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Zorniger alter Mann auf seinem Fahrrad bergab rollend: Eine Zukunft von gestern
Zorniger alter Mann auf seinem Fahrrad bergab rollend: Eine Zukunft von gestern
Zorniger alter Mann auf seinem Fahrrad bergab rollend: Eine Zukunft von gestern
eBook683 Seiten9 Stunden

Zorniger alter Mann auf seinem Fahrrad bergab rollend: Eine Zukunft von gestern

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Über dieses E-Book

In einer nicht allzu fernen Zukunft taucht ein alter Mann auf.
Seine verbalen Wutausbrüche sind schwer nachzuvollziehen.
Er wird erforscht. Ihm wird nachspioniert. Einige seiner Geheimnisse werden gelüftet. - Geschichten, Kunstwerke ...
Man freundet sich an.
Der alte Mann gibt weitere Geheimnisse preis, darunter sein größter Schatz. Und dann verschwindet er wieder.
So geht, kurz zusammengefasst, die Geschichte.
Es geht aber auch um Lebensentwürfe. Um Träume und Utopien des späten 20. Jahrhunderts. Es geht um ihre Begründungen und Verwirklichungen, um ihr Scheitern und um Untergänge in der sich über so vieles hinweg wälzenden Weltgeschichte.
Dies ist ein SF-Roman. Weniger im Sinne von Sience Fiction - Sience kommt tatsächlich wenig drin vor - als vielmehr im Sinne von Social Fiction. Ein Social Fiction-Roman.
Wer sich entscheidet dieses Buch zu lesen bekommt auf jeden Fall viel geboten: Abenteuer, Intrigen, Lieben, Hassen, Suaden, Sinnsuche ...
Aber das alles findet nicht in der Mitte der Gesellschaften statt, sondern immer an ihren Rändern.
Das Buch ist also voll von Außenseitern, Außenseiterinnen, Aussteigern, Aussteigerinnen, extremen Meinungen, romantischer Weltuntergangssehnsucht, bitterböser Satire ...
Wer sich von den radikalen Ansichten randständiger Menschen Aufschlüsse über den Zustand unserer Welt erwartet, wird hier fündig.
Wem sie vor allem lästig sind, der wird sich vor allem ärgern.
Aber auch das muss ja nicht vergeblich sein.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum16. Jan. 2018
ISBN9783746004488
Zorniger alter Mann auf seinem Fahrrad bergab rollend: Eine Zukunft von gestern
Autor

Andreas Kothe

Andreas Kothe, geb. 1963 in Bemen, aufgewachsen in Bergen (Kreis Celle), seit 1988 in Braunschweig, Studium an der Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel, Fachbereich Sozialwesen, Schwerpunkt: Alternative Lebensformen. Arbeitet als Marktverkäufer für eine Bioland-Hofgemeinschaft, als Putzmann und 'Mädchen für alles Mögliche' in einer Vollkornbäckerei. Außerdem als Thekenkraft in einem Jazzlokal und als freier Künstler.

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    Buchvorschau

    Zorniger alter Mann auf seinem Fahrrad bergab rollend - Andreas Kothe

    Weisheit blueht auf den Ruinen der Torheit.

    (aus einem Glückskeks der Firma Silk Road)

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort

    Erster Teil

    1. Kapitel

    2. Kapitel

    3. Kapitel

    4. Kapitel

    5. Kapitel

    6. Kapitel

    7. Kapitel

    Zweiter Teil

    8. Kapitel

    9. Kapitel

    10. Kapitel

    Dreimal Rache: Axel Krummbein

    Karnickel Joes Entdeckung

    Römertöpfe

    Under The Ivy

    (Ein Roman)

    Unteranderem: Guido Zeiß

    These

    Antithese

    Synthese

    11. Kapitel

    12. Kapitel

    13. Kapitel

    14. Kapitel

    15. Kapitel

    Ein kleines Armutszeugnis

    16. Kapitel

    17. Kapitel

    18. Kapitel

    19. Kapitel

    Motherland

    20. Kapitel

    21. Kapitel

    Dritter Teil

    22. Kapitel

    Vorwort

    Ein zorniger alter Mann.

