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Das Leben in Technicolor
Das Leben in Technicolor
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eBook410 Seiten5 Stunden

Das Leben in Technicolor

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Über dieses E-Book

Nachdem Vincent ›Fin‹ Steiner die Vorlesung mit einem lauten Schrei verlässt, wird ihm erst klar, dass es ein riesiger Fehler war, sich an der Universität einzuschreiben. Er hat Angst vor der Zukunft; vor den Entscheidungen, die es zu treffen gilt und er hat Angst davor, seine Eltern zu enttäuschen.
Fins Leben taumelt ins Chaos, bis er Pilou und Lisa kennenlernt, die ihm nicht nur zeigen, worum es im Leben gehen kann, sondern auch, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Popkulturell, sarkastisch und mit viel schwarzem Humor schlagen sie sich durch ihr erstes Jahr an der Uni, das voller Erfolge und Niederlagen steckt.
Doch als die entscheidende Prüfung näher rückt, muss Fin sich entscheiden: Bleibt er bei ihnen und dem Studium, das ihn fast zerbricht, oder verlässt er sie und macht etwas, das ihn mit Leben erfüllt?

Ein Buch über das Stolpern, Fallen und Finden einer ganzen Generation.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. März 2016
ISBN9783734513411
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    Buchvorschau

    Das Leben in Technicolor - Maximilian Stoll

    HERBST

    WINTER

    8 WOCHEN SPÄTER.

    Wie konnte denn im Ernst alles so beschissen sein?

    Stellt euch vor, ihr steht vor einem riesigen Hörsaal, in dem jeder einzelne Stuhl mit der Elite von Morgen besetzt ist. Die Besten der Besten. Ingenieure, die dreimal nachgucken müssen, wie das Wort ›Ingenieure‹ überhaupt geschrieben wird. Für diesen Studiengang gibt es keine Einschränkungen, keinen Vortest. Der Abfall trennt sich erst viele Semester später von den wirklich studierenden Individuen. Also, ihr seht diese Leute, und findet mich nicht. Darauf würde ich wetten! Ich bin nicht der obligatorische Rasta-Typ, den man in jedem Kurs hat. Auch nicht der Tölpel, der mit dem Fahrrad zu Uni kommt, und daher sein rechtes Hosenbein den ganzen Tag hochgekrempelt lässt, obwohl draußen eine polare Kälte vorherrscht, die die Hunde auf der Straße erfrieren lässt. Ich bin auch nicht das Mädchen mit den schwarzen Haaren, den Piercings und dem Metallica T-Shirt. Ich sitz da! Ganz weit hinten. Noch ein Stück rechts. Ja, selbst jetzt guckst du noch den falschen an. Siehst du …?

    Der Hörsaal war groß, und was ich von der Tafel noch sah, war geradezu lächerlich. Der Professor, ein rotgesichtiger, untersetzter Mann, schrieb kleiner, als meine Notizen groß waren. Er differenzierte diverse Drücke und alle seine Symbole – ob nun p1 oder p∞ – sahen gleich aus. Ich kniff die Augen zusammen, denn selbst meine Adleraugen begannen bei seiner ameisengroßen Handschrift zu versagen.

    Dann und wann blickte ich durch die Runde und erwartete barock gekleidete Frauen mit Operngläsern zu sehen. Die könnten wenigstens erkennen, was der Typ da vorne schrieb. Im Saal war es brechend warm, obwohl uns ein Russlandtief draußen sechs Grad unter null bescherte. Die Fenster ließen sich nur elektronisch öffnen, was den in Thermodynamik promovierten Professor vollends überforderte. Vorne am Pult gab es übrigens einen Knopf zum Öffnen des Fensters, aber ich glaube, er verleugnete ihn.

    Er stotterte vor sich hin, niemand hörte mehr zu, nur die Leute aus der ersten Reihe schrieben noch mit. Der Rest konnte nicht lesen, was an der Tafel stand.

    »Entschuldigen Sie?« Jemand aus der zehnten Reihe, etwa siebenundzwanzig Reihen unter mir, meldete sich zu Wort. Er war etwas älter als ich, hatte schon fast lichtes Haar. Die Jacke aus seiner jugendlichen Punkerzeit, die er nie so richtig hinter sich gelassen hat, lag neben ihm auf dem Tisch.

    »Ja?«, ärgerte sich der Professor sofort genervt, als hätte man ihn beim Vortragen seiner Memoiren unterbrochen. Er drehte sich langsam um, ohne dabei seine Beine zu bewegen; dabei ähnelte er einer dicken Ballerina aus einer Spieldose.

