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Begegnung
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eBook320 Seiten4 Stunden

Begegnung

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Über dieses E-Book

Es begegnen sich Ost und West: Ein erfolgreicher rumänischer Emigrant entsagt der Heimat, an die er sentimental gebunden ist, und entscheidet sich für den vielversprechenden Westen.

Christa, eine junge Deutsche, befindet sich im Kampf mit der Erinnerung an die Securitate.

Die Härte des Exils und die Wehmut der Erinnerungen potenzieren sich paradoxerweise gegenseitig.

Das Buch ist ins Englische, Italienische, Spanische, Ungarische und Bulgarische übersetzt worden.
SpracheDeutsch
HerausgeberWieser Verlag
Erscheinungsdatum7. Mai 2018
ISBN9783990470978
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    Buchvorschau

    Begegnung - Gabriela Adameșteanu

    Besucher

    Erster Teil

    Der Abschied

    Jeder Exilant ist ein Odysseus auf dem Weg nach Ithaka … Der Weg nach Ithaka ist der Weg zur Mitte. Das alles wusste ich schon lange. Plötzlich geht mir aber auf, dass sich jedem Exilanten die Chance eröffnet, ein Odysseus zu sein (gerade weil er von den »Göttern«, also von den Mächten, die die historischen, irdischen Schicksale entscheiden, verurteilt worden ist).

    Damit er sich aber dessen innewird, muss der Exilant imstande sein, zum verborgenen Sinn seiner Irrfahrten vorzudringen und sie als eine lange Reihe (von den »Göttern« gewollter) initiatorischer Versuchungen und als ebenso viele Hindernisse auf dem Weg nach Hause (zur Mitte) zu begreifen.

    Das bedeutet: in den alltäglichen Leiden, Erniedrigungen, Entbehrungen verborgene Zeichen, Bedeutungen, Symbole zu sehen.

    Sie zu sehen und zu lesen, selbst wenn es sie nicht gibt; denn wenn man sie sieht, kann man in den amorphen Fluss und den monotonen Ablauf der historischen Tatsachen eine Struktur einbringen und darin eine Botschaft lesen.

    Mircea Eliade

    Kapitel 1

    Der Weg nach Hause

    War das nicht die Tür des Nebenabteils? Ein Schaffner, wer sonst könnte die Worte dermaßen klar und deutlich aussprechen:

    »Guten Tag, Ihre Fahrkarten bitte!«

    Du bist angespannt, ja fiebrig, suchst deine Schnappatmung in den Griff zu kriegen. Abgewandt starrst du auf das dunkel schimmernde Fenster, kannst aber die Landschaften, die in der Nacht vorüberjagen, nicht ausmachen, du sitzt in einem Express, einem Intercity.

    »Den Fahrschein, bitte!«

    Du tastest deine Taschen ab, als wolltest du auf den Gang rauchen gehen, die Leute im Abteil haben ihre Augen auf dich gerichtet, schauen sie? Schauen sie nicht?

    »Bonjour, mesdames, messieurs! Vos billets, s’il vous plaît!«

    Du erhebst dich lässig von der Sitzbank, musterst dein erstarrtes Gesicht, das dir aus der Leere eines Spiegels entgegenblitzt, ist es deins? Oder auch wieder nicht.

    »Your ticket, please!«

    Du drückst dich an Mänteln, Jacken, Hüten vorbei, steigst über blankgewichste Schuhe, stets bemüht, nicht draufzutreten, hoffst, dass die reglosen Gesichter hinter den Fenstern, an denen dein Schatten in gleichmäßigem Rhythmus vorüberhuscht, überzeugt sind, dass du zum Speisewagen, zum Bistro, zum Klo gehst, schnell, schneller, immer schneller, immer schneller, immer schneller, immer …

    »Den Fahrschein, bitte!«

    Die Geschwindigkeit des Zuges lässt dich gegen die Wände prallen, du bist in einem Express, einem TGV, in dem Zug nach Drăgăşani, dritter Klasse, schwarze Rußwölkchen nehmen dir den Atem, und eine Biene summt schon lange um dich herum. Da taucht zwei Schritt vor dir die Uniform des Bahnbeamten auf, mit der Schildmütze des Schaffners, er streckt die Hand aus, will deine Fahrkarte knipsen.

