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Knochenlieder: Roman
Knochenlieder: Roman
Knochenlieder: Roman
eBook286 Seiten1 Stunde

Knochenlieder: Roman

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Über dieses E-Book

Sie heißen Familie Blau, Weiß, Rot, Grün, sie leben abgeschottet in ihrer Siedlung, sie befolgen die Regeln. Fortpflanzung und Natur stehen weit oben auf der Normenliste. Weil sich bei Regina und Jakob Grün jedoch kein Nachwuchs einstellen will, helfen sie nach, im Geheimen natürlich. Solches Handeln ist verpönt, und Geheimnisse gibt es nicht. Rosa tritt mit einem Fluch belegt ins Leben. Das neugierige Mädchen, das im gewitzten Fredy Blau einen Gefährten findet, wird bald schon von der Strafe eingeholt.

Knochenlieder erzählt die Geschichte der Familien Grün und Blau über rund sechs Jahrzehnte, beginnend um 2020. Wenn im ersten Teil das Leben in der Siedlung im Mittelpunkt steht, spielt der Roman im zweiten Teil und gut zwanzig Jahre später in einer überwachten Stadt, die nur noch den Ausnahmezustand kennt. Hier lebt Pippa, zusammen mit einem widerlichen Vater, von dem sie sich dringend befreien will. Ihre Fähigkeiten als Hackerin sollen ihr dabei behilflich sein. Im dritten Teil macht sich Pippa auf die Suche nach ihrer Mutter und findet Rosa, die ihr Geschichten von früher erzählt, auch jene von Fredy, dem einzigen Menschen, den sie wirklich geliebt hat.

Martina Clavadetscher legt mit ihrem zweiten Roman eine bitterböse Zukunftsgeschichte vor, in die sie geschickt verschiedene Märchenmotive einflicht. Eine knappe Sprache und schnelle Dialoge prägen den Text. Knochenlieder ist ein harter Roman, unterlegt von tiefer Menschlichkeit.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Juni 2018
ISBN9783906907093
Knochenlieder: Roman

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    Buchvorschau

    Knochenlieder - Martina Clavadetscher

    DANK

    I. STACHELKIND

    1. ABSTIEG

    -Salz,

    Kaffee,

    Rohzucker,

    Vollkornmehl.

    Jedes Wort – ein Schritt.

    Und die Wortwiederholung wird zum Weg über die Wiese.

    Raureif klebt an den Gräsern.

    An den Schattenhängen liegt Restschnee,

    Flecken wie verschüttete Milch.

    Jakob bräuchte die Waren gar nicht aufzuzählen.

    Er kann sie längst auswendig.

    -Salz, Kaffee, Rohzucker, Vollkornmehl,

    dann Reis, die Post, die bestellten Bücher.

    Die monatlichen Produkte für die Frauen.

    Die kurzen Kinderschritte auf dem Laubboden hinter ihm

    werden langsam,

    langsamer,

    setzen schließlich ganz aus.

    -Schon wieder.

    Denkt Jakob.

    Und bleibt stehen, weil der Kleine steht.

    Jakob dreht sich um. In den Händen die Kiste.

    Der Bub bestaunt den Wegrand.

    Diesmal sind es nicht die frühen Blüten am Brombeerstrauch,

    nicht die zuckenden Falter,

    diesmal ist es ein liegender Baumstamm.

    Vergessen liegt er da,

    der Übungsposten einer Laufstrecke ist überwuchert,

    das Holz morsch vom Regen.

    Mit seinen Fingern grübelt der Bub tiefer hinein,

    untersucht die weichen Stellen.

    -Ziemlich schlau für seine drei Jahre.

    Fällt Jakob auf.

    Seit der Bub jede Neuigkeit mit Pausen erwidert.

    -Wir haben Zeit.

    Jakob schaut nach oben.

    Äste ragen wie Geäder in den blassen Himmel.

    Die Bäume erwachen aus dem Winterschlaf.

    Auf einigen Trieben hängen noch Eiskristalle.

    Mücken schwirren im Gegenlicht,

    zucken in Orientierungslosigkeit,

    wie suchende Kleinsterne.

