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Verirrungen: Drei Erzählungen: Verloren im Labyrinth, Verspätung, Wind
Verirrungen: Drei Erzählungen: Verloren im Labyrinth, Verspätung, Wind
Verirrungen: Drei Erzählungen: Verloren im Labyrinth, Verspätung, Wind
eBook321 Seiten5 Stunden

Verirrungen: Drei Erzählungen: Verloren im Labyrinth, Verspätung, Wind

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Über dieses E-Book

Verloren im Labyrinth: Ein Mann geht durch ein Bahnhofsviertel auf der Suche nach einem schnellen Glück, das er, etwas unerwartet, auch findet.

Verspätung: Eine Frau spricht einen Mann auf der Straße an. Er geht mit ihr und erlebt eine höchst unangenehme Überraschung. Er wird nicht nur ausgeraubt, sondern nackt im Wald abgesetzt. Für diese Schande will er sich unbedingt an der Frau und deren Mann rächen, aber dadurch gerät er in noch mehr Komplikationen. Am Ende bootet die Frau beide Männer aus, um sich ihren Traum vom Leben zu erfüllen. Oder gelingt ihr das doch nicht?

Wind: Ein Mann wird in einer sehr stürmischen Gegend von einem heftigen Windstoss in ein Gebüsch geworfen. Auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich zu säubern, geht er zu einem einsamen Haus. Die Frau, die allein hier lebt, ist von seinem Besuch durchaus angetan und bietet ihm mehr als nur eine Badewanne mit warmem Wasser an.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum31. Aug. 2016
ISBN9783741846120
Verirrungen: Drei Erzählungen: Verloren im Labyrinth, Verspätung, Wind

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    Buchvorschau

    Verirrungen - Yupag Chinasky

    Verirrungen

    Drei Erzählungen

    von

    Yupag Chinasky

    Impressum

    Yupag Chinasky

    Verirrungen

    Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    Copyright 2016 Yupag Chinasky

    Inhaltsverzeichnis

    Verirrungen

    Verloren im Labyrinth

    Verspätung

    Die Anmache

    Der Waldweg

    Auf Spurensuche

    Die erneute Annäherung

    Die Rache

    Die Reaktion

    Die Krise

    Die Entscheidung

    Showdown

    Epilog

    Wind

    Verloren im Labyrinth

    Der große Bahnhof war zu der Zeit, als er gebaut wurde, in den frühen fünfziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, ein architektonisches und technisches Meisterwerk. Heute ist er weder schön noch funktional, aber immer noch eine wichtige Drehscheibe des Verkehrs. Die Freude an der nostalgischen Architektur, die sich einstellt, wenn man davor steht und die immer noch anhält, wenn man die große Halle betritt, wird von einer Beklemmung abgelöst, wenn man zu den Zügen hinab steigt. Sie nimmt zu, je tiefer man in den Untergrund vordringt, bis zu der funktionalen Ebene, den Bahnsteigen und Gleisen. Jeder Meter abwärts auf den altmodischen, holzverkleideten Rolltreppen steigert dieses Gefühl. Der klaustrophobe Höhepunkt ist erreicht, wenn man den Perron betritt, das reinste Inferno. Die Röhren, in denen die Rolltreppen verlaufen, sind eng und schmal, aber die Bahnsteige erscheinen noch enger, noch schmaler, noch schmutziger. Man wundert sich geradezu, dass sich hier Menschen aufhalten dürfen. Der kreischende Lärm der Züge, die in kurzem Takt aus den Tunnelröhren kommen, rattern, abbremsen, nur wenige Augenblicke verweilen und dann wieder ächzend und stöhnend anfahren, malträtiert die Ohren. Die Schwärze der ewigen Nacht wird nur durch den Schein der kalten Neonröhren unterbrochen, die statische Spots auf den Beton werfen und durch die gelben Lichter der Lokomotiven und der Wagenfenster, die mit den Zügen auftauchen und wieder verschwinden. Es stinkt nach Staub, Ruß, Dreck, Desinfektionsmittel und Menschenmassen. Zu den Stoßzeiten ist dieser Vorhof der Hölle von Hunderten von Menschen bevölkert. Sie laufen und rennen, schieben und stoßen, drängen sich in die Abteile, drängen sich auf die Rolltreppen, zerren Koffer hinter sich her und benutzen ihre vorgestreckten Aktentaschen als Waffe, um sich einen Weg durch die anderen zu bahnen, die genau dasselbe wollen. Jeder scheint nur einen Wunsch zu haben, weg von hier, raus aus diesem Chaos, diesem düsteren Orkus, hoch zum Licht und zur Luft oder wenigstens hinein in ein sicheres Zugabteil.