    »Good morning, Sir! Your ticket, please!«

    Jetzt wird sich eine Falltür unter dir auftun, und du wirst beschämt und verschwitzt nach Erklärungen suchen, die Aussprache, die Deklinationen und Konjugationen durcheinanderbringen und zwischen die rasenden Räder hinunter in die feuchte Finsternis stürzen …

    Welch ein Glück, der Schaffner war nur zwei Schritt entfernt, aber er hat dich nicht gesehen! Was für ein Glück, dass niemand sieht, wie du dich unter einem Haufen Kleidern, schweren Mänteln, Uniformen, Smokings, raschelnden Trenchcoats, weißen Betttüchern, Linnen windest, aus denen Wolken von Motten emporschwirren. Nicht doch, es ist immer noch dieselbe Biene.

    »Den Fahrschein, bitte!«

    Du bist aus dem Schrank hervorgeschnellt und abgehauen, hinter dir hörst du die Stiefel der Soldaten, deine Pyjamabluse ist offen, deine Wange eingeseift, erst zur Hälfte rasiert. Im Rennen prallst du gegen die Wände mit düster schimmernden Fenstern, du bist in einem TGV, einem Güterzug, einem Intercity, und die fremden Gesichter starren dich gespannt an, du aber lauf, lauf, lauf! Da, ein leeres Abteil, schieb die Tür mit sicherer Hand auf, sag mit aller Bestimmtheit:

    »I biglietti, prego!«

    Die misstrauischen Gesichter auf dem Gang werden glauben, er hätte das leere Abteil betreten, seine Schildkappe blitzt in der Leere des Spiegels auf, es ist seine Schildmütze, es ist dein Gesicht, schnell, versteck’ dich, aber wo?

    Beruhige dich, es ist derselbe Traum, das hat es schon gegeben, das hast du schon erlebt, aber wo? Du erinnerst dich nicht, wann, du erinnerst dich nicht, wo das war, ach, wie langweilig … Du durchwühlst deine Taschen nach den Blutdrucktabletten, stößt auf Zigaretten, Drops, zerknitterte Blätter, allerdings erkennst du nicht, in welcher Sprache der Vortrag abgefasst ist, noch nicht einmal das Alphabet. Was wirst du der Hörerschaft denn bieten? Das weißt du nicht.

    Du bist von deinem Fensterplatz aufgestanden, reinigst ostentativ deine Pfeife, als wolltest du auf den Gang hinaustreten, aber was soll dieses missbilligende Schweigen? Ach ja! Es ist ein Nichtraucherabteil! Du kriechst unter die Bank, kauerst dich zusammen, machst dich klein, immer kleiner zwischen den wirbelnden Rädern. Du kauerst auf allen vieren und hältst den Atem an, dort oben in dem Gepäcknetz, in das du dich geflüchtet hast, siehst den Schatten, der das Fenster verdunkelt.

    »Good morning, bitte! Vos billets, mesdames, messieurs, s’il vous plaît!«

    Jetzt wird sich die Tür des Abteils auftun und du wirst, zusammengekauert vor Schreck, in die Finsternis stürzen, die von blendenden Lichtkegeln durchfurcht wird.

    Oben auf dem Bahnübergang ein Soldat mit schussbereiter Waffe, reglos wie eine Statue.

    »Wer bist du? Woher kommst du? Wo willst du hin? Zeig deine Papiere! Antworte!«

    Du bist unter einer Bank hervorgeschossen, dein verschrecktes Gesicht blitzt in der Leere eines Spiegels auf.

    »Papiere!«, brüllen die Zöllner, die Grenzer, und sie hämmern mit den Gewehrkolben gegen die Abteiltür.