    Auf einem Fahrrad.

    Bergab rollend.

    Langes aschgraues Haar im Wind.

    „Zorniger alter Mann auf seinem Fahrrad bergab rollend"

    Er stemmt die nackten, sehnigen Füße kräftig in die Pedale.

    Er hebt sich aus dem Sattel.

    Sein Oberkörper schwebt weit vorgebeugt über dem dahin rasenden schwarzen Rahmen des Rades.

    Er setzt sich wieder, richtet sich auf, lässt den Lenker los.

    Seine Stöckerarme kreisen. Er ruft etwas.

    Aber der Fahrtwind erfasst die Wörter,

    lässt sie durch den dünnen, schmutzigen Bart über die Schultern wehen,

    reißt sie aus ihrem Zusammenhang und verstreut sie zwischen den Felsen.

    Vier Jahre ist das nun her. Kam ganz plötzlich. Ich machte gerade Kopfstand, für die Verdauung, fürs Gehirn und wohl auch, um Hämorrhoidalleiden vorzubeugen, - ich war also eigentlich damit beschäftigt, an nichts zu denken und vor allem nicht um zufallen, als dieser zornige alte Mann auf seinem Fahrrad bergab rollend auftauchte.

    Ich blieb auf dem Kopf stehen und sah weiter zu, wie er den Berg hinab sauste. Dann rief er wieder. Aber ich kam aus dem Gleichgewicht, und bei der folgenden, unsanften Landung verlor ich ihn aus den Augen.

    Ich rollte mich sofort herum und krabbelte zu einem Stapel Altpapier, zog dort ein leeres Heft heraus und schrieb das Gesehene auf. (Siehe oben.)

    Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen. Mir wäre jedenfalls viel Arbeit erspart geblieben. Durch den Akt des Aufschreibens war das kleine Hirngespinst zu Materie geworden. Der zornige alte Mann, der bis dahin in meinem Kopf verborgen gewesen war, hatte sich in die Welt der Dinge hinaus begeben – ein geschriebenes Liniengeflecht auf Papier.

    Das ungenutzte Schreibheft aus Schülertagen, schon aussortiert, war wertvoll geworden. Und es ist seitdem in meiner Wohnung umher gewandert, lag mal hier, mal dort und erweckte zuletzt wie ein vernachlässigtes Lebewesen immer öfter meine Aufmerksamkeit.

    Ich wusste ja, hinter dem fleckigen, blauen Umschlag fuhr der Greis wieder und wieder und wieder das Stückchen Landstraße hinab, ruderte mit den Armen und rief immer dieselben unverständlichen Worte.

    Und das müsste er tun, bis entweder die Schrift verblasst wäre, oder das Papier sich aufgelöst hätte; oder aber - bis ich mich seiner annähme und diesen plötzlich aufgeflogenen Lebensschnipsel an seinen Anfang zurück und zu seinem Ende hin verfolgte.

    Schrift verblasst nur langsam. Papier löst sich nicht schnell genug auf.

    Kommt Ihr mit?

    Erster Teil

    Ich brauche keine Bequemlichkeiten. Ich will Gott, ich will Poesie, ich will wirkliche Gefahren und Freiheit und Tugend. Ich will Sünde."

    (...)

    Gut denn, erwiderte der Wilde trotzig, „ich fordere das Recht auf Unglück.

    Aldous Huxley, Schöne neue Welt

    1.

    Ich schwebe aus der Höhe herab, hinein in diese mir noch unbekannte Geschichte. Die Gebirgslandschaft da unten sieht aus wie runzelige Haut mit Sommersprossen. Ich sinke tiefer. Die Runzeln werden zu scharfkantigen Graten, hellere Flecken sind Geröllfelder. Die vielen, fast regelmäßig verteilten Punkte scheinen Baumstümpfe zu sein. Ja. Und da, das graue gewundene Band der Straße. Da, da fährt er, der Alte. Ein schmaler, kaum sichtbarer Schatten. Das Einzige, was sich bewegt.