    Der junge Herr aus Reihe zehn wartete erst gar nicht, bis er die Erlaubnis zum Reden erhielt. »Können Sie das vielleicht ein bisschen größer zeichnen? Man kann das schon gar nicht mehr lesen von hier.«

    Der Professor sagte nichts, aber seine Wangen blähten sich auf, bis sie so unter Spannung standen, dass sie von Rot zu Weiß wechselten. Er zeigte auf seine Zeichnung, eine bis ins Detail genau Gasturbine mit mehr als 20 Verbindungen, zehn griechischen Buchstaben, diversen Vektoren aus Kräften und Geschwindigkeiten, sowie ein paar Zahlen hier und da. Professor Gutelaune zog beide Augenbrauen hoch, sodass sie unter seinem kreisrunden Haaransatz verschwanden, als wollte er fragen, ob es denn diese Zeichnung sei, die dem Studenten – metaphorisch gesprochen – ein viel zu kleiner Dorn im Auge war.

    »Ja, genau«, sagt er mit der spielerischen Unschuld eines Kindes. Mehr war er für den Professor auch nicht. Ein dummes Kind, was es wagte, den alten Gelehrten in seiner Rede zu unterbrechen.

    Der Professor, dessen Name natürlich nicht wirklich Gutelaune war (Das wäre zu viel des Guten), brauchte noch ein wenig, und spuckte dem Studenten dann seine Antwort vor die Füße.

    »Wenn …« Er schloss seine Augen und atmete einmal so heftig aus, dass ich beinahe schon sehen konnte, wie die Haare meiner Kommilitonen aus der ersten Reihe im Wind seines Prustens wehten. »Wenn Sie das nicht lesen können, müssen Sie sich weiter nach vorne setzten.«

    Er wurde sofort vom Studenten unterbrochen: »Es können sich doch nicht zweihundertvierzig Studenten nach vorne setzten! Denken Sie, ich bin der Einzige, der Ihre Tafelbilder nicht lesen kann?«

    Die Stimmung wurde unerträglich. Als wäre sie eine Saite auf einer Gitarre, die jemand Unerfahrenes einfach immer weiter nach oben stimmte und so dem Zerreißen näher brachte. Einige Studenten schienen Popcorn und Eiskonfekt herauszuholen. Ich war von dem Mut des Studenten beeindruckt und auch ein wenig peinlich berührt. Wie konnte man denn so etwas zu einem Professor sagen, der für seine cholerischen Anfälle stadtbekannt war? Ich meine, hinter seinem Rücken, okay, aber doch nicht mitten in sein keksrundes Gesicht.

    Gutelaune indes wurde nun wieder rot. Als Professor war er von Natur aus arrogant, denn sein Fach war schließlich nicht ohne Grund das wichtigste an der ganzen Universität. Doch trotz aller sozialen Verpflichtungen, welche die Ehre eines Professorenamts mit sich brachten, reagierte er völlig verständlich und erwachsen auf diese Bemerkung. Er schrie und betonte wie immer nur das erste Wort des Satzes: »Soll ich hier nach jeder Zeichnung die Tafel wischen?« Gutelaune hatte seine Augen so weit aufgerissen, als würde er andeuten wollen, dass das Tafelwischen ein Akt war, der das Durchschwimmen des Atlantiks erforderte. Er konnte den Schwamm natürlich auch am Waschbecken nass machen. Jemand sollte es ihm sagen – Jemand sollte es ihm ganz klein aufzeichnen, damit er es verstand.

    Der Student gab nach, der Professor nicht. Er fragte ihn nun nach jeder neuen Zeichnung (Drei Stunden Vorlesung entsprachen etwa zweiunddreißig Zeichnungen), ob sie – die Zeichnungen – denn groß genug waren. Ziemlich erwachsen von ihm, wie ich fand.

    Ich saß während all dessen allein in meiner Reihe, und seine leeren Worte hämmerten mir gegen den Kopf. Tom, den ich vor knapp acht Wochen kennengelernt hatte, war krank, und ich wünschte, ich wäre es auch.

    Ging man zur Vorlesung, sagte man sich, dass man getrost hätte wegbleiben können. Es wurde nur aus dem Skript vorgelesen oder Sachen gemacht, die keinerlei Relevanz für die Prüfung hatten. Blieb man dann jedoch zu Hause, bekam man sofort ein schlechtes Gewissen und in den Veranstaltungen wurden die Lösungen zu allen Prüfungen auf den Tisch gelegt. Eine Zwickmühle.

    Schon wieder hatte ich mein Gehirn drei Minuten lang auf Durchzug geschaltet. Ich verstand nichts von der Vorlesung. Schon seit Wochen. Ich wusste nicht mal, was das c, das in jeder Formel auftauchte, bedeutet. Fragen wollte ich auch nicht, da es scheinbar offensichtlich war.

    Er preschte weiter vor. Alles schlug auf mich ein wie die Böen eines eisernen Wintersturms. Seit Wochen war diese Vorlesung für den Arsch. Montags von sieben bis zehn Uhr. Ich war allein, und die Hausaufgaben des Fachs stapelten sich auf meinem Emailkonto. Ich schaffte gerade so die Erste. Ich hatte nichts verpasst. Ich gab ihm die Schuld. Natürlich glaubte mir das keiner. Aber mit wem redete ich auch schon darüber?

