Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Nazis Inside: 401 Tage NSU-Prozess
Nazis Inside: 401 Tage NSU-Prozess
Nazis Inside: 401 Tage NSU-Prozess
eBook308 Seiten3 Stunden

Nazis Inside: 401 Tage NSU-Prozess

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Angela Wierig ist Strafverteidigerin und vertrat im NSU-Prozess einen Angehörigen der Nebenklage. Bei der langwierigen "Wahrheitsfindung" im Münchner Jahrhundertprozess hatte sie seit dessen Beginn am 6. Mai 2013 eine verlässliche Begleiterin an der Seite: zunehmende Fassungslosigkeit. Wie hier die moralische Überlegenheit immer wieder als Trumpf ausgespielt wird und prozessuale Rechte die Rechtsstaatlichkeit an ihre Grenzen bringen, wirft bizarre Schlaglichter auf das Deutschland unserer Tage. Im Kosmos des Gerichtssaals bleibt ihr im Wechselspiel von Informationen und Interpretationen bald nur noch der eigene Blick auf diese Form der Aufarbeitung, um nicht die Balance zu verlieren zwischen Anwaltsmandat und Verzweiflung. Um sich nicht gänzlich in Frustration und Zynismus zu verlieren, schreibt sie abends im Hotelzimmer nieder, was sie ganz persönlich wahrnimmt, was ihr zu denken gibt, was sie nicht einfach so hinnehmen kann und will.
Und so ist Nazis Inside keineswegs eine Nacherzählung des Strafprozesses gegen den "Nationalsozialistischen Untergrund". Es geht vielmehr um einen sehr intimen Blick auf den Prozess, in dem die Ereignisse beleuchtet werden, die entweder in den Medien überhaupt nicht erwähnt oder in etwas anderer Form geschildert wurden. Interessen werden verfolgt, bei denen zumindest fraglich ist, wem sie dienen. Mit dem Strafprozess hat das bestenfalls nur noch am Rande zu tun. Nazis Inside ist eine sehr persönliche Betrachtung, die weit über den Prozess hinaus zu denken gibt. Provokant, hintergründig und ein Anstoß, sich immer wieder aufs Neue selbst ein Urteil, eine eigene Meinung zu bilden. 
SpracheDeutsch
HerausgeberOsburg Verlag
Erscheinungsdatum1. Feb. 2018
ISBN9783955101589
Nazis Inside: 401 Tage NSU-Prozess

Ähnlich wie Nazis Inside

Ähnliche E-Books

Öffentliche Ordnung für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Nazis Inside

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Nazis Inside - Angela Wierig

    DANKSAGUNG

    OUVERTÜRE

    Ich muss es aufschreiben. Diese ganze wüste Geschichte. In der Enge der durch Funktionalität entseelten Pappschachtel meines Hotelzimmers sprengt es mir den Schädel. Dieses komprimierte Menschentum, das so oft jede Menschlichkeit vermissen lässt. Dieser Gerichtsprozess gegen die mutmaßlichen Unterstützer des »Nationalsozialistischen Untergrunds«, der in erster Linie der Wahrheitsfindung dienen soll, ob die fünf Angeklagten die ihnen vorgeworfenen Taten begangen haben, erschafft Wahrheiten, mit denen ich weder gerechnet habe, geschweige denn den Wunsch hatte, mich damit auseinanderzusetzen.

    Natürlich war mir bewusst, dass Wahrheitsforschung keine exakte Wissenschaft ist. Ich bin Strafverteidigerin. Und lebe – wie wir alle – in einer Welt, die sich auf die Annäherung an Wahrheit beschränken muss. Was wir ständig im Verhandlungssaal betreiben, nennt sich nicht von ungefähr »Wahrheitsfindung«. Was im Umkehrschluss wohl bedeutet, dass uns die Wahrheit abhandengekommen ist. Doch wie findet man »Wahrheit«? Ich denke, unerlässlicher Bestandteil der Annäherung an Wahrheit ist die Information. Die wiederum auch von Wahrnehmung, Fehlwahrnehmung und der bösen Schwester Interpretation dar- und entstellt wird. Schwierige Sache, das mit der Wahrheit.