    Jetzt entdecke ich noch etwas. Dort weiter unten, zwischen den Felsen. Ein knotiger Kreis, von dem geschwungene Linien ausgehen. Wie eine archaische Zeichnung der Sonne sieht das aus. In der Mitte ein Punkt. Ich gehe näher ran.

    Es ist ein junger Mann. Er sitzt, umgeben von elektronischen Geräten, auf einem Baumstumpf. Die Geräte sind miteinander verbunden, und orangefarbene Kabel mit rot und grün blinkenden Verdickungen sind von dem Kreis aus im Gelände verlegt. Den Mann schätze ich auf etwa dreißig. Er ist hager, hat hellgelbes, sonnengebleichtes Haar und ledrige Haut von einem schwärzlichen Braun. Er dreht sich sitzend von einem Apparat zum nächsten, drückt Tasten, betrachtet Displays, drückt wieder Tasten. Es gluckst, piepst und rasselt in den Verdickungen der Kabel. Jetzt klappt er ein Notebook auf, schließt es an und ruft Grafiken und Zahlenkolonnen auf. Er betrachtet das Ganze eine Weile und speichert es ab. In der linken oberen Ecke des Bildschirmes steht:

    Benedikt Hottmann / Reg.-Nr. 002a/ Bereich 10-Z / 16:49 (MESZ) / 25.04.2069.

    Aha! 2069!

    Der junge Mann hält plötzlich inne. Er richtet sich auf, die Stirn gerunzelt. Er lauscht. A ja! Der Alte kommt. Er ist nahe und ruft wieder. Der Mann mit der Registrierung 002a klappt seinen Computer zu, legt ihn behutsam ab, greift zwischen die Wurzeln des Baumstumpfes, und mit einem Feldstecher in der Hand rutscht er auf dem Hosenboden herum, bis er die Straße sehen kann. In einiger Entfernung links von ihm kommt der Alte gerade hinter einem Felsbrocken hervor geschossen. Benedikt Hottmann beobachtet ihn durch sein Fernglas und murmelt vor sich hin:

    „Ein alter Mann. Auf einem Fahrrad. Ein zorniger alter, ui, ein sehr zorniger alter Mann. Hey, was bist du denn für einer?"

    Ohne das Fernglas abzusetzen, steht er auf. Murmelt weiter vor sich hin.

    „Ah, er ruft etwas. Zu leise. Versteh’ nichts. Hey Alter, ein bisschen lauter bitte! Mann, der ist lecker. Wie er rumzappelt, jetzt sogar freihändig. Na los, Alter! Schrei! Schrei lauter! Komm ...!"

    Leise kichernd denkt er:

    Ist das zu glauben? Sitze hier auf einem dieser gottverdammten Baumstümpfe, in dieser gottverdammt einsamen Gegend. Latsche seit Wochen herum – Statist beim 28. Wiederaufforstungsversuch – Scheißfilm! – wie üblich davor alles hinzuschmeißen, da kommst du mir vor die Linse. Endlich mal was – was für ’ne Erscheinung. So ein Fossil, hier, mitten in der Steinwüste. Ein weißmähniger, dürrer Ziegenbock mit kreuz und quer zerfurchter Stirn. Und was für ein Maul! Ein heulendes, zahnloses Loch. Er is’ braun wie ich. Muss oft draußen sein. Witzig, die bunten Hosenträger auf der knochigen Brust. Und die viel zu weite Anzughose, grau, voller bunter Flicken. Wie die um seine Knorpelbeine flattert. Kreisende Ellenbogen. Tanzende Schultern. Auf und ab. Glänzende Kugelknäufe. Und der Kopf baumelt herum, wie an einem losen Faden. – Da! Er hat mich entdeckt. Reißt die Augen auf.

    „Hallo Alter! Winke, winke!"