    Oben, in der Bahnhofshalle, ist es in der Tat hell und erträglich und durch die Drehtüren strömt frische Luft herein. Hier kann man die nostalgische Architektur genießen, die kühnen Konstruktionen der damaligen Zeit, die lichte Höhe der Halle, das viele Glas in der Hauptfront und den Blick in Richtung Stadtzentrum. Auch wenn an manchen Stellen der Verputz von den Wänden bröckelt und die einstmals weißen Kunststoffpaneele der Decken gelb und schmutzig geworden sind, versteht man, warum dieses Gebäude Architekturgeschichte geschrieben hat. In der großen Halle kann man süße Waffeln kaufen, scharfe Würstchen essen, diverse Sorten Bier trinken, ja sogar an einem viel belagerten Stand Austern schlürfen – dégustation des fruits de mer. Es gibt Läden mit Blumen und Reisebedarf, Kioske mit Zeitschriften und Tabakwaren und einen Drogeriemarkt.

    Man sieht alle möglichen Leute, Menschen jedweder Couleur und Hautfarbe. Hier der Geschäftsmann im gestreiften, schwarzen Nadelanzug oder sein weibliches Pendant im gedeckten Kostüm. Um den Bierausschank herum, eine Gruppe Touristen mit exotischen Kopfbedeckungen und Bergen von Koffern, die wohl direkt aus einem Urlaubsparadies gekommen sind. Zu Stoßzeiten bevölkern Massen von Pendlern die Halle, die rasch zum Arbeitsplatz oder noch rascher zurück nach Hause eilen. Die herumalbernden Schüler und die trödelnden Rentner scheinen es dagegen nicht eilig zu haben. Sie lungern herum, genauso wie manche unangenehme Typen, die betteln und ein paar Cent schnorren, indem sie vorgeben unbedingt eine Fahrkarte kaufen zu müssen oder wer weiß wie lange, nichts mehr gegessen hätten.

    Das Chaos des Untergrunds setzt sich fort, wenn man das Gebäude durch den Hintereingang verlässt. Während der Haupteingang den Weg direkt in das Zentrum weist, in das pulsierende, gepflegte Herz der Stadt, öffnet sich ein neues Labyrinth, kaum dass man den Hintereingang durchschritten hat. Man irrt durch Unterführungen, steigt auf schmalen Treppen hinab zur Ebene der Gleise und hinauf zur Ebene der Hochstraßen, die die Bahnhofsanlage überqueren, umrundet gewaltige, betonierte Pfeiler, kommt an Laderampen und Eisentoren vorbei. Schwach beleuchtete Tunnel scheinen ins Ungewisse zu führen, an ihren Wänden abgerissene Plakate, aber auch Streetart, Kunst an einem Ort, wo man sie nicht erwartet. Verlässt man die unmittelbare Nähe des Bahnhofs, beginnt das Labyrinth der Wohn- und Geschäftsstraßen. Die Hausfronten sind heruntergekommen und hässlich, die Eingangstüren alt, die Briefkästen verlottert, die Türklingeln ein Wirrwarr, die Fenster aus billigem Glas mit altmodischen Klappläden oder ausgeblichenen Jalousien. Man geht an billigen Kneipen und an Ein-Euro-Läden vorbei, sieht aber auch nostalgische Tante-Emma-Läden und gelangt schließlich in das Gebiet der Sexshops, Spielhöllen und Wettbüros. Man eilt auf schmalen Bürgersteigen an stinkenden Autoschlangen entlang, umrundet falsch geparkte Wagen, die den spärlichen Platz weiter verengen, steigt über Fahrradständer, die das Trottoir versperren und ekelt sich vor den schwarzen, manchmal aufgeplatzten Müllsäcken vor den Haustüren, willkommene Edelfreßlokale für Ratten. All die Straßen, Gassen, Sackgassen, Plätze, Einfahrten scheinen kein logisches Muster zu bilden, sie scheinen ohne Plan entstanden zu sein, eine kongeniale Fortsetzung des Labyrinths im Keller des Bahnhofs, dem man nur scheinbar entronnen ist.