    Der NSU-Prozess wird als Jahrhundertprozess bezeichnet. Und dementsprechend ist das Medieninteresse gigantisch. Es vergeht kein Tag, an dem nicht über den Prozess berichtet wird. Insofern könnte man davon ausgehen, dass mein Bericht mehr als überflüssig ist. Man könnte davon ausgehen, dass alles geschrieben ist. Man könnte davon ausgehen, dass alles berichtet ist. Erstaunlicherweise – oder auch nicht – ist das keineswegs der Fall. Vieles, was stattfand, wurde nicht berichtet. Weil es nicht in das Bild passte, das der Journalist vermitteln wollte. Oder einfach die schlechtere Schlagzeile gewesen wäre. Interessen werden verfolgt, bei denen zumindest fraglich ist, wem sie dienen. Mit dem Strafprozess hat das bestenfalls nur noch am Rande zu tun.

    Wenn Sie möchten, lade ich Sie ein, sich mit mir auf die Suche nach der Wahrheit zu machen. Die ich Ihnen nicht präsentieren kann. Ich kann Ihnen nur Informationen geben – geprägt von meinen eigenen Wahrnehmungen und Fehlwahrnehmungen. Und die böse Schwester wird auch mal vorbeischauen. Ich werde Ihnen von der anderen Seite erzählen. Von dem, was ich erlebt habe. In meinem eigenen, ganz persönlichen und viel zu nah miterlebten NSU-Prozess.

    1

    VORSPIEL UND AUFWÄRMEN

    Die Geschichte begann wie fast alle Geschichten, die in einer Anwaltskanzlei anfangen. Das Telefon klingelte. Ein guter Bekannter war dran und meinte, ob er nachmittags mit seinem besten Freund und dessen Schwester vorbeikommen könne. Ich verkniff mir die Frage, um was es gehe. Erstens löst sie meistens nur ziemlich verworrene Erklärungen aus, und zweitens wird das juristische Fachgebiet nicht unbedingt richtig eingeschätzt. Es gibt durchaus Mandanten, die in einem Mietrechtsfall darauf beharren, eine Strafverteidigerin engagieren zu wollen, weil sie der Meinung sind, das Verhalten ihres Vermieters sei hochgradig kriminell.

    Am Nachmittag saß dann eine zierliche Frau vor meinem Schreibtisch, die ziemlich mitgenommen wirkte. Und erzählte mir von ihrem Bruder, der in Hamburg von Nazis erschossen worden sei. Ich gebe zu, dass ich die Tagespresse nicht aufmerksam verfolge, aber dass ein solches Ereignis komplett an mir vorbeigegangen sein sollte, gab mir zu denken. Kurze Zeit später konnte ich mich dann ob meiner vermeintlichen Ignoranz beruhigen: Die Tat lag damals bereits zehn Jahre zurück. Was mich allerdings dann auch wieder beunruhigte, denn mit fortschreitendem Zeitablauf wird die Mandatierung eines Anwalts auch zunehmend absurder. In diesem Fall ergab aber auch der Zeitablauf einen Sinn, denn meine neue Mandantin erzählte mir, dass die Polizei sich bei ihr gemeldet und mitgeteilt habe, es gebe Erkenntnisse zum Mord an ihrem Bruder – zehn Jahre nach der Tat. Und mich fragte, ob ich mich um die Angelegenheit kümmern könne. Akteneinsicht anfordern, sie über den Stand der Dinge unterrichten und sie bitte vor den Medien abschirmen, die bereits Beute gewittert hätten. Klar, meinte ich, kein Problem. Und machte mir weiter keine Gedanken. Trottel, der ich war.

