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Unterwegs zu Sándor: Erzählungen
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eBook245 Seiten3 Stunden

Unterwegs zu Sándor: Erzählungen

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Über dieses E-Book

Wenn Jani, der Ich-Erzähler, in Ungarn, Tschechien und Israel allein, mit Carola oder Ines unterwegs ist, um Geschehnissen nachzuspüren, die in einen neuen Roman einfließen könnten, begegnet er an Orten, die ihm magisch erscheinen, wirklich oder vorgestellt Menschen, mit denen sich für ihn Liebe und Hass, Freundschaft und Feindseligkeit, Beglückung und Trauer verbinden. Während er, auf unterschiedliche Weise daran erinnert, vieles von dem, was ihm in zügellosen Zeiten widerfahren ist, noch mal durchlebt, kommt ihm immer öfter Sándor in den Sinn, der sich, wie er im Dorf am Rande der Puszta geboren, im Frühjahr 1944 als Einziger aus dem scharf bewachten Judenzug zu fliehen wagte.
Um zu erfahren, was aus ihm geworden ist, besucht er ihn schließlich mit Ines weit über Haifa in seinem auf einem Hang des Karmel erbauten Haus. Wird Sándor, der lange an der nahen Universität gelehrt hat, bereit sein, von sich preiszugeben, was Jani wissen müsste, um über ihn schreiben zu können?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum2. Juli 2018
ISBN9783742732620
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    Buchvorschau

    Unterwegs zu Sándor - Rainer Schulz

    HERBST IN BUDAPEST

    An diesem frühen Oktoberabend wird mir erneut bewusst: Ich bin nie bloß dort, wo ich mich aufhalte. Ausgelöst durch einen unverhofften Reiz, eine jähe Erinnerung, ein Bild, ein Foto, einen Geruch oder einst gehörte Worte, entführen mich meine Gedanken in andre Gegenden, Zeiten und Verhältnisse.

    Während der Zug, nur noch ein Stück vom Keleti-Bahnhof entfernt, aus unersichtlichen Gründen hält, verspüre ich Durst wie Carola. Doch wir haben schon lange alles ausgetrunken. Auch an jenem fernen Tag, als der Güterwaggon, in dem ich zwischen Großmutter und meinen Eltern auf unsren Bündeln hockte, mit den übrigen Wagen unweit auf ein Abstellgleis geschoben wurde, waren sämtliche Flaschen, in die Mutter Wasser oder Tee gefüllt hatte, bereits geleert.

    Mir ist, als sei es gestern geschehen: Morgens hatte ich mit Edit vor unsrem Haus gehockt und aus der nahen Cukrászda geholtes Eis gegessen. Die Gendarmen, die straßenabwärts in Häuser gingen, bemerkten wir erst, als die vordersten keinen Steinwurf mehr von uns entfernt waren. Was folgte, gerinnt zu Bildern, die rasch wechseln, als würden sie von fahrigen Fingern bewegt: der ungarische Gendarm, der uns zum Packen zwang, Mutters Ohrringe einsteckte und meine neue Schultasche nahm, die große Wassermelone, die, von mir zum Kühlen hinabgelassen, im Ziehbrunnen zurückblieb, der Lastwagen, auf den wir unsre Bündel hoben, Edits verstörtes Gesicht hinter der Gardine, das im Staub, der beim Anfahren emporstob, versank wie alles ringsum.

    Als ich merke, wie der Zug langsam anrollt, erscheint mir meine Kehle trocken wie im stickigen Waggon auf dem Abstellgleis. Ich hatte damals versucht, mich abzulenken, indem ich die Lichter, die zwischen den ein Stück geöffneten Schiebetüren auf dem Bahngelände flimmerten, zu zählen begann. Aber es half nichts, mein Durst verschlimmerte sich und narrte meine Sinne. Während meine pelzige Zunge über die spröden Lippen leckte, glaubte ich, die Melone aus dem Ziehbrunnen aufgeschnitten vor mir zu sehen, und ich malte mir aus, wie erlösend es wäre, in ihr saftiges Fruchtfleisch beißen und die rote Flüssigkeit, die sich in der hohlen Schale sammelte, trinken zu können.