    Mitten in diesem heruntergekommenen Viertel, liegen die Straßen mit den beleuchteten Schaufenstern. Die Lichter schimmern meist rot, aber auch blau, violett oder gelb und wenn es geregnet hat, spiegeln sich die Farben auf dem nassen Kopfsteinpflaster. Das bunte Licht stammt von kurzen Neonröhren, die an den Fenstern angebracht sind, meistens horizontal am oberen oder unteren Rand, manchmal aber auch vertikal an den Seiten. Hinter den Fensterscheiben sitzen die Frauen auf Hockern, Lehnstühlen und sogar in Polstersesseln. Junge, alte, dicke, dünne, meist allein, manchmal zu zweit, manche hübsch, andere unauffällig. Einige sind richtiggehend hässlich und das bei diesem Beruf, der vom schönen Schein lebt. Fast alle tragen sehr knappe Arbeitsbekleidung: Dessous, Korsetts, Ledermonturen, Netzstrümpfe, High-heels, Stiefel mit Schäften bis über die Knie. Viel nackte Haut wird zur Schau gestellt, herausgepresste Brüste, freie Pobacken, lange Beine. Manche erscheinen vulgär und nuttig, viele könnten aber aus jeder Reihenhaussiedlung kommen, aus den Vororten der Großstadt oder aus irgend einem Provinznest. Wenn er bei seinem Herumstreunen durch das Viertel die Straßen mit den bunten Lichtern aufsuchte, reizte ihn die Atmosphäre, der Widerschein der farbigen Lichter auf den Pflastersteinen, die Schatten der Männer, die von Fenster zu Fenster gingen, die Blicke der gelangweilt wartenden oder aggressiv fordernden Frauen. Er selbst näherte sich den Fenstern nicht, vor den Frauen hatte er Angst und wagte nicht, sich mit einer einzulassen.

    Aber eines Tages ist er doch über seinen Schatten gesprungen und hat das getan, was ein Mann tut, wenn er hierherkommt. Er war in eine Gasse gelangt, in die sich kaum jemand verirrte und in der es nur ein einziges, schwach erleuchtetes Fenster gab. Er war in sicherer Entfernung vorbei gegangen und hatte in dem gelben Licht einer Stehlampe nur ein paar lange, schlanke Beine in schwarzen Leggins und roten Pumps gesehen. Der Rest des Körpers der Frau auf einem Hocker, befand sich im Schatten und war von seinem Standpunkt aus nicht zu erkennen. Die Frau saß ganz ruhig da und sandte keine Signale aus, die einen Mann kirre machen und in das Zimmer locken sollten. Genau diese ungewöhnliche, fast demonstrative Zurückhaltung faszinierte ihn und so beschloss er, endlich doch einmal einen Besuch zu wagen, endlich doch einmal seinen geheimen Wünschen nachzugeben. Er überquerte die Straße und stellte sich vor das Fenster, doch nichts geschah. Er meinte schon, die Frau hätte ihn nicht bemerkt, doch dann beugte sie sich schließlich etwas vor und öffnete das Fenster einen Spaltbreit. Sie schien fast unwillig über die Störung zu sein, als sie sagte, sie würde eigentlich nur Stammkundschaft empfangen und ihn hätte sie noch nie gesehen. Aber heute sei nichts los und sie erwarte auch niemanden mehr und er könne hereinkommen.