    Dann wischte er die Tafel, ohne noch einmal nachzufragen. Ein Raunen zog durch die Menge, Stifte wurden auf Pulte fallengelassen, Schüler warfen sich in ihre harten Sitze zurück. Ich starrte einfach mit leeren, tränenden Augen auf die saubere Tafel, meine Hand mit Stift war noch immer dabei etwas zu notieren, die andere Hand stützte meinen Kopf, die Haare fest zwischen den weißen Fingern. Mein Gehirn war nicht mehr anwesend; es dachte ununterbrochen an all das Schlechte, was in den vergangen acht Wochen passiert war. Daran wie ich ziellos umhertrieb, über die Angst, dass ich es niemals schaffen würde, mein Leben zu nutzen und an all die Einsamkeit. Auf einmal fühlte es sich an, als würde es in der Mitte meines Körpers brennen, als würde jemand Zement in meinen Magen füllen und die restlichen Gedärme kurz vorm aushärten noch zusammenknoten. Das Fass in meinem Herzen lief über, sodass ich meinen Stift, wie auch alle anderen, wegwarf und mich, entgegen aller anderen, aufrecht hinsetzte. Und jedes noch so kleine Detail der letzten acht Wochen und dieser höllenartigen Vorlesung ließ mich folgendes schreien:

    »VERDAMMTE SCHEISSE!«

    Mein Kreischen hallte zwischen den nackten Wänden des Hörsaals. Ich packte meine Jacke, Tasche und den Block und stürmte, alle Augen im Rücken, durch den oberen Ausgang hinaus. Bevor die Tür hinter mir zufiel, hörte ich noch, wie der Professor schon wieder in seinem Trott versunken war. Er hatte mich schon wieder vergessen. Das ›Verdammte Scheiße!‹ steckte nun in den Köpfen der anderen Studenten.

    8.45 Uhr. Ich ging nach Hause, zurück ins Wohnheim.

    ES WAR KALT DRAUSSEN. Und zwar so richtig. Nicht einfach ›Huh! Also langsam wird mir um die Sandalen etwas huschig‹, sondern eher ›Oh, schon wieder ein Finger an den Kältetod verloren. Hoppla!‹.

    Der Dezember hatte schon einige Tage hinter sich gebracht und ich stellte immer wieder mit Erleichterung fest, dass es auf Weihnachten zuging.

    Vor vielen Wochen, es fühlte sich an wie Jahre, hatte ich mich dazu entschieden, hier in Rostock zu studieren. Es war keine leichte Entscheidung gewesen, bei weitem nicht, aber die Zeit war mir ausgegangen und so auch meine Möglichkeiten.

    Rostock liegt fast direkt am Meer. Im Sommer konnte man innerhalb von zwanzig Minuten zum Baden ans Meer fahren und den Sand zwischen seinen Zehen spüren. Im Winter konnte man zu Silvester auf das Meer hinaussehen und dabei zuschauen, wie die farbenfrohen Explosionen der Raketen und der kleine Leuchtturm mit seinem grünen Licht sich im Wasser spiegelten. An diesem letzten Abend im Jahr leuchtete die Promenade stolz in allen Farben.

    Doch man musste gar nicht rausfahren, um die Stadt zu genießen, sie war auch so unglaublich schön, wenn man sich einmal die Zeit nahm, um sie zu beobachten. Die Einkaufsstraßen mit ihren renovierten Patrizierhäusern, die alten Kirchen, der Hafen mit seinen Schiffen und Kränen, das überschaubare aber nicht weniger gute Nachtleben. Rostock ist genau richtig, wenn man in einer Kleinstadt aufgewachsen ist und danach nicht gleich in irgendeine Weltmetropole ziehen will. Die Stadt, mein neues Zuhause, wirkt groß, ist nach näherer Betrachtung dennoch ziemlich intim. Sie war einer von vielen Gründen, warum ich hergekommen war. Der zulassungsfreie Studiengang, den man auch in letzter Minute wählen konnte, ein anderer. Ich interessiere mich für Autos, Technik und Elektronik aller Art, doch so, wie das Studium nun war, blieb jeden Tag ein weiteres, kleines Stück von mir im Wohnheim. So hatte ich es mir nicht vorgestellt und ich wunderte mich, wie die anderen Studenten es machten und offensichtlich schafften.

    Ich konnte mich aber auch später noch in diese immer gleichen Gedanken vertiefen. Jetzt wollte ich einfach nur nach Hause, am ehesten mit dem Bus. Die Haltestelle befand sich zwischen meiner Uni und der Akademie der freien Künste, einer privaten Hochschule. Durch die großen, modernen Fenster konnte ich vereinzelt dabei zusehen, wie Schüler tanzten, stolperten, hinfielen, wieder aufstanden und es erneut versuchten.