    »Papiere! Wer bist du?«

    »Wohin fährst du?«

    »Was suchst du hier?«

    »Red’, oder ich schieße!«

    Nicht erschrecken, ganz ruhig, es ist derselbe lästige Traum, du hast, damit du erwachst, deine weichen Nägel ins weiche Fleisch gegraben, du versuchst, die schlaffe Hand zur Faust zu ballen, aber du bist immer noch da. Was immer du tust, es ist umsonst, du kommst nicht weg, du rennst wie verrückt, da ist die Uniform des Schaffners am Ende des Ganges, darauf rennst du zu wie verrückt, es ist zu spät, ihm den Rücken zu kehren, so zu tun, als hättest du ihn nicht gesehen, er steht zwei Schritt vor dir.

    »Die Papiere!«, hörst du in deinem Rücken.

    Wie oft hast du doch so dagestanden auf dem menschenleeren Bahnhof, vor der Weiterfahrt von der Schule, hast mit zitternder Hand über deine feuchten Schläfen und Wangen gestrichen, nur gut, dass du dem Zug voller Schaffner und bewaffneter Soldaten entkommen bist! Verschwänden doch nur auch die blutroten Flecken auf dem feuchten Betonboden und das Sirren, das sich durch deine Schläfen, in deinen Nacken bohrt … Beiläufig lässt du deinen Blick über das rötliche junge Fell schweifen, das sich auf den Schwellen, den Schienen unter dem Zug hinstreckt, wie sehr ähnelt doch dieser Hund, der seinen buschigen Schwanz zwischen die angespannten Hinterläufe geklemmt hat, Federigo, deinem Hund daheim!

    »Fede! Fede!«, rufst du, aber der Hund unter dem Zug röchelt und verstummt.

    Wessen Spur haben sie aufgenommen? Nicht etwa deine? Du hast dich umgedreht, damit dich nicht etwa die beiden düsteren Soldaten erkennen, die sich verkrampft an ihren Waffen festhalten.

    »Die Papiere!«

    »Wohin fährst du?!

    »Woher kommst du? Deine Papiere!«

    »Halt! Halt, oder ich schieße!«

    Hastig gehst du, rennst immer schneller, immer schneller, du spürst, wie der Bahnhof in deinem Rücken immer kleiner wird, die Flecken mit dem Rot frischen Blutes flimmern über dem nebligen Pfad, auf dem du vorwärtsstrebst mit immer weicheren Beinen, die Schuhe nass vom Tau.

    Plötzlich ändert sich die Szene, wechseln die Laute, die Farben, das Licht. Das intensive Grün der Tannen zieht sich hinauf zur dunstumwölkten Spitze, darunter das zarte Grün der Almwiesen, strähnige Grasbüschel auf dem lehmigen Pfad trittst du mit den schweren Stiefeln nieder, die dich drücken. Gib acht, dass du nicht ausrutschst! Gib bloß acht …

    Wie oft bist du doch hier entlanggegangen, mit immergleichem Schritt, unzählige Füße steigen mit dir die Betontreppen der Brücke hinauf, darunter winden sich drei Rinnsale über rundgeschliffene Steine, Sandzungen lecken daran, auf denen bescheidene Saisonurlauber liegen, weiche bleiche Leiber, die vergeblich darauf warten, dass die Sonne sich zeigt über dieser verschatteten Erde.

    Jetzo erreichen wir des tiefen Ozeans Ende,

    allda liegt das Land und die Stadt der kimmerischen Männer.

    Diese tappen beständig in Nacht und Nebel, und niemals

    schauet strahlend auf sie der Gott der leuchtenden Sonne …

    Da ist auch die CHEMISCHE REINIGUNG, das Firmenschild an der schmutziggelben Mauer, die aus der sandigen Erde ragt, da sind auch die Bettüberzüge, grobe gelblichweiße Sargtücher, zum Trocknen gehängt, über ihnen schweben schwarze Qualmwolken, die sich auf die Häupter derer herabsenken, die unablässig Reisetaschen, Rucksäcke, Koffer, Säcke, Kerzen, mit Papierblumen geschmückt, große Holzkisten, Särge hinauf und hinunter schleppen. Du keuchst, fährst dir mit zitternder Hand über die schweißnassen Wangen, klammerst dich ans Geländer, wagst es nicht, in die schwindelerregende Leere hinabzusehen aus Angst, du könntest die Betontreppen hinunterrutschen in die kalte Finsternis.