    Ho ho! Er wird wütend. Schreit schrill. Droht mit den Fäusten. Mann, ich verneige mich. Tief verneige ich mich vor deiner Wut. Demütig senke ich mein Haupt vor dir Zorniger alter Mann auf deinem Fahrrad bergab rollend.

    Die Erscheinung verschwindet. Benedikt Hottmann steht noch eine Weile benommen da. Dann setzt er sich, reibt sein Gesicht, trinkt einen großen Schluck Wasser. Schaut sich um. Nur trockenes Gestein und totes Holz.

    Baumstumpfpickeliges Land, denkt er.

    Die blasse, unscharf umrissene Scheibe der Nachmittagssonne wandert darüber hinweg, zieht träge ihre Bahn durch einen trüben, orangegrauen Himmel. Der einsame junge Mann mit der Lederhaut stiert vor sich hin, ratlos befingert er seine Geräte. Minuten vergehen. Da hellt sich sein Gesicht plötzlich auf. Er reckt sich und sagt laut: „Schluss für heute. Feierabend! Er rollt die Kabel zusammen und steckt die Geräte ineinander. Sein Maschinenpark schrumpft zu einem kastenartigen Rucksack zusammen. Der Arbeitende brummelt die ganze Zeit vor sich hin. Am meisten freut er sich auf das kühle Bier, das er bald trinken wird, und er fantasiert von Löschflugzeugen voller Gerstensaft. Mit ausgebreiteten Armen simuliert er brummend und zischend den Abwurf dieser Ladung über der Bergwüste und wünscht wirklich, dem Land wäre so einfach zu helfen wie ihm. Aber die einzigen Räusche, die diese Hänge seiner Meinung nach noch zu erwarten haben, sind Sonnenstiche und Sturzregen. Rauschende Wälder? Ach, daraus wird nichts mehr. Mit geseufztem „Almen ade. schultert er den Rucksack, klemmt sich die Kabeltasche vor die Brust und klettert vorsichtig zur Straße hinunter.

    Dort steht ein staubiger, graublauer VW-Käfer älterer Bauart. Bei näherer Betrachtung stelle ich fest, dass es eine sehr moderne Imitation eines solchen Wagens ist, ein Elektro-Auto. Die ganze geschwungene Karosserie besteht aus Solarzellen, und der Innenraum erinnert an das Cockpit einer fliegenden Untertasse. Aber dieses Gefährt fliegt nicht. Nach einigen Knopfdrücken rollt es los. Das leise Surren des Motors übertönt der Fahrer mit gelegentlichem „brrrmbrrrm und mit dem Gesang improvisierter Lieder wie „Ich fahre jetzt nach Hause – tralalaaa. Da mach’ ich eine Sause – tralalaaa. oder „Anneliese, zapf’ mein Bier, ich bin, mein Schatz, schon gleich bei dir." Er beschleunigt, um den Alten vielleicht noch einzuholen, erreicht aber vorher schon sein Ziel, die Hotel-Raststätte Kronach am Rande des kleinen Städtchens Pfürzingen.

    Hottmann parkt dicht am Haus, springt aus dem Wagen und läuft mit langen Schritten über den Kies. Er setzt eins, zwei, drei die Treppe hinauf, stürmt durch den Eingang, dann durch eine hölzerne Seitentür in die Gaststube, wo er, nachdem die Tür hinter ihm knallend wieder ins Schloss gefallen ist, ruft:

    „Guten Abend, Frau Wirtin! Ein großes Helles bitte und das Tagesgericht!"

    Eine kleine, füllige Frau, die gerade den riesigen Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand eingeschaltet hat, dreht sich lachend um.

    „Grüß Gott, Herr Hottmann. So früh? Aber nehmen sie an ihrem Tisch Platz. Hab’ ihn freigehalten, obwohl, wie sie sehen, heute Andrang ist. Es gibt unseren berühmt-berüchtigten Linseneintopf.(Aus einer Ecke wird applaudiert.) Ich hoffe sie mögen so was auch?"