    Dann erhob sie sich, schloss das Fenster, zog die Vorhänge vor, um anzuzeigen, dass das Etablissement besetzt war, und öffnete die Tür. Sie begrüßte ihn freundlich und führte ihn in ihren Arbeitsraum, ein schummeriges Zimmer mit einem großen Bett. Sie war sehr schlank, aber trotz der langen Beine deutlich kleiner als er. Wie sie da stand, eine selbstbewusste Autorität ausstrahlend, hätte man sie nicht für eine Nutte gehalten. Sie sah durchaus seriös aus, wie eine Geschäftsfrau, die in einem unkonventionellen, vielleicht in einem künstlerischen Bereich tätig war. Sie unterstrich diesen Anschein der Seriosität noch dadurch, dass sie seltsamerweise schwarze Netzhandschuhe trug, die ihm erst jetzt auffielen. Als er sie genauer taxierte, fiel ihm weiter auf, dass ihr leidlich hübsches Gesicht dick, wenn auch recht kunstvoll, geschminkt war und dass es dadurch einen starren, maskenhaften Ausdruck angenommen hatte. Er meinte auch zu erkennen, dass ihre langen, schwarzen Haare nicht ihre eigenen waren, es musste eine Perücke sein. Und er nahm einen Duft wahr, der zwar angenehm, aber doch schon leicht penetrant wirkte, das einzig Aufdringliche an dieser Frau. Während er sie anstarrte, war er sich nicht sicher, ob er eher enttäuscht oder doch lieber angenehm berührt sein sollte. Enttäuscht, dass sie ihn so gar nicht anmachte, dass sie alles andere als eine „femme fatale war, keine geborene Verführerin. Erleichtert, dass sie all das gerade nicht war, dass sie wie eine Frau wirkte, mit der man ins Theater ging oder die man vom Elternbeirat her kannte. Er war erleichtert, weil ihr „normales Aussehen und Verhalten seine Urängste über käufliche Liebe und die Gefahren, die von Prostituierten ausgingen, nicht bediente. Bevor er es sich doch noch anders überlegte, kramte er rasch die verlangte Summe aus seinem Geldbeutel, ziemlich viel Geld, wie er fand, und gab sie ihr und sie verstaute sie in ihrem Schrank. Dann fragte sie ihn, der keine Anstalten machte, sich auszuziehen und noch nicht einmal seine Jacke abgelegt hatte, was denn los sei, ob er nun wolle oder nicht. Sie selbst zögerte jedoch ebenfalls, sich zu entkleiden. Schließlich begann er seine Kleidung Stück für Stück abzulegen. Dabei zitterten seine Hände ein wenig, der Atem ging ein bisschen schneller und der Mund war auf einmal ganz trocken. Als er endlich fast nackt auf der Bettkante saß, nur die Unterhose hatte er noch an, begann auch sie, sich zu entkleiden. Der dabei angedeutete Striptease war wohl Teil ihres Programms. Sie wiegte sich in den Hüften, drehte und wendete ihren Oberkörper, streckte ihn vor und zurück und streifte dabei langsam ihre Bluse ab. Der rote BH war klein und was darin steckte, vermutlich auch, in dem rötlichen Dämmerlicht musste er mehr ahnen, als dass er sehen konnte. Dann wackelte sie ein paarmal mit dem Po, ließ den Minirock hinab gleiten und setzte sich dicht neben ihn auf die Bettkante.

    Erst jetzt, als sie fast nackt war, nur noch in BH und Slip, und ihn fast berührte, merkte er, was andere sicher viel früher bemerkt hätte, was andere vielleicht davon abgehalten hätten, zu ihr zu kommen und auf einmal war er schockiert. Neben ihm saß eine Frau in deutlich fortgeschrittenem Alter, ja eine geradezu alte Frau. Die Haut war, bis auf das geschminkte Gesicht, faltig und fleckig. Sie war nicht nur schlank, sie war mager, die Knochen zeichneten sich deutlich ab, die Rippen, die Schulterblätter stachen hervor. Es war eine überreife Frau, die durch Kleidung, Bemalung und Verhalten ihr wahres Alter geschickt kaschiert hatte. Nun verstand er auch ihre Zurückhaltung, neuen Kunden gegenüber und ihren Wunsch, nur noch Stammkundschaft zu bedienen. Sie merkte, wie er reagierte, wie er sie enttäuscht anstarrte, wieder unschlüssig, was er machen sollte, bleiben oder doch lieber gehen. Es war sicher nicht das erste Mal, dass sie diese demütigende Situation erlebte. Sie blieb aber freundlich, bemerkte nur, dass sie zwar nicht mehr taufrisch, aber durchaus noch brauchbar sei und dass es eben nun mal so sei. Nach dem anfänglichen Schock fügte er sich in die Situation, weil auch er einsah, dass sie nun mal so war, wie sie war, und beschloss mit einem lang gedehnten „aaaaalors, bien zu bleiben. Der kritische Augenblick der Wahrheit war überstanden, die Frau seufzte erleichtert auf, wendete sich ihm zu, streichelte ihn sanft und begann ihn mit der Erfahrung einer reifen Frau, die ihr Handwerk versteht, zu verwöhnen. Es war für ihn am Ende sogar ein Erlebnis, wenn auch kein berauschendes und auch kein erotischer Höhepunkt, aber um einen solchen zu beurteilen, fehlten ihm ohnehin die Vergleichsmöglichkeiten. Jedenfalls war er, nachdem sie den Akt auf befriedigende Weise hinter sich gebracht hatten, wieder versöhnlich gestimmt. Und als sie sich beim Weggehen für seinen Besuch höflich bedankte, ihn mit „au revoir monsieur verabschiedete und ihn aufforderte, doch einmal wieder zu kommen, murmelte er „peut-être, on vais voir" oder so etwas Ähnliches und steckte ihr nach kurzem Zögern sogar ein Trinkgeld in den roten BH, genau zwischen die beiden kleinen Brüstchen, die er gar nicht nackt zu sehen bekommen hatte. Aber aufgesucht hat er sie dann doch nie wieder.