    Gerade weil du den Vers sehr gut kennst, merkst du, dass du ihn verfehlt hast, warum verließest du doch das Licht der Sonne, was aber folgt dann? Deine Bank steht unmittelbar an dem offenen Fenster, der blühende Zweig des Apfelbaums berührt das Fensterbrett, in Trauben hängen flauschige Bienen und rosa Blüten zwischen den grünen Blättchen.

    »Komm doch, komm herein«, flüsterst du deiner Biene zu, »komm herein und stich den Herrn Lehrer.«

    »Statt dort in deiner Ecke Selbstgespräche zu führen, tritt vor die Klasse und trag vor«, sagt der Herr Lehrer und wappnet sich mit dem Lineal, das er sich vom Lehrerpult schnappt.

    Du fürchtest dich nicht vor dem Lineal des Herrn Lehrers, für kleines Geld machst du Übungen in Altgriechisch und Latein für die Schüler höherer Klassen, jetzt aber hast du einen Lapsus und sagst dir deshalb das Gedicht auf dem Weg zum Lehrerpult insgeheim auf, wie kamst du hinab ins nächtliche Dunkel, / da du noch lebst? Denn schwer wird Lebenden, dieses zu schauen. Auf dem petroleumgeschwärzten Bretterfußboden zwischen den beiden Bankreihen flimmern rosarote Flecken unter deinen Schnürstiefeln, es sind die rosaroten Apfelblüten, ein Windhauch hat sie zum Fenster hereingeweht, fieberhaft angespannt gehst du über die blanken Dielen, Vorsicht, nicht ausrutschen, Vorsicht, nicht ausrutschen! Du räusperst dich, glättest dein Gesicht, das in der Leere des offenen Fensters aufblitzt. Ist es dein Gesicht? Eher nicht. Du rezitierst:

    Schweifst du jetzo hieher, nachdem du vom troischen Ufer

    Mit dem Schiff und den Freunden so lange geirret?

    Und kamst du

    Noch gen Ithaka nicht … ?

    Du verhaspelst dich, das Wort liegt dir auf der Zunge, aber es fällt dir nicht mehr ein, du hast einen Lapsus und deine Zunge ist schwer, hastig greifst du in die Innentasche, wo du die Geldbörse trägst, sie ist leer bis auf eine kleine schwarze, in der Mitte gelochte Münze, mykenisch, assyrisch, ägyptisch, du hältst sie in der geballten Faust, man wird sie dir auf dem Parkplatz abverlangen, wenn du über die Brücke kommst. Du findest die zerknüllten Blätter mit dem Vortragstext nicht, wo du den Fehler suchen könntest, aber, was ein Glück!, der Lehrer ist taub, er hört nichts, auch er ist inzwischen älter geworden.

    »Good morning, mesdames, messieurs, vos billets, s’il vous plaît«, intoniert der Herr Lehrer in melodiösem Bassbariton.

    Er hat die Schildmütze aufgesetzt und ist hinausgegangen, die Tür hat einen Schlag mit dem Lineal abbekommen. Du sitzt allein im leeren Klassenzimmer, du kannst nicht gehen, ehe du den Vers zusammenkriegst, auch wenn sie dich zu Hause am gedeckten Tisch erwarten.

    Ob sie dich wiedererkennen oder nicht wiedererkennen nach all den Jahren, kehrst du doch spät, unglücklich und ohne Gefährten, zur Heimat?

    Da, der Kirchturm im Tal, wenn du bei ihm bist, musst du nur noch über die Straße gehen, dann bist du zu Hause. Was werden die für erstaunte Gesichter machen, was werden sie für Freudenschreie ausstoßen, wenn sie dich sehen! Werden sie dich wiedererkennen? Oder werden sie dich nicht wiedererkennen nach all den Jahren, die du einsam durch nächtliches Dunkel geirrt bist? So viele Jahre sind vergangen, seit du weggegangen bist, wie gestern Abend war’s, dass sie dich zum Bahnhof begleitet haben.