    „Liebe Frau Wirtin, und noch einmal, damit sie es nicht wieder vergessen: Ich mag alles, alles, alles! Und jetzt, noch vor der Suppe, am allerliebsten eine frisch gezapfte, goldene, schaumgekrönte und vor allem wunderbar kühle Maß Bier. Ich habe einen gottverdammt trockenen Job da oben."

    „Kommt sofort!"

    Die kleine, runde Frau huscht hinter die Theke, wo sie unter der Obhut ihres ausladenden Busens zu zapfen beginnt. Benedikt beugt sich etwas zu ihr hinüber und raunt:

    „Lecker, lecker. Wirklich - lecker."

    Begleitet vom koketten Lachen seiner Gastgeberin und den mürrischen Blicken eines Mannes, der mit einer dampfenden Terrine durch die Schwingtür neben der Theke tritt, begibt Hottmann sich zu einem Tisch im hintersten Winkel der Gaststube. Dort hängt in einem einfachen Glasrahmen ein beeindruckendes Bild. Seinen Stammplatz hat er bewusst hier gewählt. Hinter sich das Schmatzen und Schwatzen der anderen Gäste zieht er aus einem Silberetui eine Zigarette, leckt kurz am Mundstück und steckt sie an. Genüsslich lässt er den Qualm aus seinem Mund steigen und atmet ihn durch die Nase ein. Dann ruft er plötzlich zur Theke hinüber:

    „Und einen Kaffee! Ja? Gleich jetzt bitte, noch vor allem anderen!"

    Die Wirtin bestätigt mit einer Handbewegung, und wenig später genießt Hottmann zum herben Qualm der Zigarette die köstlichen Röstaromen des Kaffees. Wenn er nicht gerade seufzend die Augen geschlossen hat, betrachtet er das gerahmte Poster an der Wand.

    Es zeigt jene Gegend, in der er gerade arbeitet, so, wie sie lange vor der Zerstörung des Waldes durch Bodenversauerung, Klimastress und Erosion ausgesehen hat. Eine Wange in die Hand geschmiegt lässt er seinen Blick versonnen über Wipfel und durch vielfarbiges Grün schweifen. Er dringt in den Schatten zwischen den Stämmen ein, verliert sich in der kühlen Weite dieses einst so prächtigen, von Tannen dominierten Bergmischwaldes.

    Natürlich entgehen seinem geschulten Auge die bereits sichtbaren Schäden nicht. Angsttriebe und stellenweise zu viele Zapfen in den Wipfeln. Das Nadelkleid vieler Bäume ist sichtbar ausgedünnt, die Rinde verfärbt. Und im Unterholz hatten sich schon Pflanzen ausgebreitet, die es in einem solchen Wald nicht, jedenfalls nicht in solcher Menge geben dürfte.

    Da wandert von rechts etwas in sein Sichtfeld hinein, ein spitz zulaufender Schatten in Augenhöhe. Blinzelnd stellt Benedikt fest, dass der Busen seiner Wirtin, tiefblau und feilchenrosa bekleidet, neben seinem Kopf schwebt. Dahinter, an ihrem angewinkelten Arm, ein rotgoldener Humpen mit schneeweißer Krone. Benedikt kommt zu sich. Durst! Aber die Frau macht keine Anstalten, das Glas vor ihm abzustellen. Nun ist sie es, die das Foto an der Wand betrachtet. Und mit was für einer Andacht. Dem Landvermesser bleibt sein Räuspern im Halse stecken. Er beobachtet sie. Das Bild muss doch schon lange dort hängen. Seit Jahrzehnten gibt es solchen Wald hier nicht mehr. Und sie hat sich immer noch nicht daran gewöhnt?

    Als die Frau gar nicht wieder zu sich kommt, flüstert er in das allgemeine Brummeln und Löffelklappern hinein ihren Namen: „Anneliese."

    Das hat sehr intim geklungen und ist schon zu laut gewesen. Die Leute an den Nebentischen sehen zu ihnen herüber, und der Wirt hinter der Theke schaut finster auf.