    Erst mal alles wie gehabt: Vertretung angezeigt, Akteneinsicht beantragt. Zum ersten Mal im Leben bekomme ich aber keine Ermittlungsakte in Papierform, sondern eine Festplatte. Dazu eine Anleitung, wie die codierten Aktendateien zu öffnen sein sollen. Ich verbringe einen Nachmittag mit der Anleitung, meinem Laptop und der Festplatte und stelle fest: Wir passen nicht zusammen. In meinem Nacken die Bundesanwaltschaft, die höflich, aber bestimmt um umgehende Anfertigung einer Kopie und Rücksendung der Festplatte bittet. Glücklicherweise kannte ich jemanden, der jemanden kannte, der sowas kann. Kurz darauf halte ich meine eigene Festplatte mit lesbaren Dateien in den Händen. Und fasse nicht, was ich darauf vorfinde. Nun gut – ich hatte Verfahren, in denen die Staatsanwaltschaft bei der Gewährung der Akteneinsicht anfragte, ob ich mit dem Auto käme, da sich die Akten in zwei Umzugskartons befänden. Und ich erinnere mich an einen Fall, den ich als ganz frisch zugelassene Anwältin zu verhandeln hatte – ein Umzugskarton voll mit Akten und der Kopierer ohne Einzelblatteinzug. Bis zum Nachmittag hatte ich dank der Kopiererausdünstungen einen Grad der Bedröhnung erreicht, für den andere Leute viel Geld bezahlen würden. Aber alles nichts gegen den Schock, als ich die Ordner auf meiner neuen Festplatte öffne. Ich versuche erst gar nicht, die Zahl der Dateien in Umzugskartons umzurechnen. Umzugskartons – lächerlich. Wir sind im Bereich der self-storage-container. Eng gepackt. Und es scheint unmöglich, bis zum Prozessbeginn auch nur halbwegs über den Sachstand im Bilde zu sein. Ich fange an zu lesen.

    2

    IHR KOMMT HIER NICHT REIN

    Es stellt sich heraus, dass ich einen Aufschub bekomme. Eigentlich sollte der Prozess vor dem Oberlandesgericht München durchstarten, aber es gibt wohl einige Medienvertreter, die entweder ihre E-Mails nicht lesen oder über ein ähnlich beklagenswertes technisches Verständnis wie ich verfügen und das Akkreditierungsverfahren verpennt haben. Offenbar ist auch bei dem OLG das technische Verständnis ausbaufähig, denn einige Akkreditierungsmails sind im Spam-Ordner des Gerichts gelandet. Wo sie zunächst ein Schattendasein führten. Kurz: Optimal ist es nicht gelaufen. Vorwiegend sind es türkische Medienvertreter, die keinen der raren, aber heißbegehrten Plätze ergattern konnten. In der Presse bricht ein Sturm der Entrüstung los. Allgemeiner Tenor ist, das OLG München wolle im Zuge eines institutionellen Rassismus¹ türkische Medienvertreter von der Prozessbeobachtung ausschließen. Die Hürriyet² betätigt sich dabei als Chefkritisierer. Was dort über das Verfahren sowie den institutionellen Rassismus im Allgemeinen und im Besonderen verbreitet wird, ist geistige Brandstiftung. Ich würde als betroffenes Oberlandesgericht erwägen, rechtliche Schritte zu unternehmen. Und es werden rechtliche Schritte unternommen – allerdings nicht von den Diffamierten, sondern von der auflagenstärksten Tageszeitung der Türkei, der Sabah. Sie bemüht das Bundesverfassungsgericht.

    Das in einer Eilentscheidung den Kotau vor der verletzten türkischen Seele macht und das Oberlandesgericht München verpflichtet, ein neues Akkreditierungsverfahren durchzuführen. Wobei die Akkreditierungen diesmal nicht nach dem Windhundprinzip – wer zuerst kommt, mahlt zuerst – vergeben werden sollen, sondern im Losverfahren. Mit verschiedenen »Töpfen«: einem für ausländische Journalisten (international), einem für ausländische Journalisten (türkisch) und einem für deutsche Journalisten. Dann wird zugelost, bis das Kontingent des jeweiligen Töpfchens erschöpft ist, und so ist gesichert, dass aus jedem Bereich jemand dabei ist. Manchmal auch nur irgendjemand. Jedenfalls auch die Benachteiligten, die im freien Wettbewerb im ersten Durchgang gescheitert waren. Zu den sinnigen Folgen des Losverfahrens gehört, dass die Brigitte täglich aus dem Verhandlungssaal berichten und die taz ihre Informationen von der DPA beziehen darf. Das ist cool. Ich empfand das Verfahren sowieso als zu männerlastig und freue mich auf investigative Berichte wie »Backen mit Beate« oder »Schöner Wohnen im Frauenknast«.