    Die Morgenluft ist Milchglas.

    -Kob Grün. Kaputt. Der Baum. Schau.

    Das besorgte Kindergesicht sucht nach einer Antwort.

    -Das macht nichts, Fredy. Das ist Holz. Das ist übrig geblieben,

    aber die Tiere, die Insekten, machen das irgendwann weg.

    Der Bub streckt Jakob die Kinderhand entgegen,

    sie ist gefüllt mit weichen Holzkrümeln.

    -Wie der Bub erst im Laden schauen wird.

    Schießt es Jakob durch den Kopf.

    Er denkt dabei an:

    -All die Sachen und Sächelchen.

    Farbig, liebenswürdig, anziehend.

    Der Bub wandert jetzt weiter.

    Seine kurzen Beine stapfen über Wurzeln,

    über Hügel und Steine.

    Die Hälfte vom Abstieg liegt hinter ihnen.

    -Komm, Fredy. Bald kommt die Weggabelung bei den Buchen.

    Da ist der Ziehwagen. Da kannst du mitfahren.

    -Mit dem Autoziehwagen!

    -Jaja.

    Jakob Grün nimmt den Kleinen bei der Hand.

    Hinter den drei Buchen steht

    wie versprochen

    der Wagen.

    Ein Fächer aus losen Ästen schützt das Fahrzeug.

    Der Bub klettert hastig hinein.

    Die Kiste platziert Jakob bei den Kinderfüßen.

    Er zieht an der Deichsel.

    Die knorrigen Speichen knacken.

    Der Zweiachser ächzt.

    Die Räder rumpeln.

    Der Bub quietscht vor Freude.

    Bald wird aus dem Trampelpfad ein Weg,

    aus dem Weg wird eine Kiesstraße,

    und aus der Kiesstraße harter Asphalt.

    Dann ein Schrei.

    -Auto! Auto!

    Sofort hat der Bub den Kombiwagen in der Kurve entdeckt.

    Mit offenem Mund schaut er zu,

    wie das Automobil die Bergstraße hochschleicht,

    sich nähert,

    sich nähert,

    sich nähert,

    vorbeirollt,

    gleichgültig,

    sich entfernt,

    sich entfernt,

    sich entfernt,

    ganz weg ist.

    Dann sitzt der Bub still im Wägelchen.

    Vorne zieht Jakob weiter.

    -Die Ausflügler sind merklich weniger geworden.

    Denkt Jakob.

    Im Wagen hinter ihm bleibt es ruhig.

    -Sein Nachdenken liegt mir im Nacken.

    Jakob wartet.

    Dann:

    -Kob Grüüüün?

    -Ja?

    -Ich will auch ein Auto.

    Mit Fenstern und mit Benzin und mit Straßen.

    So schnell und dass es tönt. So.

    Der Bub imitiert das Gefährt.

    Jakob muss lachen über das Mundgeräusch,

    muss lachen über das Gedankenbild,

    wie der Bub seinem Vater Thomas den Wunsch irgendwann vorträgt.

    -Da musst du deinen Vater Blau fragen.

    Erklärt Jakob.

    Er hat den Bollerwagen gar nicht mehr zu ziehen jetzt,

    eher zu bremsen.

    Es geht tüchtig abwärts.

    Die Neigung drückt ihm die Deichsel gegen den Hintern.

    Hinten hockt das nachdenkliche Kind.

    Vorne denkt der voranschreitende Jakob.

    -Generationen bewirken immer Reaktionen auf Generationen.

    Es ist ein heilloses Auf und Ab auf dieser Welt.

    Wie der Wellengang auf dem offenen Ozean.

    Jakob hält den Bollerwagen fest,

    in seinem Griff die Steuerung,

    noch ist der Karren leicht.

    Die letzten Bäume ziehen vorbei,

    geben den Ausblick frei auf das Seitental.

    Dort hockt in einer Mulde ihr Ziel: das ockerfarbene Dorf.