    Wenngleich ich nur teilweise aufnahm, worüber sich die zwei Dutzend Leute, die mit im Waggon waren und wie wir auf Bündeln lagerten, gedämpft unterhielten, spürte ich ihre Unruhe. Alle beschäftigte, wohin man uns bringen würde. Nach Bayern, wie den ersten Transport aus unsrem Dorf? Nach Sachsen, weil die Amerikaner, wie gemunkelt wurde, niemand mehr aufnehmen wollten? Oder vielleicht sogar nach Russland? Brauchte man uns dort für „malenkij robot" wie die Männer und Frauen, die vor mehr als zwei Jahren ins Ungewisse verschleppt worden waren?

    Während Carola mich an der Schulter berührt, bin ich rasch wieder in der Gegenwart. Ich helfe ihr in den Mantel und hebe unser Gepäck aus der Ablage. Unterwegs zur Tür empfinde ich meinen Durst schwächer. Ist es, weil ich damit rechne, bald etwas zu trinken?

    Kaum sind wir ausgestiegen, erfasse ich, dass es auf dem Bahnsteig anders ist als sonst. Ich sehe weder Frauen, die auf Schildern, die sie beflissen so hoch wie möglich aus der Menge halten, preiswerte Unterkünfte feilbieten, noch werden wir von Taxifahrern bedrängt, die marktschreierisch ihre Dienste antragen wie einst Scherenschleifer, Lumpensammler, Kesselflicker und Besenbinder in unsrem Dorf.

    Die Leute, zwischen denen wir den Bahnhof verlassen, reden kaum miteinander. Manche wirken regelrecht bedrückt, und einige verharren auf der Außentreppe, als seien sie sich nicht schlüssig, wohin sie sich wenden sollen. Auch der ältere schmächtige Mann, der neben seinem Taxi steht, kommt mir verunsichert vor. Nachdem ich ihm unser Ziel genannt habe, erwidert er, dass es Probleme gebe. Vielleicht sei ein junger Kollege bereit, uns zu fahren. Der löst sich, sobald er uns bemerkt, aus der Gruppe, wo einer den Übrigen, unterstützt durch häufige Gesten, etwas erzählt, das sie, wie es scheint, noch erregter werden lässt.

    Es seien große Umwege notwendig, sagt der Mann, der eine abgeschabte braune Lederjacke trägt. Deshalb koste es fünfunddreißig Euro. Als er merkt, dass es uns zu viel ist, zuckt er mit den Schultern und will sich wieder zur Gruppe begeben. Doch dann dreht er sich um, kommt einen Schritt zurück und rät uns, die Metro zu benutzen. Mit ihr kämen wir am sichersten auf die andre Seite.

    Wir können sofort an den Fahrkartenschalter, und auf dem Bahnsteig warten nur wenige Menschen, von denen vier mit uns in einen Wagen steigen. Obwohl sämtliche Sitzplätze frei sind, bleiben die andern stehen, halten sich an den Obergriffen fest, ziehen ihre Köpfe zwischen die Schultern und blicken unstet, als seien sie sich einer Gefahr bewusst, die wir noch nicht kennen. Doch bald befällt auch uns Sorge, weil wir zu ahnen beginnen, dass alles, was uns seit der Ankunft verwundert oder befremdet hat, miteinander zusammenhängt. Vor den Stationen, die folgen, verringert der Zug seine Geschwindigkeit, hält aber nicht, sondern rollt langsam an den gespenstisch leeren Bahnsteigen vorbei, dass sich mühelos die Namen auf den Tafeln lesen lassen: Blaha Lujza tér, Astoria, Deák Ferenc tér, Kossuth Lajos tér.