    Ich schnaufte und aus meiner Nase blies Rauch wie aus den Nüstern eines Drachen. Ich setzte mich auf die arschkalte Bank nahe des Unterstands und konnte sofort die Stimme meiner Großmutter in meinen Ohren hören, die mich vor Hämorriden warnte. Ich kenne niemanden, der je Hämorriden hatte … Warum warnten einen alte Leute immer davor?

    Während ich noch über dieses tolle Wort nachdachte, mein miserables Leben und die vergeudete Vorlesung schon fern von meinen Gedanken, fiel der erste Stein im Bunde. Die Sache kam ins Rollen. Ich lernte Inga kennen, die gerade aus der Akademie der freien Künste herausstürmte.

    Als die große Glastür zufiel, hatte sie schon eine Zigarette im Mund, die einen langen Schweif hinter sich herzog und hell im Winterlicht brannte. Sie warf sich eine tief rote Lederjacke um die Schultern, die ihrer zuvor zierlichen Statur, ein gefährliches Aussehen verlieh. Ihre rotbraune Pudelmütze verdeckte ihre Haare. Nur die Spitzen ihrer graugefärbten, lockigen Mähne schauten heraus. Sie hatte ein Piercing an der Lippe und an der Nase. Sie war blass, was kaum auffiel, da alles blass war. Auch ich. Sie ließ sich neben mir auf die Bank fallen, sodass mein Ende kurz abhob. Sie war dünn und man konnte ihre spitzen Knie durch die schwarzen Leggings erahnen.

    »Diese pathetischen Fotzenaffen …«, raunte sie.

    Wen sie meinte, stellte sich schnell heraus. Am oberen Fenster versammelten sich einige Leute, von denen manche deutlich älter waren als sie und ich (Ich schätzte Inga ebenfalls auf zwanzig Jahre). Die Mädchen und Jungs oben am Fenster lachten und eine von ihnen ganz besonders herzhaft, wobei mir ihre großen Zähne Angst machten. Eines Tages würde ich Bekanntschaft mit Chrystal Alexandra machen müssen. Zum Glück war dieser Tag noch nicht gekommen. Chrystal Alexandra hatte gelbes Haar. Es war fast wie Gold, Gold, welches von Kindern in kleinen, dunklen Mienen gefördert werden musste.

    Inga zeigte ihnen indes den Mittelfinger, was keinen großen Eindruck auf sie machte. Bald schon zogen sie sich ins Innere des Hauses zurück und verschwanden aus unserem Sichtfeld.

    Inga legte all ihre Angekotztheit in ihre Stimme und äffte jemanden nach: »Du hast als Kind keinen Kurs belegt? Und trotzdem studierst du jetzt Tanz? Ihre Mutter, ganz im ernst.«

    Bei jedem Wort sprang das Piercing an ihrem Mund auf und ab.

    Ich wollte sie in ihrer Wut nicht unterbrechen, also guckte ich nach oben in den stahlgrauen Himmel. Seit Wochen schon war es so irrsinnig kalt wie heute, doch Schnee schenkte man uns nicht. Ich liebe Schnee schon so lange ich denken und mich erinnern kann. Er verleiht dem Winter erst das, was er verdient. Schließlich hat der Sommer schon alle Farben bekommen.

    »Dieser Sommer …«, murmelte ich ironisch, verspielt und abwesend in die Winterluft hinein. Inga schien taub vor Wut.

    Als ich meinen Blick wieder senkte, hörte ich ihr Schluchzen. Sie hatte ihre Hände vor dem Gesicht verschränkt, versteckte sich hinter ihnen. Irgendwas musste ich sagen: »Ich habe gehört, dass die Kunstleute ziemlich arrogante Schnösel sind«, lamentierte ich.

    »Das wäre dann wohl die heftigste Untertreibung ever. Lass uns bitte über was Schönes reden. Nicht über diese Idioten.«

    »Nein, lass uns gehen. Der Bus ist sowieso irgendwo festgefroren.« Ich rechnete mit Gegenwehr und Einspruch, aber sie stand auf. Ich hatte es ihr vorgeschlagen, da oben am Fenster wieder Leute erschienen waren. »Wenn der Bus nicht kommt, stelle ich mir immer gern vor, wie der Fahrer irgendwo in einer Schneewehe steckt, der Kopf vergraben, nur die Beine gucken raus. Und niemand hilft ihm.« Sie musste ein bisschen Lachen, was kleine Rauchwölkchen erscheinen ließ.

    Wir gingen die Straße entlang, die zu meinem Wohnheim führte. Unsere Beine schienen von ganz allein in diese Richtung zu laufen. Zu Fuß – wofür ich normalerweise zu faul war – dauerte es fünfundzwanzig Minuten. Der Verkehr war stetig und versetzte die Luft mit diesem Geruch, den Autos nur bei Kälte abgaben.