    Verspätung

    Die Anmache

    „Like it?"

    Die Worte hatte sie nur halblaut hervorgestoßen, aber sie waren nicht zu überhören gewesen und der, für den sie bestimmt waren, hatte sie gehört und auch ihren Sinn verstanden. Als die Frau direkt auf ihn zu kam, ihm direkt in die Augen sah und dann so dicht an ihm vorbei ging, dass er nicht nur die beiden Worte hörte, sondern auch ihren Geruch wahrnahm, ja wahrnehmen musste, eine Mischung aus billigem Parfüm und strengem Schweiß, wusste er, was sie wollte. Der Geruch irritierte ihn mehr als die Worte und der Blick, aber es war kein Wunder, dass sie bei dieser Hitze eine solche intensive Aura um sich verbreitete. Als er sie in dem kurzen Moment des Vorbeigehens anstarrte, hatte er die Schweißtropfen auf ihrer Stirn gesehen, wasserhelle Perlen, in denen sich die Sonne spiegelte, genauso wie in den Gläsern der übergroßen Sonnenbrille. Er wusste, was sie wollte und sie hatte wohl auch gespürt, dass er für ihre Reize empfänglich sein würde, spätestens als er sie diese halbe Sekunde lang anstarrte. Aber vermutlich hatte sie das schon geahnt, als sie ihn auf dem leeren Platz ortete wie er dastand, mit seinem Handy beschäftigt. Nur deswegen war sie so nahe an ihm vorbei gegangen. Er konnte gar nicht anders, er musste sie anschauen und als sie dann seinen hungrigen Blick mehr spürte als wirklich sah, war sie sich sicher. Sie kannte diese Blicke, dieses auf sie gerichtete Starren zu genüge und sie empfand es nicht einmal als Belästigung. Es gefiel ihr, es stärkte ihr Selbstbewusstsein, es gab ihr Sicherheit. Solange Männer sie anstarrten, war sie immer noch attraktiv und das wollte sie sein, das musste sie sein. Sie wusste sehr wohl, dass sie auf Männer wirkte, besonders auf Typen wie diesen, die ständig mit ihren Blicken auf der Suche nach Frauen waren, süchtige Männer in ihren besten Jahren, die keine Gelegenheit ausließen, Frauen zu taxieren, mit Blicken abzutasten und zumindest in Gedanken zu vernaschen. Sie wusste genau, wo diese Männer hinstarrten, erst auf die Beine, dann hoch über die Hüfte zur Taille und zum Busen. Das Gesicht kam zum Schluss dran. Selbst wenn sie von hinten beäugt wurde, spürte sie, wie die Blicke über die wohlgeformten Waden, die strammen Oberschenkel zu dem ausgeprägten Po wanderten, dort kurz verweilten, dann über die Taille und den Rücken zu den schwarzen, halblangen, etwas wuscheligen Haaren. Sie hatte diese Blickabfolge schon so oft beobachtet und gefühlt, an sich selbst, an anderen attraktiven Frauen, manche Männer hatten ihr das auch gesagt, wenn sie zusammengekommen waren. Auch bei diesem Mann hatte sie gemerkt, wie seine Augen fickerig wurden, wie die Pupillen sich weiteten, ein sicheres Zeichen, dass sie es geschafft hatte, seine Gier zu erwecken, seine Geilheit anzustacheln. Dann war sie auch schon an ihm vorbei, blieb aber nach ein paar Metern stehen und drehte den Kopf zu ihm zurück. Der Mann stand immer noch wie festgenagelt, aber er hatte sich voll zu ihr hin gedreht, mit dem ganzen Körper und seine Augen flatterten immer noch, als er sie jetzt, wie vorausgesagt, von hinten abtastete, die Füße, die Waden, die Oberschenkel, den Hintern und nun auch das Gesicht. Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und war sich jetzt ganz sicher, dass sie sein Typ war, dass er sie wollte.

