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Der Morgenkristall²
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eBook277 Seiten3 Stunden

Der Morgenkristall²

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Über dieses E-Book

Endlich kann Waylon sein Leben wieder genießen. Nach der Kreuzfahrt mit Karoline, kommen sich beide wieder näher. Im neuen Frühling sieht er endlich alles positiver. Dann landet ein unzustellbares Päckchen für Mrs Pepper bei ihm. Die alte Dame jedoch ist spurlos verschwunden. Dies ist der Beginn neuer, sich bald überschlagender Ereignisse. Ein geheimnisvoller Wagen taucht auf. Sophie, Mrs Peppers Adoptivtochter, steht aufgelöst vor seiner Tür. Doch ebenso unerwartet verschwindet auch sie, während ihre Mutter wieder auftaucht. Bald stellt sich heraus, dass diese mehr weiß, als sie sollte. Und dann begegnen sie der ›Sternenbruderschaft‹ …
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum10. Feb. 2015
ISBN9783735769244
Der Morgenkristall²
Autor

Finley Mountain

FINLEY MOUNTAIN wird 1965 geboren. Büchern kann er anfangs nur sehr wenig abgewinnen. Schullektüre, zu der damals zum Beispiel auch Robinson Crusoe gehörte, legt er achtlos beiseite. Erst ein Jugendbuch erregt seine Aufmerksamkeit, und entfesselt eine bis dahin verborgene Leidenschaft. Von nun an verschlingt er alles, was er zwischen die Finger bekommt. Darunter alte Klassiker wie Charles Dickens, Daniel Defoe, Kurt Laßwitz, Jules Verne. Durch einen Comic kommt er zum Schreiben. Zeichnet er anfangs versuchsweise noch seine Charaktere, stellt er bald fest, dass ihm das Wort besser liegt. So entstehen erste, zaghafte Versuche. Unter Pseudonym veröffentlicht er Anfang 2000 im Internet zahlreiche Texte. Mit dem Morgenkristall legt er 2014 sein Debüt in der Fantasy-Literatur vor. Zur Zeit arbeitet er an der Fortsetzung.

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    Buchvorschau

    Der Morgenkristall² - Finley Mountain

    Sonnenbasilisk

    Eins

    Der Winter ist ein Flop. Und was für einer. Schnee ist Schnee von gestern, soll heißen: Nicht ein einziger Krümel! Dagegen stürmt es ununterbrochen. Die Meteorologen und einige selbsternannte Experten schieben alles dem Klimawandel in die Schuhe. Ist schon ein Phänomen, wie leicht es diesen Leuten fällt. Und dabei gab es in der Erdgeschichte oftmals schon Wetterverschiebungen! Auch nachgewiesen! So!

    Waylon schaltet das TV-Gerät kommentarlos ab. Entweder wollen die einen kirre machen mit solch widersprüchlichen Meldungen, oder aber die denken, man ziehe die Hosen mit der Beißzange an. Beides unverschämt und dazu noch dämlich. Dafür gibt es nur ein treffendes Wort: Verdummung! Aber bei der heutigen Schulbildung kein Wunder! Frag mal einen Jugendlichen nach dem amtierenden Premier! Waylon lacht in sich hinein. Häufig hört er dann Obama

    Alles ist eben anders als Früher und – Früher ist ein für alle Mal vorbei. Wenn er damals so desinteressiert gewesen wäre… Keinen müden Penny hätt' er verdient! Alles richtig gemacht soweit! Lebensziel erreicht! Hm. Einiges würde er allerdings doch anders machen, wenn er jetzt so richtig darüber nachdenkt.

    Seit seinen Erlebnissen im letzten Jahr vermeidet Waylon solch geartete Gedanken. Die bringen einen mehr in eine Zwickmühle, als dass sie helfen. Das hat er gelernt! Vielleicht fühlt er sich gerade deswegen heute so gut. Karoline hat aber auch einen großen Anteil am Seelenheil! Kaum schwirrt sie in seinem Kopf, flattern unsagbar viele Schmetterlinge im Bauch.

    Auch wenn sie nichts überstürzen wollen, behält jeder seine gewohnten vier Wände. Einmal die Woche verbringen sie einen Tag zusammen. Er wünscht sich zwar, dass es ein bisschen mehr sein könnte, jedoch braucht alles seine Zeit. Mit der Ex nochmal eine Beziehung aufbauen, ist schon mehr als verrückt. Doch warum eigentlich nicht?