    Nun, es ist, wie es ist: Die türkischen Medienvertreter haben ihre Plätze ergattert und können jetzt in der ersten Reihe ihre Geschütze gegen das OLG in Stellung bringen. Dem sie im Wesentlichen einen Mangel an Rechtsstaatlichkeit und immer wieder institutionellen Rassismus vorwerfen. Gleichzeitig finde ich in den Aktennachlieferungen Anschreiben türkischer Interessenverbände an das OLG, in denen sie um Sitzplatzreservierungen im Sitzungssaal nachsuchen. Auf den höflichen Hinweis des Vorsitzenden, es gebe keine reservierten Sitzplätze für Zuschauer in deutschen Gerichtsverhandlungen, reagiert man mit Unverständnis: Den Betroffenen werde der gebotene Respekt verweigert. Der institutionelle Rassismus zeigt sich hier offenbar nicht in der Verweigerung der Gleichbehandlung, sondern in der Verweigerung der Besserstellung. Eine originelle Definition. Die gleichwohl insbesondere durch Hürriyet ihrer wohl eher nicht so gut informierten Leserschaft in großen Schlagzeilen nahegebracht wird. Es mutet schon seltsam an, dass ein türkisches Boulevardblatt sich zum Hüter deutscher Rechtsstaatlichkeit aufschwingt. Und ganz klar vermittelt, dass vom Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München ohne ständige strenge Dienstaufsicht durch türkische Beobachter keine vernünftige Verhandlung zu erwarten sei. Ein interessantes Blatt. Ich behalte die im Auge und nehme (durchaus wohlwollend) zur Kenntnis, dass der Chefredakteur von Hürriyet sich dahingehend äußert, die Anwesenheit im Gerichtssaal gehe über den journalistischen Aspekt hinaus. Ich zitiere wörtlich: »Es gibt Wichtigeres, als im Saal zu sitzen. Es geht darum, Solidarität mit den Opfern zu zeigen.«

    Gleichzeitig druckt dieselbe Hürriyet einen Artikel, in dem nicht nur falsche Behauptungen über den getöteten Bruder meiner Mandantin aufgestellt werden, sondern auch ein Bild der Familie veröffentlicht wird. Und zwar ohne die Familie zuvor um Erlaubnis zu fragen. Und selbstverständlich haben nicht Angehörige das Foto zur Verfügung gestellt, sondern Hürriyet hat es sich irgendwo »besorgt«. Zu diesem Zeitpunkt habe ich bereits weisungsgemäß sämtliche Medienanfragen, ob die Familie zu Interviews bereit wäre, konsequent abgelehnt. Und alle Medienvertreter, mit denen ich gesprochen habe, haben nach längerer oder kürzerer Diskussion respektiert, dass die Familie sich nicht öffentlich begaffen lassen will. Dass nun ausgerechnet die Hürriyet mit ihrem Solidaritätsanspruch den erklärten Willen der Hinterbliebenen missachtet, spricht für sich selbst. Hürriyet bedeutet »Freiheit«. In erster Linie wohl die Freiheit, mit frei erfundenen Vorwürfen Schlagzeilen zu machen. Ich frage mich, was sich diese Leute denken. Wenn sich denn tatsächlich Türken von deutschen Institutionen schlecht behandelt fühlen, ist es doch mehr als kontraproduktiv, mit einem erfundenen Vorwurf schlechter Behandlung zu weiterer Verunsicherung beizutragen. Und schließlich muss bei allem Verständnis für das Berichterstattungsinteresse der Medien festgestellt werden, dass Leidtragende des erneuten Akkreditierungsverfahrens und der damit verbundenen Verzögerung des Prozessbeginns in erster Linie die Geschädigten und Hinterbliebenen sind. Eine beängstigende Definition des Begriffs »Solidarität«. Hoffentlich kommt Hürriyet nie auf die Idee, mit mir solidarisch sein zu wollen.