    »Ich mag den Winter.« Ihr Gesicht schaute in den Himmel und auf ihren roten Wangen lagen noch die Spuren der kleinen Tränen. Ihre Nase war spitz und weniger blass als der Rest ihres Gesichts. So, wie sie jetzt gerade neben mir herging, und in die Wolken starrte, war sie wunderschön. Als ich das dachte, pumpte mein Herz einen besonders großen Schwall Blut durch mein Innerstes.

    »Ich bin übrigens Vincent. Eigentlich nennen mich aber alle nur Fin. Ich hatte mal eine Anhörung, und am Ende hatte selbst der Richter zu mir Fin gesagt.« – »Schön dich kennenzulernen Fin. Ich hab’ Hunger … Was machst du schon so früh hier? Keinen Job, keine Uni, kein freies soziales Jahr, das du vergeuden musst?«

    »Also erstens, glaube ich nicht, dass so ein Jahr vergeudet ist und zweitens, komme ich gerade von einer Vorlesung, die ich schon früher verlassen … musste.«

    »Warum?« Sie schaute mich an und zeigte echtes Interesse, was ich schon seit Wochen nicht mehr genossen hatte.

    »Vielleicht hatte ich keine Lust mehr. Vielleicht habe ich touretteartig verdammte Scheiße gebrüllt. Wer weiß das schon …«

    »Also wenn ich dich so sehe, würde ich auf Ersteres tippen.«

    »Das würde ich wahrscheinlich auch.«

    »Und, Fin, was machst du so, wenn du nicht gerade Vorlesungen sprengst?«, fragte sie überspitzt.

    »Lesen hauptsächlich, manchmal versuche ich auch selbst Sachen zu schreiben, aber in letzter Zeit nicht mehr.«

    »Welches Buch hast du als letztes gelesen?«, fragte sie mich ohne weitere Ausführungen zu machen. Ich hatte das Gefühl, dass das ein Test war, durch den ich kaum durchfallen konnte. Dieses Gefühl hatte ich zuletzt in der zweiten Klasse, als Tannenzapfenformen abgefragt wurden, und ich am Tag zuvor vier Stunden lang gelernt hatte: alle fünf Zapfen. Ich bekam eine Drei minus und zerstörte Träume.

    » Wer die Nachtigall stört«, sagte ich.

    »Gute Wahl«, antwortete sie und dann sagten wir beide eine Weile erst mal gar nichts mehr. Die roten Rücklichter fuhren an uns vorbei, denn die Sonne war noch nicht mal richtig aufgegangen.

    Ich wollte noch einmal auf die Leute am Fenster zu sprechen kommen. »Wusstest du, dass Arroganz meist aus Unsicherheit resultiert? Außerdem sind diese Leute immer allein, niemand will etwas mit ihnen zu tun haben.«

    »Ja, außer wenn der ganze Kurs so ist und du die einzige Normale unter ihnen bist.« Sie zog Anführungszeichen in die Luft hinein.

    »Autsch … aber ich weiß, was du meinst. Ich war auch schon mal bei so einer öffentlichen Prüfung für etwas Künstlerisches. Vor ein paar Monaten, aber für Schauspiel«, sagte ich, was der Wahrheit entsprach. »Ich hatte damals nicht damit gerechnet, dass es gleich so professionell werden würde und war einfach nur miserabel vorbereitet. Im Raum waren die drei Professoren und die anderen fünfzig Bewerber und ich trug Nathan der Weise vor, als würde ich in der Schule gerade ein Gedicht aufsagen. Und die anderen Bewerber saßen nur da und haben mich für verrückt gehalten. Der Typ nach mir hat irgendwas Dramatisches gemacht, geschrien, sich erstochen und noch mehr geschrien. Es gab sogar Kunstblut, wobei ich mich nicht gewundert hätte, wenn er sich für den Platz an der Hochschule wirklich in den Bauch gestochen hätte. Ich habe ihn einfach die ganze Zeit angestarrt, als würde ich ihn für verrückt halten.

    Der Professor hat mich nach dem ganzen Quatsch privat zu sich gerufen und gefragt, ob ich die ganzen Leute auch so schrecklich finden würde. Er hatte es an meinem Gesicht gesehen. Er empfahl mir, etwas Anderes zu machen, zu schreiben vielleicht. Wenn man es wirklich will, kann man diese Leute aushalten lernen, meinte er. Aber man muss es wirklich wollen …«

    Die Frage, die in einer heimtückischen Verkleidung daherkam, stand nun zwischen uns und wurde vom kalten Wind hin- und hergetragen. Ihre Augen schauten auf den Boden. »Ja, ich will es unbedingt.«

    Sie lächelte.

    Die Zuversicht in ihrer Stimme machte auch mir wieder Mut.

    Ich kam zum Stehen, da wir direkt vor dem Wohnheim angelangt waren, ein gelber Briefkasten zu unserer Linken.

    »Danke fürs nach Hause bringen«, hauchte ich ihr entgegen. »Bis dann.« Ich lächelte noch einmal zum Abschied und dann erwidert sie: »Übrigens, mein Name is’ Inga.« Dann drehte sie sich um und ging die ersten Schritte zurück zur Uni. Und dann rief sie noch »Bis morgen.«

    Im Flur angekommen drehte ich mich perplex um.