    Aus seiner Schwärmerei reißt Waylon der plötzlich auftauchende Gedanke, dass Karoline nächste Woche Geburtstag hat! Ups! Daran hat sich eben nichts geändert; diese ewige Vergesslichkeit markanter Daten. Er könnte sich gerade in den Hintern beißen! Eilig sucht er nach dem Kalender. In der Hoffnung, dass Datum markiert zu haben, wühlt er sich durch einen Stapel Papiere.

    ›Wie oft wollte ich das Ding schon aufhängen! Aber nein, Waylon Latham hat's wieder mal vermasselt! Wie doof kann man eigentlich sein!‹

    Dieser Stapel ist es nicht. Der da… Hm. Ihm fällt ein, in der Küche könnte der Kalender zuletzt gesichtet worden sein. Also auf! Im Laufschritt geht’s in die Küche. Irgendwie muss Waylon den Staubsauger übersehen haben. Aufräumen ist auch so ein Punkt, welchen man nicht als Hobby, besser als Übel bezeichnen kann. Zwar notwendig, doch das ist schon das einzig Positive an der Sache. Also stößt er mit dem Fuß voll dagegen, bleibt hängen und knallt unglücklich mit der Schläfe gegen den Türrahmen.

    Sterne sieht er keine, aber es tut verdammt weh! Ein langgezogener, halb unterdrückter, archaisch grollender Schrei geht durchs Haus. Sekundenlang durchströmt der Schmerz Waylon. Kräftig ein- und ausatmend dämpft er yogaartig sein Leid. Humpelnd und die Stirn haltend geht er übervorsichtig in die Küche.

    Doch erst mal ein Schluck Wasser auf den Schreck. Oder doch gleich ein Aspirin? Öhm – so schlimm ist es eigentlich nicht. Aber schaden kann es ja auch nicht, so aus reiner Vorsorge?

    Das Glas ist rasch mit Leitungswasser gefüllt. Gierig nimmt er den ersehnten Schluck. Was ist das denn?

    ›Ich glaub, mich tritt ein Pferd. Da hängt der vermaledeiter Kalender doch!‹

    Mit dem Alter ist es eben doch so eine Sache! Diese Worte kann er nicht oft genug wiederholen. Körperlich gut beisammen, hängt manchmal das Hirn hinterher. Aber das der Kalender bereits hängt – unverständlich!

    Waylon zuckt demonstrativ mit den Schultern.

    Auf dem Wand-Almanach prangt ein mit rotem Marker gemalter Kreis, wobei Anfang und Ende unberührt bleiben.

    »Du bist ein Schatz, Karoline!«, ruft er glücklich.

    Was zwei Dinge beweist! Erstens: Sie hat ihn aufgehängt, das Datum markiert und Zweitens: Er hatte Recht – ihr Geburtstag ist nächsten Freitag! Yes!

    ›Bist doch gar nicht so dumm, wie du manchmal aussiehst, Way!‹

    Schallend lacht er.

    »Laus mich doch der Affe!«

    Schlagartig verstummt Waylon. Irgendetwas löst dieses Wort bei ihm aus. Ein Gefühl zwischen überschwänglicher Freude und wehmütiger Traurigkeit. Woher es allerdings kommt, liegt tief verborgen im Dunkel einer Erinnerungslücke.

    Nach einer halben Stunde ist Waylon zu Fuß unterwegs. Seine tägliche Runde ist mittlerweile zur Gewohnheit geworden. Bei Wind und Wetter geht er so seine zwei Meilen. Es ist also nicht nur ein Spaziergang um den Block.

    Nach der Kreuzfahrt liebäugelte er ein paar Tage mit dem Gedanken, sich einen Hund anzuschaffen. Auch Karoline war dafür, doch irgendwie konnte er sich nicht dazu durchringen. Eine innere Stimme sagte ihm, dies sei nicht richtig. Und so ließ er es auf sich beruhen.

    Es nieselt. Wenigstens gibt es keinen Nebel, dennoch reicht die Feuchtigkeit aus und geht in die Knochen. Waylon hat die Jacke festgeschlossen, die Hände in die Taschen gesteckt und den Kopf eingezogen. Auf dem Kopf trägt er den in New York gekauften Hut.

