Auf den Hund gekommen: Beobachtungen eines streunenden Hundes in einer schweizerischen Kleinstadt
Von Georg Aeberhard
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Über dieses E-Book
Georg Aeberhard
Georg Aeberhard? Ein Asylant in der Schweiz, ein eingebürgerter Schweizer (1988), ein ausgebürgerter Prager (1988), ein wieder eingebürgerter Prager (1990), ein Auslandschweizer (1997-2009), einer, der in Solothurn gestrandet ist. Jiri Havrda aka Georg Aeberhard war Drehbuchautor, Filmegisseur, Galerieinhaber in Prag und in Solothurn (galerie9.com). Georg Aeberhard ist ein Pseudonym, das Jiri Havrda als Schriftsteller seit 2017 verwendet; er schreibt auf Englisch ("Rien Ne Va Plus") oder auf Deutsch ("AUF DEN HUND GEKOMMEN", I - III.)
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Buchvorschau
Auf den Hund gekommen - Georg Aeberhard
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Streunender Hund
"Ich habe mir den Himmel immer wie eine große
Bibliothek vorgestellt."
Jorge Luis Borges
Streunender Hund
„… ich sage mir, von nun an, mein Lieber, bist du auf dich allein gestellt, du musst dich selber zwingen, damit du unter die Leute kommst, du musst dich selber bei Launen halten, du musst dir selber was vorspielen, bis du dich selbst verlassen hast, denn ab jetzt rotieren nur noch die melancholischen Kreise, und so kommst du vorwärts und gehst zugleich zurück, ja, der Progressus ad origenem ist zu einem Regressus ad futurum geworden, dein Gehirn ist nichts anderes als mechanisch gepresste Gedanken. …"
Bohumil Hrabal
Ja, so weit ist es gekommen. Ich bin ein streunender Hund geworden, a stray dog
. Mein Blick ist gesenkt, manchmal hinter einer Sonnenbrille versteckt, manchmal knapp unter der Hutkrempe hervorlugend. Ich streife durch mein Revier auf eine instinktive Art und Weise, mit dem Aare-Flusslauf irgendwo in der Mitte. Und ganz gewiss bin ich von einem Fixpunkt angezogen: dem Offenen Bücherschrank
am rechten Quai, rive droite, oui, am Rande des hiesigen Boule-Spielfelds unter den Platanen. Der Bücherschrank ist wie eine Wundertüte, in der sich Schätze der Vergangenheit mit Überraschungen der Gegenwart vermischen - und auf mich warten. Der massive Metallschrank ist zugänglich von beiden Seiten, die Bücher sind nach dem Öffnen des jeweiligen verglasten Kippfensters greifbar. Das Fenster mache ich jedoch erst auf, wenn mir ein Buchtitel oder ein Autorenname ins Auge springt.
Aber zurück zum Anfang, wir sind noch lange nicht am Ziel, dem Offenen Bücherschrank
. Ein streunender Hund, das ist meistens ein Mann im Alter des Ablebens, d.h. mit weissem oder grau meliertem Haar oder auch kahlköpfig. Er mag Witwer sein, ein Geschiedener oder einer, dessen Frau ihm bereits zuvorgekommen ist und im Pflegeheim lebt. Das heisst aber nicht, dass so ein Hund ein Mann zum Abschreiben ist. Er mag das Leben, er streunt nicht nur der frischen Luft und der Bewegung wegen, sondern saugt alle möglichen Eindrücke ein sowie die eine Portion Sauerstoff, die er noch zum Leben benötigt (resp. zu Gute hat). Ich für mich kann sagen, mich treibt beim Streunen die Sucht nach Schönheit an. Ebenso stark nehme ich teil an allem, was in den Strassen und auf den Plätzen passiert. Ich fiebere mit, wenn ein Untoter
nicht nur ewig herumschleicht, sondern auf einem Elektro-Fahrrad vorbeiflitzt, während ein Kind daran ist, im Spiel vertieft, ihm über den Weg zu laufen. Mir tut es leid, wenn ich ein junges, übergewichtiges Mädchen sehe, das auch noch unterwegs essen muss und in engen anliegenden leggings steckt, die die Kilos zu viel wie an einem Michelin-Männlein zum Vorschein bringen. Gern würde ich es anhalten und fragen: Was ist? Ist es die Schilddrüse? Die Bulimie?…