    Bis morgen?

    Manchmal war ich ziemlich langsam.

    84 STUFEN waren es bis zu meiner Wohnung.

    Das rechteckige Treppenhaus schloss an einem Ende mit einem ewig langen Gang, der wiederum mit drei Türen endete. So sah jedes Stockwerk aus und ich wohnte im obersten, im fünften. Als ich das Licht im Flur einschaltete, saß ganz hinten, im zuvor stockdunklen Gang, eine Katze. Jedenfalls glaubte ich, dass es eine war. Ich war mir nicht ganz sicher. Sie hatte langes, braunes Fell, welches hier und da mit grauen Schleiern durchzogen war. Ihre Ohren waren Schwarz, und ihre Augen hellbraun. Doch sie starrten in verschiedene Richtungen. Nach außen, wohlgemerkt. Ihr rechter Schneidezahn – anscheinend ein wenig zu lang – guckte aus dem Maul heraus, das platt ins Gesicht gedrückt schien. So saß sie da, als gäbe es keine Finanzkrise zu lösen.

    Dann ging die Tür links auf und laute, mir nur zu gut bekannte Musik begann durch das ganze Haus zu hallen. Die Katze wendete den Blick nicht von mir ab, sondern marschierte geradewegs in die leuchtende Wohnung. Eigentlich hatte ich ja keine Ahnung, ob sie mich angeguckt hatte. Die Augen von ihr machten sowieso, was sie wollten. Die Tür ging zu, die Musik wurde etwas leiser. (Wobei ich es nicht Musik nennen würde. Es waren – von dem was ich um drei Uhr nachts hörte – eigentlich nur endlose Bassschleifen.)

    Der Typ von gegenüber versuchte also schon wieder mit Bässen die Fenster zu zerschmettern. Er hat es in den letzten zwei Monaten noch nicht geschafft, aber ich drückte ihm die Daumen. In meiner Wohnung, direkt gegenüber, stellte ich meine Tasche ab. Das Zimmer war rechteckig. Wenn man reinkam war da direkt die ›Küche‹, die ich tatsächliche so nannte, da man dort zum Beispiel Wasser zum Kochen bringen konnte, auch wenn es auf den ersten Blick wirklich nicht danach aussah. Daneben am Giebelfenster stand mein unbenutzter Schreibtisch, an der Wand neben der Eingangstür ein Bücherregal, welches als Raumtrenner fungierte. Dahinter das Bett. Wenn Einbrecher also nachts in das Zimmer schlichen, könnten sie mich nicht im Schlaf meucheln, da das Bücherregal die Aussicht versperrte. Das Zimmer konnte mit drei Schritten durchmessen werden, und ich ließ mich mit meinen schneenassen Schuhen an den Füßen auf das Bett fallen und lauschte den Bässen meines Nachbarn, den ich noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Die Lichterkette, die mein Bücherregal umarmte und ganz fest hielt, wackelte leicht im Takt, was die kurzen Schatten an den Wänden tanzen ließ.

    In meinem Regal standen über dreißig Bücher, die ich noch nicht gelesen hatte. Heute werde ich mich auch nicht mehr zum Lesen durchringen können, dachte ich mir. Irgendetwas Produktives musste doch zu schaffen sein! Ich stand auf und holte meinen Laptop vom Schreibtisch. Ich öffnete das Emailprogramm und hätte am liebsten im Strahl gekotzt. Prüfungsanmeldung, Hausaufgaben, Praktika, Nachhilfe, Stellenausschreibungen, Kolloquium, Vorträge, Abgabetermine, Arzttermine telefonisch machen, Bewerbungen schreiben, Bausparvertrag abschließen … Okay, gegen Ende habe ich bloß noch Sachen aufgezählt, vor denen ich Angst habe. Der Laptop fuhr sich aus Mitleid selbst herunter.

    Ich nahm mir eine Tasse aus dem Schrank, füllte sie mit Wasser und gab es der einzigen Topfpflanze, die mein Zimmer zusammen mit mir teilte. Das tat ich immer, wenn ich in meiner Wohnung nicht weiterwusste. Ich nannte die Pflanze Jack, da ich sie durch das viele Wasser zum Ertrinken brachte. Ich sollte mir eine weitere holen, die ich dann Rose nennen und nicht mit Wasser ertränken würde. Aber wo bekam ich dann den hölzernen Kaminverschlag her, auf dem Rose sitzen musste? Mit solchen Überlegungen verging der Tag.

    Auf meiner Anrichte entdeckte ich eine ungeöffnete Flasche Wodka, die mir eine Freundin von früher zum Einzug geschenkt hatte. Bisher hatte es keinen Anlass gegeben, sie aufzumachen und ich würde auch jetzt getrost nicht damit anfangen, Alkohol zu trinken.