    Oft weicht er Pfützen aus, in denen es leicht ölig schimmert. Kann natürlich auch Benzin sein, so genau ist das nicht ersichtlich. Wenigstens ist die Luft frisch und nicht von Autoabgasen geschwängert. Gottseidank steht der Wind günstig, ansonsten gäbe es noch eine schwefelbelastete Dunstglocke.

    Ein Wagen mit getönten Scheiben fährt vorüber. Waylon beachtet ihn nicht weiter. Zu sehr ist er damit beschäftigt, nicht zu frieren. ›Ist auch verdammt unangenehm heute…‹

    Wie sagte er früher immer? »Mach dir warme Gedanken!« Außer abwehrende Handbewegungen kam meist keine Antwort. Karoline hingegen erwiderte auf diesen Spruch: »Die allein helfen auch nicht«.

    Sein Weg biegt links ab, von Ziersträuchern eingerahmt und ziemlich schmal. Gerade mal zwei schlanke Leute passen hindurch. Nachts würde er einen Bogen darum machen. Unbeleuchtet und voller Ungeziefer, hinzukommen die streunenden Katzen. Wenn die ihre Revierkämpfe ausfechten, geht’s zur Sache, dass die Fetzen fliegen. Einmal glaubte Waylon ein weinendes Kind zu hören. Bis er auf den Trichter kam, dass es ein Kater war. Noch jetzt sträuben sich sämtliche Nackenhaare!

    Der Weg will nicht enden. Gerade Mal die Hälfte geschafft und der Regen wird stärker. Waylon beißt auf die Unterlippe. Eine Angewohnheit bei innerer Anspannung. Bei dem Wetter scheucht man nicht mal den Hund vor die Tür. Und nun zieht es komisch in der Blasengegend. Toll! Noch ein Drittel und er ist an der Hauptstraße. Bald daheim!

    Als er aufsieht fährt der Wagen schleichend gerade an der einsehbaren Mündung vorbei. Das muss der Gleiche sein wie eben! Dieselben getönten Scheiben, dunkle Metallic-Farbe. Was mag der suchen? Komisch… In der Gegend gibt es doch nichts Besonderes, auch keine großartigen Firmen!

    Als Waylon den schmalen Durchgang hinter sich gebracht hat, will er nur noch nach Haus. Die Jacke hält den Regen kaum noch zurück. Vom Rücken her fröstelst ihm.

    ›Gleich eine heiße Dusche…‹

    Ohne es bewusst zu steuern, werden seine Schritte schneller. Gleich da vorn um die Ecke, dann ist die Zielgerade erreicht. Dann aus den nassen Kleider heraus. Inzwischen weht ein strammer Wind, der zusätzlich Kälte in die Knochen drückt. Solche Tage hasst Waylon. Glücklicherweise muss er nicht raus, so wie früher. Das ist einer der Punkte, eines zufriedenen Rentner-Daseins.

    Er kommt von der anderen Seite in seiner Straße an. Hundert Meter trennen ihn vom Haus. Schon spürt er die Wärme, riecht frischgebrühten Kaffee und seine Füße werden noch schneller. Am Grundstückstor sucht er nach dem Schlüssel. Ein Geräusch, das langsam rotierende Räder auf den Asphalt verursachen, lässt Waylon aufhorchen.

    Extrem langsam fährt der dunkle Wagen mit den getönten Scheiben an ihm vorbei. Durch die Abdunkelung ist es unmöglich, drinnen etwas zu erkennen; nicht einmal den Umriss des Fahrers. Waylons Augen folgen gebannt dem Geister-Auto. Auf Höhe von Mrs Peppers Haus kommt es Waylon vor, als verringere der Wagen nochmals die Geschwindigkeit. Dann entschwindet er aus dem Blickfeld.

    Das stürmische Klingeln an der Tür lässt Waylon zusammen fahren. Es ist nach zwanzig Uhr. Wer mag das sein? Da der Klingler keine Ruhe gibt, steht er auf und öffnet, sichtlich missgelaunt. Es ist der Postbote, der voll im Regen steht.