    Ich merke, dass Carola näher an mich heranrückt. Es ist, denke ich, ähnlich wie in jener Augustnacht. Damals saß dicht neben mir Anke, und die S-Bahn fuhr vom Bahnhof Zoo nach Osten. Wir waren, vom Zelten an einem mecklenburgischen See heimwärts unterwegs, für ein paar Stunden in der geteilten Stadt geblieben, hatten den demokratischen Sektor verlassen und in einem Kino am Kudamm für das eins zu fünf getauschte Geld den Film gesehen, in dem amerikanische Jugendliche, von ihren Eltern unverstanden, nicht so recht wissen, was sie mit sich und ihrem Leben anfangen sollen. Ihre innere Leere weckt Sehnsüchte, die sich nicht erfüllen. Die Unzufriedenheit, die daraus erwächst, löst Gedanken aus, die zu gefährlichen Handlungen werden: In einer Szene rollten zwei von ihnen ganz, ganz langsam, damit sich der Nervenkitzel bis zum Äußersten steigerte, in gestohlenen Autos an einen Abgrund heran, um Mann gegen Mann den als Sieger zu ermitteln, der, ehe die Fahrzeuge unrettbar in eine Schlucht sausten, als Letzter heraussprang.

    Obwohl die Spätvorstellung bis ein Uhr gedauert hatte, waren wir, durch den Film aufgewühlt, noch hellwach. Deshalb spürten wir rasch, dass fast alle, die im Wagen saßen, angespannt wirkten. Sahen sie etwas durchs Fenster, das sie verstörte? Als auch ich mein Gesicht an die Scheibe presste, meinte ich, im ungewissen Licht, das da und dort aus matten Lampen sickerte, verschwommene Gestalten zu erkennen, die sich geschäftig bewegten.

    Morgens in Görlitz angekommen, erfuhr ich aus dem Radio, dass meine Sinne mich nicht getäuscht hatten. Es sei, wurde gemeldet, um uns zu schützen, damit begonnen worden, einen Wall zu errichten, der hinter vorgehaltener Hand bald Mauer heißen würde. Ich begriff sofort, dass plötzlich alles anders war, wir eine Gelegenheit verpasst hatten, die vielleicht lange nicht wiederkehrte.

    Als die Bahn zum ersten Mal hält, schrecke ich auf. Wir sind, erfasse ich, unter der Donau hindurch, wie vom Taxifahrer vorausgesagt, ungehindert bis Buda gelangt. Wenig später steigen wir am Moskva tér in eine Straßenbahn um und erreichen nach zwei Haltestellen unser Hotel. An der Rezeption dauert es nicht lange, der Lift bringt uns schnell nach oben, und im Zimmer erfahren wir aus dem Fernseher, weshalb von der Polizei so viele U-Bahn-Stationen gesperrt worden sind. Durch wiederholte Vorkommnisse in den letzten Wochen erschreckt, hat man befürchtet, es könne auch während der Veranstaltung, in der an den Beginn des Volksaufstands vor fünfzig Jahren erinnert werden soll, zu Ausschreitungen kommen. Doch keiner hat wohl geahnt, dass sie so rüde sein würden, wie es die ausgestrahlten Bilder zeigen. Ich bin froh, dass wir nicht in der aufgebrachten Menge sind. An dem Junitag jedoch, als wir den sechsten Sommer in Görlitz erlebten, war ich mitten hineingeraten. Schon im Klassenzimmer, wo wir an einem Aufsatz schrieben, hörte ich den Rumor, der von irgendwo draußen zu uns drang. Als wir später, neugierig darauf, was sich ereignete, aus der Schule eilten, flutete eine Unzahl erregter Menschen durch die Straßen. In ihren Strom geraten, und mit Tom von den andren getrennt, wurden wir gestoßen und gerempelt, schnappten Satzfetzen auf: „Fast alle streiken. – „Das kann nicht gut gehen. – „In der Kreisleitung hat man sich verschanzt. – „Nun wird abgerechnet!

    Als wir einen Durchgang passierten, bemerkte ich, wie drei Männer einen Polizisten in eine Wandnische drückten. Sie rissen ihm die Schulterstücke ab, drehten seine Arme auf den Rücken, zerrten ihm die Mütze übers Gesicht und schlugen darauf.