    Es sieht ganz anders aus

    als die Heimat hinter ihnen:

    Diese Anhöhe im Seitental

    von einem Seitental

    auf einer Felsterrasse,

    wo früher Reben für den Weinbau reiften.

    Das Steinplateau liegt günstig an der Bergflanke,

    der Sonne ausgesetzt,

    trotzdem gut versteckt und beschützt.

    Dorthin sind sie entschieden ausgestiegen, damals,

    haben ihre Lebensmitte an den Rand verpflanzt, damals,

    sich rückverbunden und ausgeliefert,

    der Erde, dem Gestein, dem Wasser und Eis.

    Sind der widerspenstigen Natur

    auf Augenhöhe begegnet,

    sind abgestiegen hinein

    und aufgestiegen hinauf

    in die Ruhe vor den Unruhen.

    In Sicherheit.

    Das war damals.

    Heute sind die Nebengeräusche der Umwälzungen noch lauter geworden.

    Umso mehr wird geflüstert in den Restaurants und Straßenbahnen.

    Heimwege geht man über Abkürzungen.

    Und Abkürzungen geht man besser zu zweit.

    Der ganze Kontinent hat begonnen,

    seine Inhalte durchzuschütteln.

    Seine Muskeln zu zeigen

    in Anspannung und Angst.

    Doch all das geschieht ohne sie.

    Denn: Sie sind hier,

    sie erfahren es Monate später oder gar nicht,

    wenn sich das Unerhörte wie ein Knall ausbreitet,

    wenn vor Theatern Sprengsätze zerplatzen,

    wenn im Parlament Friedenspläne zerbrechen,

    wenn am Alpenmassiv Passagierflugzeuge zerschellen.

    Wieder und wieder sind sie froh über ihr Unwissen.

    -Diese Entscheidung ins Abseits –

    unsere Zukunftsmenschlein haben sie mit uns zu tragen.

    Denkt Jakob.

    Während der Bub in seinem Rücken wie ein Sportwagen brummt.

    -Es ist unvermeidbar. Die Kinder werden wieder zurücksteigen,

    sich zurückentscheiden.

    Bald sind sie unten.

    Die Hausdächer stehen jetzt deutlich in der Landschaft.

    Das Bergdorf hat einen italienischen Namen

    und ist für sie Zugang zur Zivilisation.

    Jakob kratzt sich am Bart,

    ein Zupfen mit Zeigefinger und Daumen,

    ein sinnloses Klauben am Barthaar.

    Hinten im Wagen singt der Kleine ein erfundenes Lied.

    Fredy ist das erste Kind aus dem Dorf.

    Das erste Kind aus Haus Blau.

    Das erste Glück von vielen anderen Glücksfällen.

    Jakob presst seine Backenzähne aufeinander.

    Aus Freude. Und aus Mangel

    an einer anderen Freude.

    -Die Natur ist nicht jedermanns Sache.

    Und umgekehrt.

    Denkt Jakob wie zum Trost.

    Und ruft nach hinten:

    -Rennfahrer! Bald sind wir da.

    2. SIEBEN SIND KEINE DREIZEHN

    Die Sonne ist ein blendender Ball.

    Noch wärmt sie die Steinmauern nur langsam.

    Das Moos auf dem Mörtel trägt Frost.

    Die Hühner irren umher,

    alles flattert, alles rennt durchs Gehege.

    Es gackert und stäubt vom Boden herauf.

    Regina beruhigt das Federvieh mit Lob.

    -So viele Eier. Ihr guten Vögelchen, ihr. Hopp!

    Ihr seid mir ein Hühnervolk. Los. Hopp!

    Richtige Eiermaschinchen seid ihr. Hopphopp!

    Die Eier legt sie sanft in den Korb,

    die weißen, großen Stücke sind noch warm.

    Regina fährt mit der Fingerkuppe über die Schale,

    über diese Makellosigkeit in Weiß.

    Ihre Finger sind trocken,

    die Knöchel zeigen blutige Risse.

    Die letzten drei Winter haben ihre Spuren hinterlassen.

    Vor dem Haus Blau hält die Sonne ein warmes Plätzchen bereit.