    ZWISCHENSPIEL DER KUMMER

    John Irving hat in seinem zum Niederknien guten Buch The Hotel New Hampshire ein Kapitel mit »Kummer schwimmt obenauf« überschrieben. Irving hat das unglaubliche Talent, Sätze wie Pfeile zu schmieden, die sich mit kleinen, spitzen Widerhaken im Herzen verankern und nie wieder loslassen. Und so hängt dieser Satz in meinem Herzen, als ich meiner Mandantin ins Gesicht schaue. Auch auf ihrem Gesicht schwimmt der Kummer obenauf. Darunter ist noch der Mensch zu sehen, der sie einmal war. Da ist das Gesicht, dem man noch ansieht, dass es viel gelacht hat. Liebe Augen, die müde in die Welt schauen. Ein schiefes Lächeln. Und über allem liegt Kummer. Der Tod des Bruders war schlimm. Die anschließenden polizeilichen Vernehmungen waren schlimm. Dass die Polizei – mal wieder – im Wohnzimmer der Eltern saß, wenn sie zu Besuch kam, war schlimm. Das Getuschel der Nachbarn war schlimm. Aber das Leben ging weiter. Und dann kam der Abend, an dem sie ihren Bruder tot in seinem Blut liegen sah, im Lebensmittelgeschäft. Auf den Fliesen, über die sie so oft gegangen war. Der Screenshot aus dem NSU-Bekennervideo traf sie ohne jede Vorwarnung – ausgestrahlt in einem Politmagazin. Da lag ihr Sülo, von dem sie sich mit einem Kuss verabschiedet hatte, als er in weiße Tücher gehüllt war und den langen Schlaf schlief. Und nun sah sie ihn aller Würde beraubt auf dem Boden liegen. Seine gebrochenen Augen, die kurz zuvor noch seine Mörder gesehen hatten. Und das Schlimme wurde zum unerträglichen Grauen. Und zum Kummer, der sich jeder Bewältigung entzog. Der künftig jeden einzelnen Tag ihres Lebens überschatten würde. Ich würde ihr so gerne helfen – aber es gibt keine Hilfe. Diese Last kann ihr niemand abnehmen – allenfalls erleichtern. Und eine Erleichterung wären Antworten auf die Frage, warum er sterben musste. Ich würde diese Antworten so gerne für sie herausfinden. Lege innerlich das Gelöbnis ab, jeden einzelnen verdammten Tag in diesem Prozess zu sitzen und Augen und Ohren weit aufzusperren. Und habe furchtbare Angst, dass für meine Mandantin die Antworten ein so grausamer Schlag werden könnten wie das Foto ihres armen toten Bruders.

    Und dann passiert mir etwas, das mir nicht hätte passieren dürfen: Ich verliere meine Professionalität. Es gibt für Anwälte den eisernen Grundsatz, nie in eigener Sache oder für nahe Angehörige tätig zu werden. Auch wenn man dem Fall fachlich durchaus gewachsen wäre. Es ist die emotionale Beteiligung, die den klaren Blick verstellt. Und ein Anwalt, der emotional und nicht sachlich-juristisch agiert, hat schon verloren. Für mich ist es zu diesem Zeitpunkt aber nicht möglich, die Emotionen zu unterdrücken. Zu nahe sind mir der Schmerz und die Wut meiner Mandantin. Und so verliere ich über ihrer Wut, die zu meiner wird, die Besonnenheit, mit der ich bis dahin zu Werke gegangen bin. Und äußere mich für sie. Sage Sätze, hinter denen ich heute – was sich auch wieder ändern kann – nicht mehr stehe. Ich bin immer noch dabei, mich in die Akten einzulesen, und immer noch weit von einem Gesamtüberblick entfernt. Und kann mir nicht vorstellen, dass bloße Unfähigkeit die Ursache der jahrelangen erfolglosen Suche der Ermittlungsbehörden nach den Mördern ihres Bruders gewesen sein kann. Es muss eine Absicht dahintergesteckt haben. Oder zumindest eine billigende Inkaufnahme. Also äußere ich mich für meine Mandantin, auch öffentlich. Und laufe prompt in die Falle. Es ist die Crux mit dem einmal Ausgesprochenen – es bleibt. Das Internet vergisst nicht. Einer der Gründe, weshalb ich die öffentlichen Äußerungen auch schnell wieder lasse. Was aber die Öffentlichkeit nicht hindert, sich dann eben selbst zu äußern. In Hamburg-Altona, dem Stadtteil, in dem Sülo lebte und starb, formieren sich Trauerzüge. Da laufen wildfremde Menschen mit Bildern von Sülo und mit Transparenten durch die Gegend, auf denen zu lesen ist: »Wir trauern um Süleyman Tasköprü«. Leute, die ihn gar nicht gekannt haben. Die, als er ermordet wurde, vielleicht auch über eventuelle Verwicklung in kriminelle Machenschaften spekuliert haben. Die jedenfalls zu der Zeit, als er ermordet wurde, keine spontanen Kundgebungen abgehalten haben. Die ihn erst betrauernswert finden, nachdem seine Mörder bekannt wurden. Die seinen Tod benutzen, um gegen rechts zu protestieren. Und es wagen, sich als »Trauernde« zu bezeichnen. Wer trauert, das ist meine Mandantin. Und aus politischer Betroffenheit als wildfremder Mensch zu behaupten, man »trauere« ebenfalls, ist eine Anmaßung erster Güte. Die meiner Mandantin das Letzte nimmt, was sie noch von ihrem Bruder hat: die Trauer um ihn.