    Geschlagen, gestoßen, getreten wird auch auf dem Bildschirm. Carola beobachtet es, scheint mir, befremdet wie ich. In den Gesichtern, die im Schwenk der Kamera auftauchen, meine ich, flüchtig zu erkennen, was die empfinden, die Gewalt ausüben, und jene, die sich wehren, sich und andre zu schützen versuchen. Fünfzig Jahre vorher wurde an gleicher Stelle geschossen, rollten russische Panzer durch die Straßen, erstickten sämtliche Freiheitsrufe, brachen jeglichen Widerstand. Es gab auf beiden Seiten zahlreiche Opfer. Insgesamt über fünftausend. Und vierzig Mal so viel verließen über Österreich oder Jugoslawien das Land, in dem sie nicht bleiben wollten. Von denen, die ich im Dorf gekannt hatte, gehörten Ildikó und Sebastian dazu. Sie flüchtete zu Sándor nach Haifa, er noch weiter bis zu den Blauen Bergen.

    Schon im Bett, umgeben von Stille und Dunkelheit, denke ich: Warum es seinerzeit – hier wie in Görlitz – zum Aufruhr kam, ist leicht nachzuvollziehen. Weshalb man eine Gedenkveranstaltung, die dazu dienen sollte, frühe Vorkämpfer für inzwischen Erreichtes zu ehren, entweiht und missbraucht hat, ist schwer zu verstehen. Was sind das für Leute, die begonnen haben zu schlagen, zu treten, zu stoßen? Sind sie von welchen, die selbst nach Macht streben, verhetzt und aufgewiegelt worden, um sie für die eigenen Ziele auszunutzen? Oder ergeht es ihnen wie den amerikanischen Jugendlichen aus dem Film? Vermögen sie nichts Sinnvolles mit ihrem Leben anzufangen, weil sie die Chancen, die sich ihnen bieten, nicht wahrnehmen wollen? Suchen sie die Schuld für ihre innere Leere, aus der früher oder später Unzufriedenheit erwächst, die oft zu unüberlegtem Verhalten führt, ausschließlich bei andern?

    Ehe ich eine Antwort finde, überwältigt mich, erschöpft durch die vielen Eindrücke, der Schlaf.

    Am Morgen erwache ich erst, als Carola schon im Bad ist. Ich stehe auf, schiebe die Übergardine beiseite und öffne das Fenster. Die Sonne scheint von einem hellblauen, fast wolkenlosen Himmel, der auch an den folgenden Tagen so bleiben wird.

    Was in mein Gesichtsfeld rückt, erinnert mich an Haifa. Hier erheben sich unweit die Ofner Berge, dort sah ich vom 14. Geschoss unsres Hotels, das im Stadtteil Hadar Hacarmel steht und mich an einen aztekischen Teocalli erinnerte, die mit Pinien bewachsenen Hänge des Karmel. Weit oben, nur wenige Steinwürfe von der Universität entfernt, an der Sándor gelehrt hat, fanden wir das Haus, in dem er mit Ildikó wohnt. Wir hatten weder ihn noch sonst etwas zielgerichtet gesucht, sondern waren, abseits von den Stellen, wohin Fremde gewöhnlich geführt werden, unsren Eingebungen gefolgt, mal meinen, mal denen, die Ines hatte, weil wir glaubten, auf diese Weise am ehesten unverfälschte Einsichten zu gewinnen.

    So wollen wir es auch jetzt halten. Carola denkt wie ich, dass sich, was andre im Gefolge bezahlter Begleiter auf überfüllten Plätzen suchen, zu zweit in abgelegenen Straßen eher finden lässt.