    Sie dreht sich langsam um, wendet sich ihm zu, nimmt ihre Sonnenbrille ab, schaut ihm direkt in die Augen und wiederholt ihre Frage.

    „Like it or not? Like it to come with me?"

    Doch der Angesprochene bleibt stumm, gibt keine Antwort, regt sich nicht, starrt sie weiter an, direkt, unverhohlen, das Handy immer noch in der Hand, aber es ist nicht mehr interessant. Da er sich gar nicht rührt und keine Antwort gibt, ist sie sich auf einmal doch nicht mehr ganz sicher, ob er bereits angebissen hat. Um ihre Attraktivität zu erhöhen, setzt sie ihr verführerischstes Lächeln auf, ihr unwiderstehliches, nicht ganz perfektes Lächeln, denn zwischen ihren oberen Schneidezähnen klafft eine deutliche Lücke. Diese Lücke ist ihr unangenehm, passt nicht zu der Schönheit, die sie verkörpern möchte, aber sie ist da, war von Geburt an da. Es ist kein Zahn, der fehlt, sondern eine natürliche, breite Lücke, die ihr aber nicht gefällt und wenn sie merkt, dass ihr jemand auf den Mund schaut, zieht sie die Oberlippe über die Zahnreihe und verdeckt so diese Lücke. Aber sie denkt nicht immer dran und wenn sie lächelt oder wenn sie spricht, sieht man die Zähne und natürlich auch die Lücke. Der schwitzende Mann stört sich nicht an der Lücke, obwohl sie ihm auffällt, denn alles andere ist verdammt verführerisch an dieser Frau. Sie ist groß und schlank, hat ausgeprägte Körperformen, lange, nackte Beine, die Füße in roten High-heels, kräftige Hüften, einen ausgeprägten Po, eine schmale Taille, einen formidablen Busen und wilde Haare. Das Schönste aber ist, findet der Mann, dass diese ganze Pracht aus feinster Schokolade besteht: Schoko mit Sahne, Edelbitter und zugleich extra süß, genau sein Geschmack. Er ist verrückt nach solchen Frauen und diese hier kommt seiner Traumfrau verdammt nahe.

    „Why you not come with me?"

    fragt sie ihn nun mit einer leicht rauchigen Stimme und dabei tänzelt sie ein wenig auf der Stelle, macht ein Schrittchen vor, dreht sich halb von ihm weg, wackelt mit dem Hintern. Was für ein Hintern in diesen engen, kurzen Jeans, fest, rund, nicht zu groß, nicht zu klein, einfach perfekt. Dann wieder ein Schrittchen zurück, die halbe Drehung zurück, zu ihm hin, um ihm nun den Oberkörper provokativ hinzurecken und den Busen vorzustrecken. Diesen formidablen, festen Busen in dem schwarzen T-Shirt mit dem großen, pinkfarbenen Dreieck auf der Brust, dessen Spitze nach unten zeigt und um das herum in in großer Schrift steht: „Have you yet done it today? If not – come". Doch auch das Busenrecken bewirkt immer noch nicht, dass er reagiert, obwohl sie genau sieht, wie sein Blick auf ihren Brüsten hängen bleibt. Sie verstärkt ihre provokativen Bewegungen, ein erneutes Zucken mit dem Oberkörper, ein zusätzliches Wackeln mit dem Hintern und ihr Lächeln ist noch einen Tick verführerischer. Jetzt endlich, grinst er zurück, ein wenig dämlich, so wie Männer grinsen, wenn die Traumfrau ihnen unerwartet gegenüber steht und sie nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen. Sein Blick ist nun ganz auf ihrem Gesicht angekommen. Es ist schmal, mit hohen Backenknochen, aber nicht ganz so attraktiv wie ihre Figur. Sie sieht etwas verlebt aus, denkt er, nicht mehr ganz taufrisch, aber durchaus hübsch, keine Frage. Sie hat eine überraschend gerade Nase, schmale Lippen, eine hohe Stirn und sehr schöne, sehr dunkle, sehr geheimnisvolle Augen mit langen Wimpern und gezupften Brauen. Jetzt, nachdem sie die große Brille abgenommen hat, fallen ihm auch die beiden kleinen, parallelen Narben auf der Stirn über dem linken Auge auf. Sie sind deutlich zu sehen stören ihn aber nicht, genauso wenig wie die Zahnlücke, die jetzt auch deutlich sichtbar ist, weil die Frau nun ständig lächelt. Äthiopien denkt er oder Somalia, ein Gesicht wie diese Wüstenblume in dem Film, den er erst neulich gesehen hat. Was das wohl für Narben auf ihrer Stirn sind? Sie sind symmetrisch angeordnet, vielleicht Schönheitsnarben oder doch Messerstiche, Unfallverletzungen? Vielleicht musste sie aus ihrer Heimat fliehen und hat sich die Verletzungen auf der Flucht zugezogen. Vielleicht wurden sie ihr von einem dieser Schlepper verpasst, von denen man so viel liest. Die Narben und die Zahnlücken sind kleine Makel, die diese Frau noch rätselhafter, noch interessanter machen.

