Bahnhofsjunge
Von Paul Czervan
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Über dieses E-Book
Paul Czervan
Paul Czervan wurde am 21. Oktober 1931 in Kellersberg geboren. Er wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf und musste bereits früh als Aushilfe bei einem Bauern und in einer Textilfabrik arbeiten. Er absolvierte eine Ausbildung zum Schlosser. Für viele Jahre arbeitete er im Bergbau unter Tage und als Hochspannungsmonteur, ehe er nach erfolgreichen Aus- und Weiterbildungen bis zum Eintritt in den Ruhestand als Bäderleiter in diversen Kurorten tätig war.
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Buchvorschau
Bahnhofsjunge - Paul Czervan
entdeckt
***
Bis ins Alter von dreieinhalb Jahren kann ich mich an meine Erlebnisse zurückerinnern. Wir wohnten ins Alsdorf bei Aachen. Dort steht noch heute mein Geburtshaus.
Nicht weit von unserer Wohnung gab es ein Spielwarengeschäft mit einer sehr großen Schaufensterauslage, in der neben einer Burg mit Zinnsoldaten eine elektrische Eisenbahn aufgestellt war.
Nachmittags wurde die Anlage eingeschaltet. Plötzlich erwachten die Figuren auf dem kleinen Bahnhof aus ihrer Starre und begannen sich zu bewegen. Dabei mussten sie sich nicht etwa aufraffen; sie zeigten sich agil, als hätten sie überhaupt nicht geruht. Den Bahnhofsvorsteher mit seiner roten Mütze auf dem Kopf, der die Kelle in seiner Hand schwenkt, als ein Personenzug in den Bahnhof einfährt, habe ich mir im Gedächtnis bewahrt. Einige Fahrgäste, zumeist mit Gepäck, warten auf dem Bahnsteig, während auf einem weiteren Gleis ein Güterzug den Bahnhof passiert.
Oft habe ich dort gemeinsam mit anderen Kindern vor dem Fenster gestanden und begeistert zugeschaut. Meine Eltern waren zu dieser Zeit sehr arm und konnten mir und den zwei kleinen Geschwistern keine Spielsachen kaufen. Wenn ich nicht gerade auf meine Geschwister aufpassen musste, lief ich nachmittags zum Spielwarengeschäft. Meine Eltern wussten aber immer, wo ich war.
Meine Mutter betitelte mich schon früh mit „Mein Großer, was mich sehr stolz gemacht hat. Nicht selten sagte sie: „Mein Großer, pass mal auf die Kleinen auf.
So lernte ich schon in jungen Jahren, Verantwortung zu übernehmen. Das hat mich für mein Leben geprägt. Ich habe während dieser Jahre ein Beschützerbewusstsein für die „Kleinen" entwickelt, wie so viele Andere während dieser und zu jeder anderen Zeit, die als ältestes Kind geboren wurden.
Als ich acht Jahre alt war, bekam mein Vater nach drei Jahren Arbeitslosigkeit eine Anstellung auf einer Kohlengrube im 30 Kilometer entfernten Ratheim. Wir zogen in eine Bergmannssiedlung.
Am Tag des Umzugs wurden unsere Habseligkeiten auf einen offenen LKW verladen und wir drei Kinder anschließend oben drauf. Die Fahrt zur neuen Wohnung war ein Abenteuer, als wir aber angekommen waren, durfte ich mich zunächst, solange, bis alles eingerichtet war, nicht entfernen.
Da ich Schulferien hatte, nutzte ich bereits am folgenden Tag die freie Zeit, die Gegend zu erkunden. Zwischen der Siedlung, in der wir nun wohnen würden, und dem eigentlichen Dorf verlief eine Eisenbahnlinie. Als ich am Saum der Siedlung den Schienen folgte, kam ich bald an einen schönen und nach meiner damaligen Einschätzung schon etwas größeren Bahnhof. Gern hätte ich mich weiter vorgewagt, aber der Jägerzaun, vor dem ich eine Weile stand, um das Geschehen zu beobachten, flößte mir ausreichend Respekt ein, und so machte ich mich ein wenig unwillig auf den Heimweg.
Schon mein zweiter Tag bescherte mir die Bekanntschaft eines Jungen, der in unserer Straße wohnte. Er kannte sich gut aus, und als ich ihm von meinen ersten Eindrücken berichtete und von dem entdeckten Bahnhof schwärmte, winkte er mir, ihm zu folgen. Mit ihm voran traute ich mich nun über den Zaun.
Einen Bahnhof in Miniatur kannte ich ja bereits, umso mehr erstaunte mich hier die Imposanz der Gebäude und Anlagen in voller Größe. Wir waren noch nicht lange dort, als mich mein neuer Freund auf ein Signal aufmerksam machte, das die bevorstehende Einfahrt eines Zuges ankündigte.
Mit pochendem Herzen schaute ich in die Richtung, aus der der Zug kommen sollte, bis er nach etwa zwei Minuten tatsächlich einfuhr. Zum ersten Mal in meinem noch jungen Leben sah ich eine richtige Lokomotive und staunte und schluckte und fühlte, wie sich meine Wangen vor Erregung röteten. Das kalte, metallische Quietschen der Bremsen, das Zischen beim Ablassen des Dampfes, die prächtige Wolke aus Wasserdampf, das Schlagen der Türen beim Öffnen und das hektische Treiben der Fahrgäste, die Einen, die herausquollen aus dem Zug, die Anderen schwer atmend das Gepäck in der Hand tragend; die darauf warteten, dass sich eine Lücke im Gedränge ergäbe, die eine Möglichkeit zum Einsteigen und zum Sichern eines guten Platzes bot. Das waren überwältigende Eindrücke, die auf meine Sinne einprasselten, und nicht zuletzt begeisterten mich die Trillerpfeife und die lautstarke Aufforderung des Vorstehers zum Einsteigen (mit einem befriedigenden Lächeln registrierte ich, dass er genauso aussah, wie das kleine Männchen in der Schaufensterauslage). Er gab den letzten Hinweis, dass sich die Türen schließen würden, und fast zeitgleich erschallte eine Stimme aus einem Lautsprecher. Sie gab - vermutlich für alle Zurückgebliebenen, die ihre Leute zum Zug gebracht hatten - bekannt, welches Ziel der ausfahrende Zug hatte, und welche Orte er auf seinem Weg passieren würde.
Die Lokomotive setzte sich mit den anhängenden Waggons schwerfällig in Bewegung. Ich schaute ihm so lange nach, bis er aus meinem Blickfeld entschwunden war. Als ich meinen neuen Freund fragend ansah, weil wieder ein Signal ertönte, klärte