    Aber nicht nur der praktizierende Feierabend-Antifaschist benutzt Sülo für eigene Zwecke. Auch die Bundeskanzlerin und der Bundespräsident laden ein, um öffentlich ihre Trauer zu bekunden. Und für gute Publicity zu sorgen, dass zwar in ihrem Land Bürger herumrennen, die andere Bürger töten, sie persönlich aber entschieden dagegen sind. Sie haben kein Problem damit, die Trauer öffentlich vorzuführen; haben kein Problem damit, ein paar Lippenbekenntnisse abzugeben, und widmen sich dann wieder dem Alltagsgeschäft. Und die wahrhaftig Trauernden können sich kurz begaffen lassen, das Fernsehpublikum erschauert und ist dankbar für das eigene kleine beschauliche Leben, und dann dürfen die Trauernden wieder abtreten und mit ihrer Trauer nach Hause gehen. Ich frage mich, wie lange der Kummer bei Frau Merkel und Herrn Gauck obenauf schwimmt. Armer toter Sülo.

    1Den Begriff kannte ich auch noch nicht. Bedeutet aber wohl, dass es einen privaten Rassismus gibt, den ein jeder nach Lust und Laune praktizieren kann, und – sofern der praktizierende Rassist in eine Behörde eingegliedert ist – nennt man das institutionellen Rassismus. Vielleicht soll es auch bedeuten, dass die staatlichen Institutionen in Deutschland per se rassistisch veranlagt sind. Ich gehe davon aus, dass im Verlauf des Verfahrens weitere Erklärung erfolgen wird.

    2Hürriyet ist das türkische Äquivalent zur Bild-Zeitung. Allerdings ohne Blanke-Busen-Bilder, dafür mit dem Motto »Türkiye Türklerindir«, zu Deutsch: »Die Türkei gehört den Türken«, neben dem Logo. Das sollte sich die Bild mal trauen – oben neben das Logo »Deutschland gehört den Deutschen« zu drucken. Ich glaube, die Hürriyet hätte dann etwas zu kritisieren …

    3

    ANPFIFF

    Es ist der 6. Mai und ein schöner Frühlingstag. Ich bin um 4.30 Uhr aufgestanden, um rechtzeitig zum Boarding um 5.45 Uhr am Flughafen zu sein. Was im Übrigen keine Abflugzeit, sondern Körperverletzung ist. Dennoch fing der Tag gut an – der Taxifahrer hatte The Dark Side of the Moon laufen, und ich hatte den Eindruck, wir seien die einzigen beiden wachen Menschen in einer schlafenden Stadt. Nur die Vögel waren auch schon aufgestanden und zwitscherten von Sonne, Insekten und dem hinreißenden neuen Nest. Am Flughafen waren dann schon mehr Leute wach und fingen umgehend an, mir auf den Senkel zu gehen. Nach dem Gruppenboarding – putzige Sache übrigens – durfte ich im Flugzeug zwischen einer warmen Laugenstange (untrennbar verschmolzen mit einer dünnen Papierserviette) und einem warmen Rosinenbrötchen (ebenfalls mit klebender Serviette) wählen. Beides hat die Konsistenz von warmem Kleister und die Serviette kann ruhig mitgegessen werden – geschmacklich macht es keinen Unterschied.³ Wahrscheinlich ist das Ganze auch noch mit Tranquilizern versetzt – oder es ist nur die unmenschlich frühe Abflugzeit: Jedenfalls bietet sich mir bei meinem Rückweg von der Toilette der Anblick von knapp 200 Menschen mit verrenkten Gliedern, die mit offenem Mund schlafen. Was schon ein gruseliger Anblick ist. Ich hätte ahnen können, dass es nach dem schönen Morgen nur noch abwärtsgehen konnte.