    Als er ihr jetzt direkt in die Augen schaut, weiß sie, dass sie gewonnen hat. Er hat angebissen, denkt sie und nun erst taxiert sie ihn genauer. Passt er? Ist er einer, den sie sucht? Mittleres Alter, schlank, gut angezogen. Trotz der Hitze trägt er einen dunklen Anzug und hat dazu noch eine Krawatte umgebunden, pink mit einer lächerlichen Figur. Sie sieht seine teure Armbanduhr, die Ringe an den Fingern. Er hat bestimmt Geld und einen ordentlichen Beruf und ordentliche Manieren. Sonst hätte er doch wenigstens die Jacke ausgezogen bei dieser Affenhitze und die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt. Ja, er passt. Den will sie. Sie muss ihn nur noch ein ganz klein wenig anstoßen, noch ein kleiner Kick, dann hat sie ihn, diesen geilen Typ, dem gleich der Sabber aus dem Maul triefen wird und dessen Blick sich wieder von ihren Augen gelöst hat und über ihre nackten Arme, den steilen Busen, zur Taille, zur Hüfte, zu den braunen Beinen hinab wandert, auf der verführerischen Haut verweilt: Ritter Sport Vollmilch Nuss oder doch eher Zartbitter?

    Während er sie immer noch abtastet, wartet sie, dass er endlich zustimmt, ihr Werben annimmt, ein Kopfnicken, ein bestätigender Blick, eine eindeutige Handbewegung, ein Schritt auf sie zu, ein Wort. Sie stemmt nun die Hände in die Hüften, schlanke Hände mit kunstvoll bemalten Nägeln und etlichen Ringen und deutet damit eine gewisse Ungeduld an. Sie ist irritiert, weil er offensichtlich immer noch nicht so recht weiß, dass auch er will. Dieser Lahmarsch, dieser Penner, denkt sie, traut sich einfach nicht am helllichten Tag.

    Auch der Mann weiß, dass er sich entscheiden muss, dass er nicht ewig so dastehen und dieser Frau nachsehen kann. Soll er sie ansprechen, soll er auf ihre eindeutige Aufforderung eingehen? Sie will doch, dass er mitgeht, irgendwo hin, in ein abgedunkeltes Zimmer, in ein billiges Hotel oder in eine Absteige, für eine halbe Stunde oder noch weniger. Sie will, dass er mitkommt, sie will sein Geld, das ist doch klar, nicht ihn, nur sein Geld und eigentlich will er auch, seine Hormone, die in ihm wallen, drängen. Aber es geht nicht, nein, jetzt geht es nicht, denn eigentlich hat er gar keine Zeit für so was, für so eine. Er schaut auf seine Omega. Es ist kurz vor vier. Okey, er hat noch ein wenig Zeit, um diese Frau noch ein Weilchen anzuglotzen, aber nicht genug, um mit ihr zu gehen, nicht, um das zu machen, was sie will, was er will, was beide wollen. Denn eigentlich ist er auf dem Weg zum Bahnhof, um seine Frau abzuholen. Er muss nur noch durch die Unterführung zu den Gleisen und dann auf den Bahnsteig. Es ist nicht mehr weit, keine fünf Minuten. Er hatte seiner Frau dummerweise versprochen, selbst zu kommen, statt ihr zu sagen, sie solle ein Taxi nehmen. Seine Frau verlässt sich darauf, dass er sie abholt. Er kennt sie ja zu genüge, sie legt großen Wert auf solche Dinge, abgeholt oder weggebracht, begrüßt oder verabschiedet zu werden. Diese Rituale sind immer noch wichtig, obwohl es sonst nicht mehr zum allerbesten steht zwischen ihnen beiden. Aber das erwartet sie jetzt, sie wartet auf ihn und er muss rechtzeitig am Zug sein, sonst gibt es Ärger und Ärger kann er sich nicht leisten, nicht mit seiner Frau. Schade. Tschüss Schokomietze.