    Du versuchst zwischen den alten Zaunlatten hindurchzusehen, stellst dich auf die Zehenspitzen, um einen Blick in den Hof zu erhaschen, aber der Zaun ist zu hoch, und grüne Farbe klebt an deinen Fingerkuppen. Der Zaun ist frisch gestrichen, du selbst hast ihn gestrichen gestern, bevor ihr euch auf den Weg zum Bahnhof gemacht habt. Das Haus ist ziegelrot, die Backsteinmauern sind nicht verputzt, sie haben es nicht zu Ende gebracht, weil die Bank Pleite gemacht hat. Die Banken sind alle verstaatlicht worden. Die Bank hat ihnen keinen Kredit mehr gewährt, weil du von zu Hause abgehauen bist.

    Jetzt stehst du unter der Zypresse und fragst dich, ob du den Riegel öffnen sollst. Oder nicht? Da ist der lange Tisch im Hof, gedeckt zum Hochzeitsmahl, zum Taufmahl, zum Totenmahl.

    Wie langweilig, wie herzzerreißend! Wie oft hast du doch schon hier unter dem Pflaumenbaum gestanden, die Hand an der angelehnten Tür, im Begriff, sie aufzustoßen.

    Ein Kind mit verschmiertem Gesicht und nacktem Hintern richtet sich hinterm Zaun auf und zieht die Hose hoch, zu wem gehört wohl dieses Kind mit Rotzschlieren im Gesicht, die silbrig glänzen wie die Schleimspur einer Schnecke, an der Sonne getrocknet? Du hast es aus den Augen verloren auf dem Hof voller Bienensummen, voller Sonne, es ist Sommer, es ist Frühjahr …

    Und du kennst dieses Kind, das unbehütet aufwächst wie Unkraut, du hast es schon einmal irgendwo gesehen, aber wo? Ach ja! Mutter trug ständig sein Bild in der Handtasche, eine Sepiafotografie mit Kaffee- oder Ölflecken und abgeknickten Ecken.

    Fest trittst du auf, unter deinen harten Schuhen aus rissigem Leder knirscht der Kies, du möchtest, dass sie alle zu dir aufblicken, dich sehen, dir zuhören. Sie sitzen am Tisch, und die Tanne verschattet ihre Gesichter – aber gab es denn eine Tanne? Gab es denn eine Zypresse bei euch auf dem Hof? Die Tanne auf dem Hof bringt Unglück, das weiß man, und Zypressen hast du nur in Rom gesehen.

    Dein rissiges, verstaubtes Schuhwerk poltert auf dem Kies, du trittst fest auf, vielleicht bekommst du doch ihre Augen zu sehen, wie sie sich dir zuwenden, damit du zu ihnen sagen kannst: »Schön, euch wiederzusehen! Guten Appetit!«

    Ihnen aber ist’s weiter nur ums Essen zu tun, sie sehen dich gar nicht.

    Und doch müssen sie gewusst haben, dass du kommst, sonst wären sie nicht alle da. Alle, alle! Sie leben also alle, keiner ist gestorben. Also waren die Briefe, die Telegramme, die Anzeigen alle gelogen! Welch ein Glück, welch eine Erleichterung, mein Gott! Mutter und Vater, da sitzen sie wie immer an der Spitze der Tafel. Wieder und wieder steht Mutter auf, wie sie das immer macht, holt einen Krug Wein oder einen Korb Brot! Also leben sie, sind sie lebendig! Mein Gott, welch ein Wunder, welch ein Glück, wie gut! Alles andere war Lüge, Traum, Einbildung … Alles, was du geglaubt, gelitten hast in diesen Jahren, es erübrigt sich …

    Mit breitem, glücklichem Lächeln trittst du heran, obwohl sie weiter gedämpft miteinander reden, als hätten sie dich nicht gesehen, als hörten sie deine Schritte nicht … Niemand schaut zu dir auf, sie schenken sich nur gegenseitig ein, Wein, Wasser.