    »Sorry, Sir. Würden Sie ein Päckchen für Pepper entgegennehmen?«

    »Mrs Pepper ist nicht da?«

    »Hab mehrmals geklingelt, Sir. Sie würden mir einen wahren Dienst erweisen.«

    »Wenn's denn sein muss«, murmelt Waylon, für den Boten unverständlich. Laut fügt er hinzu: »Ich komme!«

    Der Postbote nickt freudig.

    Hat er die Nachbarin nicht gestern gesehen? Sie verlässt doch wahrscheinlich nie das Haus. Entweder die alte Dame schaut aus dem Fenster, oder sie sitzt im Vorgarten. Stets freundlich grüßt sie. Aber vielleicht ist sie ja verreist.

    »Also gestern hab ich noch mit ihr gesprochen«, beginnt Waylon.

    »Dann muss ich sie verpasst haben, Sir. Danke für Ihre Mühe.«

    »Nicht der Rede wert. Wo ist denn das Paket?«

    »Nur ein kleines Päckchen, Sir. Wenn Sie bitte hier unterschreiben würden?«

    Nach geleisteter Quittierung hält Waylon ein ziemlich winziges Päckchen in der Hand.

    »Das hätten Sie aber auch einfach in den Briefkasten…«

    »Kommt aus dem Ausland. Ist mit Empfangsbestätigung. Sorry, Sir. Schönen Abend noch.«

    »Ihnen auch…«

    Doch der Postbote hat bereits das Auto gestartet und fährt los. Das Päckchen wiegend geht Waylon ins Haus. Unwillkürlich sieht er zu Mrs Peppers Haus hinüber. Alles ist dunkel. Kein Licht einer Kerze, kein Flackern des Fernsehers. Morgen wird er bei ihr klingeln. Solange wird er die Sendung aufbewahren. Kein Problem!

    Gegen halb elf geht er ins Bett. Ein Geschenk muss her! Es wäre lieblos und käme bestimmt nicht gut an, wenn Karoline nichts bekommen würde. Wenigstens eine Kleinigkeit! Waylon hat sich den Abend über bereits den Kopf zerbrochen, ja regelrecht hineingesteigert. Doch wie immer fällt ihm nichts ein! Totale Leere! Noch nicht einmal einen Hauch von Ahnung kann er herausquetschen. So geht er mit gemischten Gefühlen schlafen. Wahrscheinlich kann er noch nicht mal das!

    Zwei

    Kurz nach der Kreuzfahrt hat Waylon Mrs Peppers Schlüssel bekommen. »Für alle Fälle«, hatte sie gemeint. Ihre Tochter wohne zu weit weg. Etwas wiederwillig nahm er den Schlüssel an sich. Seitdem hängt er am Schlüsselbrett. Eine Veränderung fiel Waylon danach an Mrs Pepper auf. Sie war wie ausgewechselt. Alte Redseligkeit erwachte aufs Neue. Mit jedem weiteren Tag blühte sie auf. Keine Spur mehr von Anzeichen einer Krankheit.

    Das kleine längliche Päckchen in der Hand, läutet Waylon. Drinnen bleibt es ruhig. Alle Fenster sind verschlossen und die Vorhänge zugezogen. Eindeutige Zeichen, dass die alte Dame verreist ist. Auch bei mehrmaligem Läuten hört er nichts. Okay! Dann wird sie für ein paar Tage bei ihrer Tochter sein! Waylon findet das innige Verhältnis zwischen beiden als ausgesprochen angenehm. Mrs Pepper schwärmt ihm oft vor, und bedauert stets den großen Altersunterschied zwischen ihrer Tochter und Waylon. Natürlich will sie damit nur sagen, wie sehr sie ihn schätzt. Ernst nimmt Waylon dies nicht. Ist der alten Dame doch nicht entgangen, dass Karoline regelmäßig zu ihm kommt.

    Die Tochter ist nicht ihr leibliches Kind. Vor vielen Jahren kam ein junges Ehepaar auf unerklärliche Weise ums Leben. Mrs Peppers Schwester wohnte mit im Haus. Waren die Eltern unterwegs, spielte sie gern die Babysitterin. So auch an diesem schicksalsträchtigen Tag. Da Mrs Pepper keine eigenen Kinder hatte, adoptierte sie das Mädchen. Weitere Einzelheiten weiß Waylon nicht, fragte auch nie nach. Die jetzt Dreißigjährige wohnt mehr als dreihundert Kilometer entfernt. Wo genau weiß Waylon nicht. Auch hat er keine Nummer. So geht er unverrichteter Dinge.

