Stille Nacht - reloaded: Weihnachtliche Geschichten
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Buchvorschau
Stille Nacht - reloaded - Rubinius Rabenrot
Eine Winternacht
Gerne würde ich diese Geschichte mit „Es war einmal …" beginnen, doch das, was ich ihnen jetzt erzähle, begegnet einem täglich.
Wenn ich an Jakob denke, blutet mir mein Herz.
Der Junge war sechs Jahre alt. Mit Vater und Mutter lebte er am Rande der Großstadt, in einem Kiez, in dem die Menschen, Tag für Tag ums Überleben kämpften. Die Familie bewohnte eine der miefigen Wohnungen in einem der Wohnsilos in der gänzlich verdreckten Straße. Die etwas dickliche Mutter verbrachte die meisten Stunden des Tages vor dem Fernseher, während der Vater neben ihr auf dem Sofa den Tag verschlief. Für Jakob war eigentlich niemand zuständig. Es fühlte sich keiner der beiden verantwortlich. Eigentlich war es so, wie es bereits in ihrer eigenen Kindheit war. Jakob hatte einfach zu funktionieren. Er hatte einfach da zu sein und das zu tun, was man von ihm verlangte.
„Probier´ mal", brummte der Vater eines Abends und hielt seinem Sohn eine Flasche Korn vor die Nase. Jakob roch daran. Angewidert schüttelte er verneinend den Kopf.
„Trink´", forderte der Vater.
„Lass gut sein, Herbert", stöhnte die Mutter, während sie hypnotisiert in die Flimmerkiste glotzte.
Jakob nahm mit beiden Händen die halbleere Schnapsflasche. Vorsichtig setzte er sie an die Lippen und schaute den Papa dabei mit weitaufgerissenen Augen an.
„Trrrink!", brüllte der Vater, als ihm das Zögern des Sohnes zu endlos dauerte. Erschrocken zuckte der Junge zusammen. Folgsam trank er von dem Schnaps.
Die Flüssigkeit brannte in seinem Mund, floss ätzend, brennend durch die Speiseröhre. Breitete sich, wie ein Flächenbrand im Magen aus. Tränen schossen Jakob in die Augen. Verschreckt ließ er die Flasche fallen. Er spuckte das flammende Gesöff auf den Boden. Versuchte das Brennen in ihm wieder loszuwerden. Das Flammenmeer aus sich herauszuwürgen.
Zornig stürzte sich der Vater auf die Kornflasche, die neben Jakob auf dem Boden lag, und deren kostbarer Inhalt langsam in den Teppichboden sickerte. Mit der flachen Hand, ausser sich vor Wut, schlug er seinen Sohn mitten ins Gesicht.
„Du Memme!", schrie er. Die Gesichtszüge hasserfüllt verzerrt. Er trank den restlichen Schnaps aus. Verächtlich stierte er mit seinen rot unterlaufenen Augen den Sohn am Boden sitzend an und brach in ein schallendes Gelächter aus.
Kurz sah Jakob seinen Papa an. Erschrocken sprang er auf und rannte so schnell es ihm möglich war, in das Kinderzimmer. Schleunigst verschloss er von innen die Tür.
„Herbert, gib doch Ruhe. Der arme Junge!", hörte er die Mutter im Wohnzimmer kreischen.
„Halt´ s Maul, brüllte der Vater zurück. „Ich spiel ja nur mit ihm!
Mit dem Teddybär im Arm setze Jakob sich in die halbdunkle Ecke des Zimmers. Leise schluchzte er. Jakob drückte sich tröstend den flauschigen Bären an die tränennasse Wange. Er weinte. Er weinte nicht wegen der Schmerzen. Jakob weinte, weil er in der Familie vereinsamte. Weil er Angst vor den beiden hatte.
„Das konnten unmöglich Vater und Mutter sein, flüsterte er. „Diese bösen Menschen dürften niemals Eltern von Irgendjemanden sein.
Jakobs Augen wanderten zum Fenster. Der Halbmond draußen am Himmel hing zwischen den Sternen. Kaum merklich schien er hin und her zu wippen. Der Mond, er lächelte ihm zu und mit einem Mal wurde Jakob klar, was er in dieser Adventsnacht zu tun hatte. Ihm fröstelte bei dem Gedanken. Er drückte den Teddy noch kräftiger an die Brust und endlich: Als Vater und Mutter die Schlafzimmertür hinter sich schlossen, wurde es ruhig in der Wohnung. Alsbald war nur mehr das sägende Schnarchen der beiden Erwachsenen zu hören. Jakob schlich in die Küche. Er packte das einzige Stück Brot aus dem Brotkasten in den Rucksack. Leise, schleichend ging er auf Zehenspitzen an die Garderobe. Nahm die dicke Jacke, die Mütze und wickelt den grauen Wollschal um den Hals. Geräuschlos verließ er die Wohnung.
Draußen erwartete ihn eine bittere Kälte. Der Mond verschwand hinter Wolken. Sachte tanzten Schneeflocken am nächtlichen Himmel.
Ein Greis kam ihm hinkend entgegen. In der Luft lag ein zimtiger Geruch. Die Augen des alten Mannes glänzten und standen voller Tränen.
„Kleener, haste was zu essen?", fragte der Alte. Die Stimme klang rau und kraftlos. Jakob wich einen Schritt zurück, aber er wusste, wie quälend Hunger sein konnte. Er griff in den Rucksack und gab dem greisen Mann das Brot.
„Dank es dir der Himmel, Kleener", sagt der hinkende Greis und humpelt weiter in die Nacht.
Ängstlich zog Jakob weiter bis zur hell erleuchteten U-Bahn-Station. Eisige Kälte kroch durch die löchrige Jeans. Er lief die Treppe hinunter auf den warmen Bahnsteig. Die herankommende Bahn zerstäubte die warme Luft und schob die Kälte des Winters auf den Gleisteig.
Der kleine Junge stieg in den Zug Richtung Stadtmitte. Er wollte zum Weihnachtsmarkt. Irgendwer hatte erzählt, das Christkind habe seinen Markt in der Stadtmitte aufgebaut.
Holpernd rollte die Untergrundbahn durch den finsteren Tunnel. Jakob wollte mit dem Christkind reden. Es bitten, ihm andere Eltern zu schenken. Einen Vater, der für ihn da war. Eine Mutter, die ihn in die Arme schloss, wenn er traurig war und ihn festhielt.
Der Zug fuhr in eine grell erleuchtete Haltestelle ein. Stadtmitte las er auf dem Neon beleuchteten Schild am U-Bahnsteig. Jakob ging über die