    Auf der Feuerstelle davor kocht ein Haferbrei.

    Es dampft aus dem verrußten Topf.

    Die Gemeinschaft sitzt bei der Arbeit.

    Zwei Frauen gähnen in den Morgen.

    -Regina, wie viele?

    Fragt Emma Blau Richtung Hühnergehege.

    Ihre Stimme tänzelt zwischen Neugier und Freude.

    Sie zupft weiter die jungen Blüten von den Wiesenblumen.

    Auf dem Schoß liegt ein Stofftuch als Unterlage.

    Neben ihr sitzt Sybille Weiß.

    Sie schält Rüben für eine Suppe.

    Vor ihr eine Holzschüssel als Sammelbehälter.

    -Sieben.

    Antwortet Regina den Frauen.

    -Aber sieben sind keine dreizehn.

    Scherzt die Weiß schlagfertig zurück.

    Die Weiß hat breite Schultern,

    den Hals mit einem Wollschal umwickelt,

    und schmunzelt zufrieden über ihren Einwand.

    -Das war nur ein halber Scherz.

    Weiß Regina,

    verdreht die Augen und

    ruft aus dem Hühnerstall zurück:

    -Aber sieben sind keine fünf.

    Sind auch keine drei.

    Schon gar keine zwei.

    Jetzt lacht Emma Blau.

    Eine grobmaschige Wollmütze verbirgt ihr lockiges Haar.

    Trotz der Gifteleien behält sie ihre Gleichgültigkeit.

    Vielleicht weil irgendwo

    in der Sonne,

    in der Wiese,

    ganz in der Nähe

    die Kinder strampeln und krabbeln.

    -Die Natur schenkt uns, was sie uns schenkt.

    Beendet die Weiß ihr Spottgeschleuder.

    Und wirft zwei Rüben in die Schüssel.

    Der Morgen ändert seine Farbe.

    Im Hintergrund atmet der Wald,

    im Unterholz ist ein Knacken zu hören.

    Doch eigentlich ist es ein Hacken und Sägen.

    Die Männer arbeiten hinter einer Mauer aus Tannen.

    Regina verlässt die Hühner,

    stellt sich vor die Frauen hin.

    Sie streckt das Gesicht der Sonne entgegen,

    wartet, bis sie die Wangen wärmt,

    spürt hauptsächlich ihren Unterleib,

    wie er krampft, sich löst,

    zieht und stößt.

    -Wie lange sind sie schon weg?

    Fragt Emma Blau geschwind.

    Und meint damit ihren Buben Fredy und den Jakob.

    -Die kommen schon zurecht.

    Sagt Regina.

    Die Weiß hustet jetzt in ihren Wollärmel,

    übertrieben, als wäre der Husten echt.

    -Das ist doch alles zu früh. Aber das wisst ihr ja.

    So was fühlt eine Mutter,

    es liegt tief im Kern unserer Sache als Frau –

    das Sorgen, das Halten.

    Alles andere ist unweiblich.

    Grün und Blau ärgern sich,

    suchen Augenverbindung,

    doch ihre Münder schweigen,

    wie sie immer schweigen,

    wenn es die Weiß mal wieder besser weiß.

    -Ich fülle mir einen Tee.

    Lenkt Regina ab,

    und geht weg.

    Den Korb mit Eiern sanft an sich gedrückt,

    steuert sie zur Gemeinschaftsküche,

    wo dem Schornstein grauer Rauch entsteigt.

    -Die hat Schmerzen im Bauch.

    Bemerkt die Weiß trocken.

    Emma Blau zuckt zusammen

    und versucht, genau das zu verbergen,

    senkt deswegen die Hände auf das Stofftuch,

    bettet ihre Finger auf die Wiesenblüten,

    gerade so, als warte sie auf mehr Beweise.

    -Das sieht doch jede.

    Legt die Weiß nach.

    Beinahe hätte es Emma Blau bei einem Seufzen belassen,

    doch stattdessen schickt sie ihrem Ausatmen

    und dem zarten Dampfwölklein vor ihrem Mund

    zwei gereizte Worte hinterher.

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