    In der Post liegt ein Brief, den Waylon nicht als wichtig einstuft und demzufolge erst einmal auf die Seite legt. Stattdessen begibt er sich in den Keller. In dem kleinen Reich hat er eine ›Werkstatt‹ eingerichtet. Am meisten hat es Waylon das Geflecht angetan. Ein dicker Stoß Papier, voll mit mehr oder weniger gelungener Skizzen, zeigen verschiedene Versuche. Auf der Werkbank rechts liegt ein Stück Holz, das bereits zehn Zentimeter dieses als Relief zeigt. In mühsamer Kleinarbeit hat Waylon seinen Kindheitswunsch erfüllt: Schnitzen. Im Nachlass der Großmutter fand er alte Schnitzmesser und Kerbwerkzeuge, die jetzt zum Einsatz kommen. Einen nicht beschreibbaren inneren Drang folgend, hofft er so, einige Details festzuhalten, die immer mehr verschwimmen.

    An einigen Tagen glaubt er, alles sei nur geträumt. Dann ist alles so weit weg, als dass es wirklich erlebt wurde. Auf der Kreuzfahrt konnte Waylon des Nachts kaum ein Auge schließen. In seinem Kopf entstand Rebeccas Figur. Sie sang, wobei er nur die Melodie vernehmen konnte. Ihr Antlitz, so rein und schön, verschwamm; nur ein verlaufener Klecks mit zwei großen Augen erkannte er. Außer der schönen Fremden ist da noch die Pyramide deutlich erkennbar und Teile des Zugangs auf dem Felsvorsprung.

    Um zu vermeiden, dass alles verschwimmt oder gar völlig verschwindet, zeichnet Waylon Markantes. Ein Blatt zeigt den Umriss eines weiblichen Kopfes. Er ist nicht das, was man weitläufig als begnadeten Zeichner nennt, aber wider Erwarten sehr talentiert. Ebenfalls ein lang gehegtes und später total vernachlässigtes Hobby aus der Jugend. Vielleicht kehren Rebeccas Züge ja irgendwann wieder, wenn nach und nach das Erinnerungsbild irgendwann Konturen annehmen sollte.

    Auf einem anderen weiteren Blatt rankt das Flechtband. Das Papier zeigt deutliche Radierspuren, die an manchen Stellen unschöne, verwischte Flecken aufweisen. Gut erkennbar sind die einzelnen Verflechtungen.

    Gedankenvoll betrachtet Waylon die Skizzen. Irgendwie fehlt heute der Antrieb weiterzuarbeiten. Nur ein einziges Ornament oder Piktogramm haftet wie eingebrannt im Hirn: Das Zeichen der Unendlichkeit. Andere sind wie ausradiert

    Trotz solch gearteten Gedächtnislücken nimmt er ein leeres Papier und beginnt die Pyramide zu skizzieren. Schon nach den ersten Strichen wird radiert und ausgebessert. Nein! Heut ist kein guter Tag!

    Eine Weile starrt er auf einen sehr weit entfernten, nicht vorhandenen Punkt.

    Der Nachrichtensender zeigt zum Teil erschütterte Bilder eines Selbstmordanschlages. ›Zum Teil‹ deshalb, weil diese Berichte rund um die Uhr laufen und der Zuschauer daran gewöhnt ist. Früher hat es das nicht gegeben! Da zählte noch Moral, Anstand und vor allem Ethik! Heute…?

    Auf der Straße bremst mit quietschenden Reifen ein Auto. Eine Tür springt auf und knallt zu.

    ›Wird doch nichts passiert sein?‹

    Angesichts der schrecklichen Bilder im TV denkt Waylon sofort an einen Unfall. Angespannt lauscht er. Soll er vielleicht doch besser nachsehen? Aber was geht es ihn schon an…

    Im selben Moment klingelt es an der Tür. Sämtliche Nerven scheinen im Körper zu elektrisieren. Erschrocken fährt er hoch. Noch einmal klingelt es, diesmal Sturm.

    Mit Unbehagen öffnet er.

    »Mr Latham?«

    Es ist eine junge Frau.

    »Ja?«, ruft er verärgert zurück.