    Er dreht sich langsam um, setzt seinen Weg fort in Richtung Bahnhof, aber seine Gedanken kreisen nur noch um die Schokomietze, die so verführerisch, so verdammt verführerisch da stand und wohl immer noch da steht und ihn einlädt, sie am hellen Nachmittag zu vernaschen. Er schaut noch einmal auf die Uhr, immer noch kurz vor vier, wie könnte es auch anders sein. Dann merkt er, dass er das Handy immer noch in der Hand hat. Was wollte er eigentlich? Die Uhrzeit kannte er doch. Ach ja, den Bahnsteig, den kannte er noch nicht. Doch anstatt das Handy nun zu benutzen, dreht er sich im Gehen noch einmal kurz um, ein letzter Blick, ein letztes kurzes visuelles Vergnügen und tatsächlich wartet sie immer noch, mittlerweile ein Dutzend Meter entfernt. Soll sie warten, diese schwarze Nutte, denkt er, die ja doch nichts anderes will, als ihn zu verführen, abzuschleppen und vermutlich auch auszunehmen. Das tun doch solche Weiber. Die stellen sich doch nicht bei dieser elenden Affenhitze auf die Straße, nur um ein paar müde Euro zu kassieren. Die wollen doch mehr als ein paar Kröten für eine schnelle Viertelstunde. Warum treibt sie sich um diese Zeit überhaupt hier herum? Abends, nachts, ja, okey, da verirren sich schon mal ein paar Bordsteinschwalben auch in diese Gegend, obwohl sie es nicht dürften, aber das einschlägige Viertel ist ja ganz nahe. Dort sitzen sie in den Bars, stehen an den Straßenecken und in den Hauseingängen. Aber jetzt, hier? Am helllichten Tag, am sonnigen Nachmittag, direkt hinter dem Bahnhof? Wenn die Polizei merkt, dass sie Passanten anmacht, ist sie rasch weg, ganz fix geht das, und wenn die sehen, dass er mit ihr anbandelt, kriegt auch er noch Ärger. Aber den Cops ist es jetzt auch zu heiß. Die kommen bestimmt nicht. Überhaupt, was glaubt die eigentlich, wer um diese Zeit Lust auf sie hat.

    Doch während die eine Hirnhälfte alles zusammenkramt, was gegen eine schnelle Viertelstunde spricht, fragt die andere „warum eigentlich nicht". Er bleibt stehen. Wenn ich mich beeile, könnte es doch etwas werden mit der halbbitteren Schokolade. Aber wirklich maximal eine Viertelstunde, ein rascher Quickie, mehr geht nicht und dann zurück im Schweinsgalopp und auf den Bahnsteig. Dabei wird es ihm bestimmt noch heißer, erst diese vermaledeite Sommerhitze, dann das heiße Weib, das wilde Kopulieren auf dem heißen Bett und anschließend zum Bahnhof rennen, damit er noch rechtzeitig ankommt. Sein Frau wird auf jeden Fall merken, dass mit ihm etwas nicht stimmt, dass er sich verausgabt hat, total verschwitzt sein wird. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, will zugleich auch seine Gedanken wegwischen, aber er kann nicht verhindern, dass sie pendeln, zwischen Zug und Schoko, hin und her, zwischen Pflicht und Verlangen. Was soll der Quatsch, sagt die Kontra-Hirnhälfte. Du hast doch gar keine Zeit. Der Zug kommt um halb fünf und jetzt ist es schon gleich vier. Wann war das noch genau? Sechzehn Uhr dreiunddreißig? Ja, sechzehn Uhr dreiunddreißig, nur das Gleis musste er noch nachschauen. Also noch eine gute halbe Stunde. Du musst pünktlich da sein, unbedingt. Quatsch, sagt

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