    Ich aß ein langweiliges Sandwich und ging schlafen. Die Sonne verbrannte zusammen mit dem jämmerlichen Rest meiner Motivation. Der leere Teller blieb, voll mit wirren Krümeln, auf meinem Teppich liegen.

    Der Tiefpunkt war dann um drei Uhr nachts erreicht, als ich nicht mehr schlafen konnte und die Bässe lauter waren als mein eigener Puls.

    Ich fragte mich, wann die Zeit verging.

    DER WIND hackte mir wie eine Krähe im Gesicht herum, als ich am nächsten Morgen auf dem Weg zur Uni war. Ich hoffte, es ging dem Busfahrer gut. Er hatte sich seit zwei Tagen nicht blicken lassen. Wenigstens war ich jetzt mal an der frischen Luft und holte mir eine saftige Lungenentzündung. Danke lieber Busfahrer … eigentlich wollten wir uns ja nichts mehr zu Weihnachten schenken.

    Ich lief an der Bank vorbei, auf der ich gestern Inga kennenlernte. Die großen Fenster der Akademie der freien Künste waren noch nicht erhellt und lagen schweigend, mit Eisblumen an den Rändern, im Dunkeln des Morgens. Die Uhren der Stadt zeigten kurz vor sieben, und nur Jesus wusste, wie ich es heute Morgen aus dem Bett geschafft hatte. Jesus wohnte eine Etage unter mir und hörte die Bässe, die mich aus meinem Bett rüttelten, ebenso deutlich wie ich.

    Tom würde heute auch noch krank sein. Vermutete ich. Hoffte ich. Hölle, ich. Eigentlich kannte ich Tom kaum, was wahrscheinlich der Grund dafür war, dass ich ihn nicht besonders mochte. Ich wusste nicht mal seinen Nachnamen. Wir hatten uns vor einigen Wochen kennengelernt. Wie Laubbäume im Nadelwald standen wir beide peinlich berührt im Abseits der Massen an Studenten. Es war die Grillfeier, die das Semester für die Neuankömmlinge einleitete. In meinem Kopf war ich hin und her gerissen zwischen einfach nach Hause gehen oder ihn ansprechen, doch als die Worte erst einmal aus meinen Mund fielen und das Gespräch lebte, war alles nur noch halb so schlimm. Er wirkte sympathisch und ich hegte die Hoffnung, endlich jemanden kennengelernt zu haben, mit dem ich die Zeit hier teilen konnte. Wahrscheinlich hatten wir beide damals beschlossen, dass unsere Sozialleiste – wie in dem Spiel Die Sims – langsam alle wurde. Wir brauchten mehr als unser Spiegelbild im Badezimmerschrank. Die Gespräche, die wir bald führten, hatten jedoch nie eine größere Tiefe als die Auswertung von Filmen oder die Diskussion kommender Filme erreicht. Es machte mich fast schon krank, ihm beim Reden zuzuhören, wie die Wörter seinen Mund verließen und wie matschiger, dreckiger Schnee auf dem Boden zurückblieben, wo sie mich noch weniger interessierten als der Schmutz unter ihnen. Zu dieser Zeit trug ich eine innere, – und wie ich mir sagte – natürliche Gereiztheit mit mir herum. Sie wirkte wie eine Mauer gegen alles Schlechte, das noch hinzukommen wollte. Natürlich bewahrte sie mich auch vor allem Guten, denn einfach alles prallte an ihr ab. Nur die wirklich schmerzhaften Sachen suchten sich Risse und Lücken, zogen selbst durch die kleinsten Löcher.

    Meine Kontaktlinsen fühlten sich komisch an, als ich das Unigebäude betrat. Wie kleine Katzenpfoten auf meinen geschlossenen Lidern.

    Gott, war ich allein.

    Als ich in den Hörsaal, in dem gleich Physik (wortwörtlich) vorgelesen werden würde, kam, hörte man nur das Stöhnen und Schnaufen und Ächzen meiner versammelten Kommilitonen. Es waren wesentlich weniger als letzte Woche und dennoch mehr als nächste Woche. Es war eine Tendenz zu erkennen.

    Wie ich es vermutet hatte, konnte ich meinen suchenden Blick nach Tom schon nach wenigen Sekunden abbrechen. Sein widerspenstiger Haarschnitt und seine dunkel umrandeten Augen waren nirgendwo zu sehen. Ich setzte mich also wie immer allein nach ganz hinten. Ein Mädchen mit kurzem braunem Haar kam in den Hörsaal rein und blieb kurz vor meiner Reihe stehen. Ich sah hoch und lächelte. Keine Ahnung woher ich das Lächeln nahm. Wahrscheinlich war es schon abgelaufen, denn sie drehte sich um und setzte sich drei Reihen weit weg.