    »Ich muss Sie sprechen! Ich bin Sophie.«

    ›Sophie? Ich kenn keine Soph…‹

    Wie ein Schlag trifft Waylon die Erkenntnis, dass er doch eine Sophie kennt! Mrs Peppers Tochter! Aber was will die hier?

    »Einen Moment bitte!«

    Die Abendluft ist kühl, aber wenigstens regnet es nicht. Am Tor wartet Sophie ungeduldig auf den Hausherren.

    »Ist etwas… passiert?«, fragt Waylon, als er ihren beklemmenden Blick auffängt.

    Sie zuckt mit den Schultern.

    »Können wir drinnen weiter sprechen?«

    Nervös schaut sie sich um.

    »Klar doch. Bitte verzeihen Sie…«

    Als Waylon das Tor aufgesperrt hat, huscht sie schnell herein und verschwindet unaufgefordert ins Haus. Kaum drin, ist sie nicht mehr zu sehen. Waylon drängt sich der Gedanke auf, dass sie womöglich dringend auf die Toilette muss, und will schon laut rufen, als er im Augenwinkel eine Bewegung wahrnimmt.

    ›Was macht der denn schon wieder hier?‹

    Es ist derselbe dunkle Wagen mit den tönernen Scheiben, den er bereits mehrmals heute gesehen hat. Hat Sophies Auftritt etwas mit denen zu tun?

    Um jeglichen Verdacht abzuwenden, öffnet Waylon betont lässig seinen Briefkasten. Der Wagen fährt weiter; verdammt langsam!

    Schlendernden Schrittes geht Waylon ins Haus. Hinter der Tür steht Sophie, fest an die Wand gedrückt und leicht zittrig.

    »Beruhigen Sie sich, Sophie.« Beruhigend spricht Waylon auf sie ein. Nichts Gutes ahnend, fügt er hinzu: »Er ist vorbeigefahren. «

    »Löschen Sie das Licht!«, flüstert sie ängstlich.

    »Sie sind weg, Miss…«

    »Bitte… Löschen Sie das Licht…«

    Eine Diskussion wäre fehl am Platz, deshalb kommt er Sophies aufforderndem Wunsch nach. Wenn die Situation anders wäre, könnte der diesbezügliche Umstand ziemlich verfänglich sein. Im Dunkeln mit einer jungen Frau… Was würde dann wohl Karoline denken?

    Sophie atmet schnell. Ihre pure Angst ist sehr real und greift unheilvoll nach Waylon. Stumm stehen sie da und warten.

    Um nicht von draußen gesehen zu werden, besteht Sophie darauf in einer nicht einsehbaren Ecke des Flures zu bleiben. Waylon dagegen sitzt auf dem Sessel und schaut auf den tonlos gestellten Fernseher. Sollte er beobachtet werden, dann sieht es aus, er sei allein.

    »Mum ist verschwunden, einfach so«, erzählt Sophie mit weinerlicher Stimme. »Gestern Nachmittag habe ich mit ihr telefoniert. Da schien noch alles in Ordnung. Sie erzählte von Ihnen und Karoline. Dass sie sich darüber freue. Plötzlich wurde sie still. Ich musste mehrmals nachfragen, ehe eine Antwort kam. Ihre Stimme war so… so… anders, irgendwie komisch halt. Mum antwortete nur noch sporadisch, so floskelhaft und nicht wie sie selbst. Dann wurde ihre Stimme brüchig und panisch…«

    Sophie verstummt. Das leise, anhaltende Schluchzen verrät Waylon den Grund. Auch er fühlt Traurigkeit. Was mag passiert sein? Hätte er doch ins Haus gehen und nachschauen sollen? Da fährt Sophie fort: »Ich fragte energisch nach, was los sei. Da berichtete sie mir von einem komischen Wagen, der in der Gegend herumfährt. So, als suche man jemanden. Ich machte noch Witze darüber. Sagte so was wie: ›Die werden es doch nicht auf dich abgesehen haben?‹. Doch Mum lachte nicht, was sie sonst immer tat. – Nach einer langen, wirklich sehr langen Pause, meinte sie trocken, dass genau das der Fall sei und sie müsse nun auflegen. Dann war die Leitung unterbrochen und blieb es auch…«

    Waylon will etwas sagen, bringt aber kein Wort heraus. Der Kloß lässt sich nicht so ohne weiteres hinunter schlucken. Da Sophie schweigt geht Waylon in die Küche.

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