    Dabei hast du einen so langen Weg zurückgelegt, bist so viele Nächte durch Züge voller Schaffner und Soldaten gehetzt, du bist zu müde, als dass du ihrem Scherz noch etwas abgewinnen könntest. Wenn schon die alle nichts begreifen, dann könnte doch wenigstens diese eine verstehen, wenigstens sie!

    »Mutter!«, sprichst du sie leise an.

    Aber offenbar hat sie dich nicht gehört, sie ist alt, die Ärmste, ihre Sinne haben nachgelassen.

    »Mutter!«

    Du versuchst, lauter zu rufen, aber umsonst strapazierst du deine Kehle, deinen angespannten Stimmbändern entringt sich nur ein Keuchen.

    »Mutter!«

    Du strengst dich an in verzweifeltem Krampf, aber du hörst deine Stimme nicht, auch dein Schatten fällt nicht auf das Gras, sollte denn nicht wenigstens sie sich dir zuwenden? Sollte denn nicht wenigstens sie dich bemerken? Dabei bist du die ganze Nacht aus einem Zug in den andern gehetzt, hast dich unter Sitzbänken verkrochen in Zügen, die von bewaffneten Soldaten bewacht wurden, bist bis hierher gelangt im Schlafanzug, barfuß, mit Schaum im halbrasierten Gesicht! Wie aus einem anderen Leben, aus einem Traum kommt alles hoch, was du erlitten hast auf diesem endlosen Weg, und da sollte noch nicht einmal sie fragen: »Du bist es, mein Lieber?, ausrufen: »Er ist’s! Er ist’s, Herr im Himmel, wie soll ich dir danken, dass ich diesen Tag erleben darf, an dem ich ihn hier unter uns sehe? Komm her zu mir, du mein Liebster, erwarten dich doch so viele Leute schon seit so langer Zeit! Hast du Durst? Hast du Hunger? Bist du müde? Nun sag doch schon was! Gibt es doch nichts …«

    Sie aber schweigt. Sie sitzt gekrümmt da, abgewandt, der Schatten der Zypresse bedeckt ihr Gesicht, was kannst du schon anderes tun, als noch einmal zu rufen:

    »Mutter!«

    Sie schaut dich verwundert an.

    »Was willst du, Fremder?«

    Ob du dich so verändert hast, dass nicht einmal sie dich noch erkennen kann?

    »Ich bin es, Mutter! Ich bin es, dein Sohn! Wieso nennst du mich Fremder?«

    Wie schlecht musst du doch aussehen, dass Mitleid in ihr Gesicht tritt und ihre Stimme plötzlich weich wird:

    »Du Ärmster! Wer weiß, wo du herkommst? Wie viel du wohl gelitten hast, wenn du dich nicht einmal mehr an deine Mutter erinnern kannst! Komm, setz dich, nimm ein Glas Wein, ein Stück Brot! Es ist kein Beinbruch, wenn du ein wenig rastest, bevor du weiterziehst!«

    »Wohin soll ich denn gehen?«, flüsterst du erschöpft.

    »Was heißt denn, wohin? In dein Land, aus dem du gekommen bist! Sieht man doch, dass du nicht unsereins bist …«

    »Woran sieht man das?«

    »Was heißt denn, woran? Am Gang, an der Kleidung …«

    »Lass doch die Scherze, Mutter! Du siehst doch, ich bin müde und mir ist nicht nach Scherzen zumute!«

    »Ärmster, du warst wohl im Gefängnis und hast den Verstand verloren nach allem, was du dort durchgemacht hast, wenn du so stur weiter behauptest, ich wäre deine Mutter!«

    Nein, sie scherzt nicht! Sie hat dich wirklich nicht erkannt, die Ärmste! Wie hat ihr das Alter doch zugesetzt, wenn sie nicht einmal bemerkt, dass es deine Stimme ist, die da bebt vor Ungeduld, vor Aufregung.