    Intelligenterweise haben die Münchner ihren Flughafen möglichst weit von der Stadt weg gebaut. Der Flughafenbus braucht satte eineinhalb Stunden für die knapp 40 Kilometer bis in die Innenstadt, und nach einer erfrischenden Morgenwanderung stehe ich vor dem OLG München. Vor mir ragt ein düsterer Plattenbau aus Waschbeton in den Himmel. Auf jedem verfügbaren Sims befinden sich spitze Stacheln, und mir kommt das Bild der Taube wieder in den Sinn, die auf meinem Weg hierher mit verkrüppelten Füßen über den Bordstein torkelte. Nicht dass ich ihre verkrüppelten Füße mit dem grausamen Drahtstacheln in Verbindung bringe – das Gebäude sieht nur so aus, als würde im Keller jemand hocken, der unter irrem Gelächter Tauben die Füße verkrüppelt.

    Ich betrete Saal A101, und er macht dem Gebäude alle Ehre. Damit niemand behaupten kann, er müsse in einem fensterlosen Raum sitzen, sind im hinteren Bereich schmale Fensterschlitze mit Milchglas. Ich habe eine Ahnung, dass da draußen eine Welt ist, aber sicher kann ich mir nicht mehr sein.

    Zum ersten Mal im Leben sitze ich mit 60 Kollegen in einem Saal. Wie hatte ich mich gefreut – auf die anregenden Gespräche, auf die Scherzworte, die hin- und herfliegen würden. Und dann das: Ich muss feststellen, dass Anwälte, in der Masse auftretend, eher deprimierend sind. Da wird sich gespreizt, geplustert und durch den Saal krakeelt. Bedauerlicherweise haben Les Gens de Justice⁴ keinesfalls den Glamour, den ich ihnen in meiner Unwissenheit andichten wollte. Ich sacke ein wenig in mich zusammen und denke über Rosinenbrötchen nach.

    Urplötzlich passiert was: Der Kollege schräg vor mir springt auf, zückt sein Smartphone und fängt wie besessen an zu fotografieren. Als er sich wieder beruhigt hat, bekomme auch ich mit, dass Beate Zschäpe den Raum betreten hat. Und bin völlig geplättet. Die kenne ich. Verdammt, woher kenne ich die? Eine ehemalige Schulfreundin? Kann nicht sein. Erstens ist sie viel jünger als ich, und zweitens hat sie im Osten gelebt. Von der Piste? Kann auch nicht sein. Aus denselben Gründen. Aber ich kenne das Gesicht. Woher nur? Derweil krümmt sich mein Gehirn vor Lachen. Natürlich kenne ich das Gesicht. Aus dem Fernsehen. Da habe ich es inzwischen so oft gesehen, dass ich es sofort wiedererkannt habe. Aber selbstverständlich ohne die Person tatsächlich zu kennen. Ein kleiner Streich meines Hirns. Und ein Phänomen, das uns in mehreren Spielarten in diesem Prozess noch öfter begegnen wird.

    Seit 9.30 Uhr warten wir auf das hohe Gericht, und um 10.27 Uhr gibt sich der Senat die Ehre, den Saal zu betreten. Verblüfft und dankbar stehen wir alle auf.

    Jetzt klärt sich für mich auch die Frage, wie die Anwesenheit festgestellt wird. Durch namentlichen Aufruf. Wird das jetzt das Eröffnungsritual an jedem Verhandlungstag? Es steht zu befürchten. Jedenfalls gibt mir die Verzögerung Gelegenheit, die Verteidigerbänke in Ruhe in Augenschein zu nehmen. Bei fünf Angeklagten und elf Verteidigern braucht es ein wenig, sich zu orientieren.

    In der ersten Reihe sitzt Beate Zschäpe mit ihren drei Verteidigern. Dem Senat rein räumlich am nächsten. Und chic sind sie, die vier. Könnten direkt aus dem Verhandlungssaal zum After-work-Cocktail.

    Daneben sitzt André

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1