    Nach dem Frühstück, das reichlich, aber einfallslos ist, verlassen wir das Hotel. Wir schlendern durch einen nahen Park in Richtung Moskva tér. Aus den Baumkronen tröpfelt Nässe, von Zweigen, die im leichten Wind zittern, lösen sich welke, vergilbte Blätter und trudeln lautlos herab. Als wir einen großen runden Platz überqueren, sehen wir auf mehreren Bänken Stadtstreicher liegen. Mit Folie oder Zeitungen zugedeckt, scheinen die meisten noch zu schlafen. Nur nahe der Stelle, wo unser Weg weiterführt, hat sich einer aufgesetzt. Ohne uns zu beachten, zieht er eine kleine, flache Flasche aus seinem arg verschlissenen Jackett, öffnet ihren Verschluss, trinkt genussvoll zwei Schlucke und wischt sich mit dem Handrücken über die Lippen, ehe er in die nahe an seinen Körper gerückte Plastiktüte blickt. Während er nach etwas kramt, beginnt er, erregt zu brabbeln. Es klingt, als schimpfe er auf Gott und die Welt.

    Mit seinem wirren Haar und dem dichten, struppigen Bart ähnelt er dem Obdachlosen, der in Jena öfter durch unser Wohngebiet stromert und die Deckel der Mülltonnen hebt. Niemand kümmert sich um ihn. Jeder ist bestrebt, an dem zerlumpten Mann, der gewöhnlich, als schäme er sich, seinen Blick abwendet, so schnell wie möglich vorbeizukommen. Es scheint fast, als fürchte man, sein Elend könne anstecken. „Oder will man, hat Carola mal gefragt, „nur nicht sehen, was in großen Städten traurige Wirklichkeit ist?

    Auch jetzt fühlen wir uns besser, als der brabbelnde Mensch, der sich schon morgens mit Palinka tröstet, auf seiner Bank zurückbleibt. Ohne uns abzusprechen, wenden wir uns, sobald der Park endet, nach rechts, gehen unterhalb der Burg durch Straßen und Gassen, gelangen neben dem Donauufer, ohne es zu beabsichtigen, an den Fuß des Gellért-Bergs und stehen unver­mittelt vor der Felsenkapelle, die zum nahe gelegenen Kloster der Pauliner gehört. Die Stille darin ist angenehm. Während wir es empfinden, kommt mir in den Sinn, dass wir vielleicht auf der Budaer Seite geblieben sind, um nicht in die Nähe des Parlaments zu gelangen, wo man sich gestern Abend so erbittert geschlagen hat.

    Wieder im Freien, schauen wir eine Weile zu dem im Jugendstil errichteten Gebäude des Gellért-Bads, in das wir an einem der nächsten Tage, wie von Ines empfohlen, gehen wollen. Dann wenden wir uns nach rechts und laufen über gepflegte Wege und steile Treppen aufwärts. Es ist, denke ich, ein bisschen wie in Görlitz, als Großmutter Gertrud mit mir vor langer Zeit zum ersten Mal die Landeskrone bestieg. Dort bewegten wir uns unter alten Buchen, deren dichte Kronen sich wie Schirme über uns breiteten und nur selten eine Lücke ließen, durch die wir ins Tal sehen konnten. Hier wird unsre Sicht lediglich von einzelnen Bäumen und Ziersträuchern, die auf den steinigen Hängen wachsen, für kurze Zeit beeinträchtigt. Wenn der Weg nahe zur schroffen Felswand führt, die an manchen Stellen fast senkrecht abfällt, können wir ungehindert die tief unter uns liegende großflächige, vielgestaltige Stadt betrachten, und Carola bemüht sich, Örtlichkeiten zu erkennen, die wir bei früheren Aufenthalten besucht haben. Mein Blick, wird mir bewusst, reicht weiter als in Haifa, wo sich Tag für Tag eine bläuliche, aus Auspuffgasen gewobene Dunstglocke über Straßen, Plätze, Parkanlagen und den Hafen legte.

    Auch von der Landeskrone, denke ich, hatten wir eine gute Aussicht. Ich stand neben Großmutter und stützte mich auf die brusthohe, vielfach von schmalen Schießscharten unterbrochene Umfassung des einstigen Wachtturms. Wir versuchten zu bestimmen, wo wir wohnten, ohne dass es uns sicher gelang. Nur die Kirche, in der wir vormittags gewesen waren, entdeckten wir mühelos, ebenso das Rathaus, den Bahnhof und die Waggonbaufabrik, wo Vater arbeitete.