    Die Angeredete zuckt zusammen.

    „Oh. Entschuldigen sie – Herr Hottmann. Ich – hier ist das Bier, und – soll ich dann die Suppe bringen?"

    „Ja - bitte. Aber warum so verwirrt?"

    Fragend sieht er sie an und dann zum Poster.

    „Ach, wissen sie," die Wirtin stockt und spricht erste weiter, als der Mann hinter der Theke durch die Schwingtür in die Küche geht.

    „Das Bild entdeckte ich vor einem halben Jahr im Schaufenster eines Trödlers, und ich habe es sofort gekauft. Weißt d’ – wissen sie, ich hatte wirklich fast vergessen, wie es hier früher einmal aussah. Ich meine das ist lange her. Ich war noch ein Kind."

    Leise und traurig lacht sie auf und geht zurück an ihre Arbeit. Benedikt genießt sein Bier und dann den wirklich hervorragenden Eintopf. Ein Gast am Nachbartisch erklärt ihm, dass dessen voller Geschmack von einer Beigabe hier im Hause selbstgemachten, mit reichlich Knoblauch und einer geheimen Kräutermischung versehenen Schweineschmalzes kommt, und Benedikt erfährt zu seinem Erstaunen, dass nicht Anneliese Kronach, sondern Patrick, ihr Mann, für das gute Essen verantwortlich sein soll.

    Später, bei einem weiteren Kaffe und noch einer Zigarette und schließlich bei einer zweiten Maß Bier, lässt Benedikt seine Gedanken frei wandern. Nur wenn sie sich in die Arbeit, in Geologie und Biologie verirren wollen, wenn er also plötzlich feststellt, dass sein Kopf über Bodenbeschaffenheiten, über Wurzelmassen, nötige Befestigungen und so weiter zu grübeln beginnt, dann greift er ein und erstickt diese vergebliche Planerei. Für ihn ist dieser 28. Versuch einer Wiederaufforstung völliger Unsinn, absolut aussichtslos. Aber er wird bezahlt, hat gut zu essen und muss sich, solange er hier draußen ist, in keinem städtischen Wohnviertel mit Idioten herumschlagen. Trotzdem fühlt er sich nutzlos. So nutzlos wie... ihm kommt der Alte vom Berg in den Sinn, und weil er tief in Gedanken ist, verfällt er auch hier, in der vollbesetzten Gaststube, in seine, wohl in der Bergeinsamkeit angenommene, Gewohnheit des lauten Selbstgesprächs.

    Er murmelt:

    „Was für ein komischer Kauz. Was hat er da bloß zu schaffen, und warum so böse? Unglaublich. Wird wohl aus der Gegend sein, oder –. Ich muss Anneliese fragen. Ja! Priester und Gastwirte, die wissen über die Nachbarschaft bescheid." Er lacht laut auf.

    Als er dann auf seinem Stuhl hoch rutscht, dabei gleichzeitig nach seinen Zigaretten und dem Bier greift, bemerkt er, wie still es um ihn herum geworden ist. Er schaut sich um und begreift den Grund. Mit rotem Kopf nickt er den eher amüsiert als verärgert herübersehenden Gästen zu. Er entschuldigt sich, dreht sich weg und knurrt leise ein paar Schimpfworte gegen sich selbst, weil diese dumme Angewohnheit ihm noch mal zum Verhängnis werden könnte.

    Beim Anzünden der Zigarette muss er husten, was zu einem längeren aber schweigsamen Grübeln über Sinn und Unsinn des Rauchens führt. Ein Laster, das einst in den westlichen Zivilisationen völlig ausgerottet schien und dann eine wahrhaft rasende Renaissance erlebte. Schließlich hat er wieder die Begegnung mit dem Alten vor Augen.

    Du zorniger alter Mann auf deinem Fahrrad bergab rollend, ich rauche, weil ich diesen ekeligen Geschmack, das Halskratzen und die gelegentlich auftretende, leichte Übelkeit brauche. Das hält mich wach, verhindert, dass ich völlig in Resignation und in Konsum versinke, wie so viele in diesem kostenlosen und körperwarmen, diesem niveaulosen, krank machenden ...