    Ich bin nicht unsozial. In der Schule hatte ich früher viele Freunde. Man mochte mich, auch wenn das jetzt vielleicht großkotzig klingt. Doch nun habe ich Schwierigkeiten damit, neue Leute kennenzulernen. Irgendwie war das früher einfach passiert, und jetzt stand ich hier und würde die versammelte Zombiemannschaft am liebsten befragen, ob jemand mit mir um drei Uhr nachts gerne Disney-Filme gucken würde. Vielleicht betrunken. Wie sollte ich denn bitte schön zu jemanden hingehen und ihn einfach ansprechen? Die Wahrscheinlichkeit, dass wir grundverschieden sein würden, liegt bei vielleicht neunzig Prozent. Genauso hoch wie bei Tom.

    Irgendwie ist man da früher einfach so hineingestolpert – in so eine Freundschaft, meine ich. Es wurde Zeit, mal wieder zu stolpern!

    Aber ich war nicht mutig genug. Ich saß alleine meine Zeit ab.

    Der Physikprof sah aus wie der Professor aus Zurück in die Zukunft. Ich suchte den fiktiven Charakter im Internet auf meinem Handy und hielt das Ergebnis gegen den echten Physikprofessor, wobei meine Augen die beiden abwechselnd scharf stellten. Das Bild sah tatsächlich aus wie sein Zwilling, oder jedenfalls wie ein Foto davon. Ceci n’est pas une pipe. Und das war auch schon das Highlight der Vorlesung. Neunzig Minuten später konnte ich gehen. Ich hatte nichts mitgeschrieben. Wozu auch? Damit muss sich dann mein Zukunftsich auseinandersetzen. (Wir hassten uns, wohlgemerkt.)

    An der Bushaltestelle überlegte ich kurz, ob ich mein Glück mit meinem Lieblingsbusfahrer noch einmal versuchen sollte.

    »Okay, aber das ist deine allerletzte Chance«, sagte ich wie die Mutter, die ihrem verzogenen Kind zum dreihundertsten Mal drohte. Also setzte ich mich und wartete. In der Akademie der freien Künste gegenüber brannte noch immer kein Licht. Die schienen heute auswärts zu tanzen.

    Als ich mich hinsetzte, tauchte jemand aus den morgendlichen Schatten auf. Der Junge aus dem Nebel hatte braune Haare wie ich, seine hingen ihm jedoch lockig über die eine Hälfte seiner breiten Stirn und er hatte die Seiten kurzrasiert, was zurzeit wirklich jeder so trug. Manchen stand es verdammt gut und manche sahen so aus, als hätten sie es selbst geschnitten. So wie Britney damals. Ihm stand es. Er trug eine viel zu dünne Jacke und Schuhe, die sieben Nummern zu groß schienen. Die Schnürsenkel hingen drei Kilometer hinter ihm. Sein Kinn besaß den leichten Schatten eines Bartes.

    Ich wollte mich gerade zurücklehnen und Musik hören, als er mich ansprach.

    »Bist du nicht der Verdammte-Scheiße-Typ von gestern?«

    Perplex zog ich die Kopfhörer aus meinen Ohren. Hatte er mich gerade als verdammte Scheiße bezeichnet?

    »Was?!«

    »Bist du nicht der Verdammte-Scheiße-Typ von gestern?«, wiederholte er mit etwas Nachdruck.

    »Ich glaube, ja.« Ich war immer noch verdutzt, dass er mich einfach so ansprach.

    Er setzte sich zu mir auf die Bank. Für meinen Geschmack etwas zu nahe für den ersten Kontakt. Erster Kontakt … als wäre er ein Alien oder so.

    »Ich bin Pilou, und du?«

    »Pilou?« Mir fiel nicht im Entferntesten auf, wie unhöflich das war. Ich wartete auf eine Antwort, aber es kam keine, also fügte ich hinzu. »Den Namen habe ich noch nie zuvor gehört.«

    Er gluckste leicht. Ich war scheinbar nicht der Erste, der dies anmerkte. »Ja, den Namen gibt es. Meine Eltern kommen aus Schweden, habe ich mir sagen lassen, und wollen die Tradition scheinbar nicht aussterben lassen, ihren Kindern Namen zu geben, die sie dreimal wiederholen und dann buchstabieren müssen. Und nachdem das im Schnitt schon immer zehn Minuten dauert, kommt im Anschluss noch der Nachname dran. Schmaalstedt.« Er fuchtelte ziemlich viel mit den Armen, während er sprach. Seine Stimme war geradezu überladen mit Ironie, was mir sehr gefiel. Wenn die neunziger Jahre Jugend eines beherrschte, dann war es Ironie und Sarkasmus.

    Ich schnaufte beim Kichern leicht, was kleine Nebelblasen in der kalten und trockenen Winterluft entstehen ließ, die wie ruhelose Geister im Nichts verblassten.

    »Also mein Name ist Vincent, und den musste ich noch nie buchstabieren, glaube ich. Vincent Steiner.«

    Scheinbar war Pilou gerade mit einatmen beschäftigt,

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