    »Wie sonst sollte ich dich denn ansprechen? Ich habe doch nie anders als Mutter zu dir gesagt!«

    »Du musst krank sein, sehr krank, du Armer, wenn du noch nicht einmal weißt, ob du wach bist oder träumst, Dinge, die selbst ein Kind weiß! Es ist eine schwere Krankheit, wenn man nicht mehr weiß, wer man ist!«

    »Wer werde ich schon sein? Ich bin’s!«

    Sie haben alle ihre Köpfe gehoben, sie sehen dich an.

    »Ich bin’s, Herrgott nochmal! Seht ihr denn nicht, dass ich es bin?! Ich, ich, ich!«

    Sie schweigen.

    »Ich bin’s, euer Sohn, Bruder, Neffe, Onkel, Schwager!«

    Die angespannten Gesichter um den Tisch betrachten dich wie durch eine Glasscheibe. Sie lächelt traurig, winkt ab:

    »Schön wäre es, wenn du es wärst, das kannst du aber nicht! Wenn du es wärst, dann wärst du nicht hier, bei uns, dann wärst du weit weg! Wenn du es wärst, dann wärst du drüben! So gut wie tot!«

    »Schaut mich an!«, rufst du. »Ich bin es immer noch, nur sind sieben Jahre vergangen, vierzehn, zwanzig Jahre, seit ich weg bin! Ich kann nicht mehr aussehen wie auf dem Foto! Ich bin dünner, älter geworden, auch der Weg hierher war lang! Ich bin ungewaschen, ungepflegt, unrasiert, ich habe mich nicht einmal bei Kerzenschein sehen können! Und ich weiß selbst nicht, wie sehr ich mich verändert habe, denn hier bei euch sind alle Spiegel verhangen …«

    Wie langweilig, wie herzzerreißend! Wie oft hast du diese immer gleiche Szene schon durchlebt. Sie sitzen schweigend um den gedeckten Tisch, zum Taufmahl, zum Totenmahl, zum Hochzeitsmahl, schweigend, mit verlegenem Grinsen, und du rufst aufgeregt:

    »Ich bin’s, nur habe ich ein paar Kilo zugelegt, seit ich von Zigaretten auf Pfeife umgestiegen bin. Aber so dick bin ich nun auch nicht, dass ihr mich nicht wiedererkennt!«

    Sie haben sich von den Stühlen erhoben, wollen auf dich zukommen, tuscheln miteinander, plötzlich schreien sie alle durcheinander, ihre Stimmen überlagern sich.

    »Was bist du bloß für einer?«

    »Er sagt, er gehört zur Familie!«

    »Wo bitte sind deine Koffer?«

    »Wenn du er wärst, dann wärst du nicht barfuß und unrasiert zur Hochzeit erschienen!«

    »Mit wem will er verwandt sein?«

    »Wenn du er wärst, hättest du eine Rolex am Handgelenk und einen dicken Mercedes vor dem Tor!«

    »Er ist es nicht, schau mal an, was er für blitzblanke Schuhe hat! Schau an, was für eine teure Jacke!«

    »Ein Hochstapler, hört doch auf!«

    »Was bist du für einer? Was suchst du hier bei uns?«

    »Was bist du bloß für einer, antworte!«

    »Psst! Lasst ihn gehen! Seht ihr denn nicht? Der ist von der Securitate!«

    »Ein armer Irrer! Wie der ausschaut! Ein armer Irrer, der aus dem Narrenhaus abgehauen ist!«

    »Ein gefährlicher Irrer!«

    »Gebt acht, ich habe euch gesagt, was das für einer ist!«

    »Die haben den hergeschickt, um uns auf die Probe zu stellen! Der will hören, was wir sagen, worüber wir reden, und uns dann verpfeifen!«

    »Psst! Wir haben keine Verwandten drüben, Fremder!«

    »Wir haben nur einen, der ist schon lange tot!«

    »Wir haben seiner gedacht, zum

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