    Alle Energie schien aus ihm herausgeflossen zu sein. Was war nur mit ihm los? Wie ausgepresst kauerte er auf dem Schreibtischstuhl, die Hände fest zusammengepresst, so fest, dass die Knöchel weiß und die Fingerkuppen kalt wurden.

    Keiner der Schüler war auf die Idee gekommen, die Fenster zu öffnen.

    Ein saurer Geruch nach Schweiß und Ausdünstung hing beißend im Raum. Kaum auszuhalten. Außerdem sah es aus wie auf einem Schlachtfeld.

    Stühle standen kreuz und quer. Tische waren verrückt. Papierfetzen und Brotkrümel lagen verteilt auf dem Boden, Taschen und Rucksäcke zerknautscht unter den Tischen. Dieses Klassenzimmer, ein stinkendes Trümmerfeld.

    Trotzdem war er froh, für einige Minuten hier in all dem Chaos allein zu sein. Innerhalb von gefühlten Hundertstelsekunden hatte die Bande den Klassenraum verlassen. Ereiferten sich längst mit hirnlosem Gegröle auf dem Pausenhof. Die mathematischen Gleichungsschritte an der Tafel waren vermutlich längst aus ihrem Kurzzeitgedächtnis verpufft.

    Allerdings ging ihn das heute nichts mehr an. Für heute war er damit durch. Es wurde Zeit, nach Hause zu fahren.

    Blochmann stöhnte auf und drückte die Zeigefinger an die Schläfen.

    Nur nicht nachdenken, dachte er, jetzt nicht an Zuhause und an das nächste Drama denken. Stillstehen und einen Moment Luft holen.

    Bloß jetzt nicht gedanklich schnurstracks in den nächsten heißen Topf springen. Es war noch früh. Vielleicht konnte er die Zeit nutzen, um die letzte Stunde noch einmal zu reflektieren.

    Verbissen kräuselte er die Stirn, rekapitulierte die vergangenen Schulstunden vor seinem inneren Auge. Gab es vielleicht doch irgendwo Kommunikation, Austausch, Fragen und Antworten, einen Sinn sozusagen? Phasen des Verstehens, des Erkennens, der freudigen Erfahrung? Nein, eindeutig nein.

    Auch nach dieser Mathematikstunde hatten sie nichts begriffen. Hielten Pythagoras für ein neues Computerspiel. Saßen, gedanklich mit anderem beschäftigt, ihre Zeit ab. Vergeudeten seine Kraft und das seit über zwanzig Jahren. Er hatte es satt. Wofür das alles?

    Gab es in all den Jahren einen Schüler oder eine Schülerin, die seine Faszination für Zahlen, für mathematische Größen teilte? Jemand, der wie er begeistert war vom Aufbau aller Dinge? Einen, der den mathematischen Zusammenhang begriff, ihn wirklich und wahrhaftig begriff? Einen, der die Schönheit und den Wert von Berechnungen und Gleichungen in sich aufnahm, den Kern mathematischer Funktionen, die schließlich nichts weniger als die Grundlagen unserer Welt bestimmten. Das magische Gefühl, wenn Zahlen und Formeln sich vollendet ergänzten, zusammenfanden und eine Basis bildeten?

    Kannte das von diesen Schülern einer? Nein, absolut niemand.

    Nun ja, vielleicht die kleine Schuhmann im letzten Jahr. Und ja, da war dieser Steffen Soundso. Wie hieß der denn noch? Der hatte es auch irgendwie begriffen. Aber das war’s auch schon. Wie lange war das her? Ewigkeiten. Diese Sorte Schüler gab es heute nicht mehr.

    Immer intensiver machte er in den letzten Jahren die Erfahrung, dass andere Dinge ihr Hirn ausfüllten. Abhängen, Computerspiele, Kiffen oder was sonst noch. Keiner war mehr der Mühen wert. Keiner.

    Was soll’s, dachte Blochmann und stemmte sich schwerfällig aus dem Stuhl. Wie üblich hing seine dreißig Jahre alte Ledertasche hinter ihm über der Lehne. Wie üblich, immer der gleiche Griff. Lehrbuch zuklappen und in die Tasche. Es gab nichts Wichtiges in seiner Tasche, gab es noch nie. Lehrbuch, Brotdose, Schokoriegel. Seit einigen Wochen ein Buch über den Jakobsweg. Noch in Cellophan mit Preisschild. Der Jakobsweg, sein Traum seit Jahren. Ein Fluchttraum.

    Weg von allem, allein mit der Natur, wandern und innehalten. Alles hinter sich lassen, die Schule, die Eltern, die Schmerzen.

    Wie immer, wenn sein Blick auf das Buch fiel, schweifte er für einen Moment ab.

    Die warme Weite der Extremdura, Grillenzirpen am Wegesrand, freie Tage ohne Gedankendruck. Laufen, laufen, laufen. Was für eine Vorstellung.

    Aber eben nur eine Vorstellung, oder eher eine Illusion. Nichts mehr als eine Illusion. Der Zug für ihn, da war er sich sicher, war abgelaufen.

    Keine hundert Meter weit würde er kommen. Er war fertig, genau so musste er das sehen. Fertig. Keine Kraft mehr in den Knochen und zu allem Übel noch diese verdammten Schmerzen.

    Seit Wochen und Monaten quälten sie ihn. Es gab Tage, da schienen ihn diese dumpfen, stechenden oder brennenden Magenschmerzen schier zu zerreißen, oder diese wahnsinnigen Kopfschmerzen, die ihm den Tag zur Hölle machten. Er fand keine Ruhe. Nicht in der Schule und schon gar nicht zu Hause bei seinen Eltern.

    Blochmann klemmte sich die Ledermappe unter den Arm, zog den Kopf ein und schob sich schwerfällig aus der Klasse. Hinter ihm fiel hämisch die Klassentür ins Schloss. Der Schulflur lag vor ihm wie eine Endloskrümmung im Raum. Warum hatte er eigentlich bei dieser Hitze seine Wanderschuhe angezogen?

    Auf der Treppe trabte ihm Bertram, der Sportlehrer, entgegen.

    Gekleidet wie üblich in Jogginghose und engem T-Shirt nahm der die Stufen zum Lehrerzimmer mit einigen wenigen Sprüngen. Turnschuhe quietschten über den Linoleumboden. Die trübe Luft geriet in Schwingung.

    Blochmanns Nackenhaare stellten sich auf. Nicht, dass er Bertram nicht mochte, nein, nur diese Art, diese Art, alles irgendwie sportlich zu nehmen, ging ihm auf die Nerven. Ging ihm schon lange auf die Nerven.

    Bertram wechselte die Seite und haute Blochmann im Vorbeiflug zwischen die Schulterblätter.

    „Na, Kollege, schon frei? So gut möchte ich es auch mal haben."

    Für einen kurzen Moment fegte ihn Bertram aus seiner fragilen Balance. Schwarze Kringel rotierten vor seinen Augen.

    Glücklicherweise hatte er immer noch die Wand im Rücken. Dieser idiotische Bertram konnte es auch nicht lassen. Rammte ihn fast von den Beinen auf

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