    Als mehrere Leute hochkamen und sich neben uns drängten, stiegen wir hinab und setzten uns auf eine versteckte Bank, die ich von oben erspäht hatte. Vor und neben ihr wucherte dorniges Gestrüpp. Aber wenn wir die Köpfe reckten, sahen wir fast so viel wie vom Turm.

    Vor langer Zeit, sagte Großmutter nach einer Weile, habe sie, fern von hier, auf einem ähnlichen Felsen gesessen. Die Stadt unter ihr habe sich bis zum Horizont gedehnt. Auf dem breiten Strom, der sie durchfließe, seien unsre Vorfahren auf plumpen, Ulmer Schachteln genannten, Schiffen ins dünn besiedelte Land gekommen, um Siedlungen zu gründen, Wälder zu roden und Felder anzulegen. Sicher errate ich nun, wo sie gewesen sei.

    „Du warst in Budapest?", fragte ich.

    „Nur drei Tage", erwiderte sie, als sie Eva, eine mit ihrem Mann in die Hauptstadt gezogene Cousine besucht habe. Sie sei mit der U-Bahn und auf der Donau gefahren sowie an vielen Stellen gewesen: im Burgviertel, im Zoo, auf dem Heldenplatz, der Margareteninsel, dem Gellért-Berg. In drei, vier Jahren habe sie von unsrem Dorf aus mit mir hingewollt, um mir zu zeigen, was ihr einst gezeigt worden sei. Nun müsse ich später, falls sich die Verhältnisse ändern, ohne sie hin. Doch vielleicht werde ich sie in meinen Gedanken mitnehmen.

    Sie wird uns, denke ich, wie bereits früher, wenn wir mit Ines oder zu zweit wie jetzt in der Stadt waren, überallhin begleiten. Diesmal jedoch wohl nicht allein. Wahrscheinlich gesellen sich, einmal in meine Überlegungen geraten, Ildikó und Sebastian hinzu, durch die wir, wären sie tatsächlich anwesend, viel über die Stadt und das, was sie hier erlebt haben, erfahren könnten. Aber dann sind sie, mal einzeln, mal gemeinsam, nur stumm und unsichtbar dabei, wenn wir im „Gerbeaud, im „Ruszwurm oder im „Bagolyvár" sitzen, von der Fischerbastei zwischen Deutschen, Franzosen, Japanern, Briten, Russen und Italienern aufs gegenüberliegende Parlament blicken, durchs malerische Szentendre bummeln, Galerien betreten und in Läden, in die uns ungewöhnlich gestaltete Schaufenster locken, nach Geschenken Ausschau halten, von einer Bank, die im Hof der märchenhaften Burg Vajdahunyad unter einer uralten Platane steht, zum Denkmal des Anonymus sehen, während wir einem ganz in sich und sein Tun versunkenen Harfenspieler zuhören, uns durch die Oper mit ihrem prächtigen Vestibül führen lassen und die Loge der Kaiserin Sissi besichtigen, neben der Donau auf dem Belgrád rakpart spazieren und verfolgen, wie wendige Schiffe übers glitzernde Wasser gleiten, in der großen, nahe der Szabadság hid gelegenen Markthalle die Fülle von Früchten, Gemüse, Fleisch, Fisch, Honig und Gewürzen bestaunen, irgendwo Lángos, Palacsinta, Halászlé, Pörkölt, Krémes, Dobostorta oder Somlói galuska essen, uns im prallen Sonnenschein, der die Quecksilbersäulen fast täglich bis 25 Grad Celsius klettern lässt, auf eine Bank am Rande des Stadtwäldchens setzen und zusehen, wie Jugendliche auf einer beschatteten künstlichen Eisfläche Schlittschuh laufen, durch die Váci utca schlendern, von Kellnern in Restaurants gebeten werden oder im Passantenstrom verheißungsvolle Werbezettel zugesteckt bekommen, auf dem Vörösmarty tér lange inmitten

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