Genauso gerne würde ich eine Frau fragen, warum sie so unmöglich gefärbte Haare trägt? Muss das sein? Hat sie denn keinen Spiegel? (Habe ich einen?…)
Die streunenden Hunde dieser Stadt und ihrer nahen Umgebung sind alle freundlich zueinander, es gibt keine Rayon-Streitigkeiten. Mit manchen wechselt man da und dort ein Wort, mit manchen grüsst man sich mit einem kaum merklichen Lidschlag, wie wenn man einen nicht in Verlegenheit bringen möchte, da man weiss, wie das Schicksal einem mitgespielt hat (oder noch mitspielen wird). Es gibt Passanten, die entschlossen vorwärts schreiten, in einer Art Trottschritt, andere humpeln wiederum, oder sie lassen die Füsse schlurfen; wenige sind wahre Flaneure, sich wiegend, kurz auf einem Fuss verweilend. Es gibt welche, die auf den Fussballen wippend gehen, leicht federnd, manche wiederum schleichen plattfüssig umher. Und ich? Je nachdem: mal sportlich wippend, mal einen Fuss vor den anderen setzend, am liebsten flanierend. Um aber wie ein Flaneur zu gehen, da braucht es die richtige Verfassung, das Gemüt muss in der Balance sein. Ebenfalls muss ich die passenden Schuhe anhaben, mit Ledersohlen und harten Absätzen, und das Wetter muss zumindest freundlich sein. Nachdem ich hinausgegangen bin, eben zu flanieren, muss ich zunächst die Schritte wieder üben, bis sie wie automatisch, einer dem anderen im richtigen Rhythmus folgen, wobei eben der eine Schritt, vom linken auf den rechten Fuss, etwas länger geraten muss.
So beobachte ich das Leben - ein Glückszustand. Es muss nicht immer ein Hund, ein Mensch sein, die da durch Solothurn flanieren; der Kater Otto, ein Prachtexemplar ganz Schwarz in Schwarz, pflegt ebenfalls über die Plätze und durch die Gassen zu streunen: majestätisch, eine Pfote vor die andere setzend, ganz Flaneur, absolut unbeeindruckt von äusseren Einflüssen.
Ja, und manch streunender Hund ist bereits auf einen Gehstock angewiesen. Oder sogar auf einen Rollator. Sie werden immer zahlreicher, diese Dinger, die Modelle variieren stark, es gibt auch welche mit Hundeabteil vorne dran. Den vierrädrigen Rollatoren mit Elektromotor weiche ich lieber weiträumig aus, ich traue den Fahrern nicht über den Weg. Ich habe sie im Verdacht, sie verwechseln sicher mal die Bremstaste mit derjenigen für das Gas.
Einer mit Gehstock, einem teleskopischen, ist hier in dieser Kleinstadt prominent: Peter Bichsel. Er mag vielleicht nicht, dass ich ihn unter unseresgleichen einordne, aber wir begegnen uns regelmässig und grüssen einander mit einem freundlichen, achtungsvollen Nicken, ohne je vorgestellt worden zu sein. Doch ja, einmal habe ich den Herrn Schriftsteller zumindest angesprochen. Da warteten wir auf dem gleichen Perron Richtung Zürich, an einem Nachmittag, nur wir zwei standen da, und als der Friedrich Dürrenmatt
einfuhr, fragte ich ihn, ob er bereits auch seinen Zug habe, einen Peter Bichsel
. Nein,
erwiderte er leicht düpiert, Ich lebe ja noch!
Aha, die Künstler müssen zuerst ableben, bevor die Bundesbahnen ihnen die Ehre erweisen, einen Schnellzug nach ihrem Namen zu benennen; Peter Bichsel würde wohl eher einen Bummelzug vorziehen.
Da unser Schriftsteller eigentlich als ein gemächlicher quasi Flaneur das Stadtbild bereichert, würde ich nicht nur einen Zug nach ihm benennen, sondern ein Denkmal meisseln, das ihn mitten in einem seiner Schritte festhält, den Blick seitwärts, auf Augenhöhe mit den Passanten. Das Denkmal wäre nicht glatt geschliffen, es wäre rau; aus einem weisslichen solothurnischen Jura-Kalk geschaffen - ein Urgestein.
Es gibt ebenfalls streunende Damen, aber von ihnen kann ich unmöglich als von streunenden Hündinnen sprechen, das wäre geschmacklos, nicht wahr. Diese Damen haben