    Grübelnd irrt er durch ein Labyrinth aus Weltschmerz und Verachtung, meistens schweigend. Als die vierte Maß sich langsam leert, spürt der Landvermesser, wie sein Kopf zur Tischplatte sinken will. Ein ungeheures Gähnen quält sich aus seinem Gesicht. Er steht entschlossen auf und schreitet aufrecht, - glaubt er jedenfalls, - über den schwankenden Boden auf seine Wirtin zu. Die trocknet Gläser hinter der Theke und ist so kurz geraten, dass sie kaum über den Tresen sehen kann. Benedikt bläst ihr ein Küsschen zu, dann schleppt er sich durch das knarrende Treppenhaus in den ersten Stock zu seinem Zimmer, wo er endlich grunzend in weich aufwallende Kunstdaunendecken sinkt.

    Nicht für immer, denkt er wohlig grinsend. Nur für eine weitere Nacht.

    2.

    Wie immer etwas erstaunt, weil der kleine Tod des Schlafes nicht zum großen geworden ist, erwacht Benedikt Hottmann. Es ist früh. Zur allmorgendlichen Verwunderung gesellt sich ein Stechen in der Brust. Das kennt er auch schon. Mit flacher Hand haut er sich einige Male aufs Brustbein und kommentiert seufzend:

    „So, so. Hält ein Teil von dir heute mal wieder nichts vom Leben? Wirst du wohl aufstehen!"

    Kichernd reckt er sich, wälzt sich knurrend und schnaufend herum und erinnert sich dabei an die letzten Traumbilder: Er war aus dunkler und feuchter Tiefe aufgestiegen. Dann hatte er im Innern eines Mundes gehockt und durch die Ritzen der Zähne hindurch die Sonne aufgehen sehen. Benedikt wischt sich übers Gesicht und schüttelt den Kopf. Als er dann mit knackenden Gelenken aufsteht und ans Fenster tritt, weiß er schlagartig, woher der Traum kam. Es war diese morgendliche Aussicht aus seinem Fenster. Gleich würde die Sonne über den weißen Gebirgskämmen aufgehen. Ein schmales, ebenfalls weißes Nebelband, das über Nacht die Hänge hinaufgetrieben war, schwebt jetzt über den Schneegipfeln. Sie wird von der noch hinterm Berg verborgenen Sonne angestrahlt. Der Himmel darüber und der Raum unter den Gletschern sind beide von rosigem Dunkel erfüllt. Fasziniert beobachtet Benedikt, wie sich dieser riesige Mund langsam öffnet. Das Wolkenband steigt höher. Himmelsgaumen und Erdenkiefer werden von Morgenglanz durchflutet. Der Tau in den Büschen und die feuchten Spinnweben im Fensterrahmen funkeln wie Speichel.

    Schmunzelnd lokalisiert sich der Landvermesser innerhalb dieser großen Landschaftsanatomie auf dem Zungenrücken, weit hinten, zwischen neutralem und bitterem Geschmacksbereich.

    Das passt ja! denkt er und beginnt, ohne Geschmack daran zu finden, mit bitteren Aufwärmübungen. Arme strecken, Fäuste ballen, halb in die Hocke, Rücken gerade, zurück, entspannen, strecken, ballen, ... beim Anblick seiner Fäuste wandert Benedikts Aufmerksamkeit. Er sieht „Zorniger alter Mann auf seinem Fahrrad bergab rollend" vor sich. Der hatte auch so die Fäuste geballt.

    Warum so zornig, hm? Rätselhaft, dass der hier draußen so frei herumturnen darf. So ein Privileg. Oder aber er ist....

    Gedankenverloren kommt der Landvermesser im Gastraum an und beginnt sein Frühstück. Der Geruch des geköpften Eies mischt sich mit dem Geschmack eines leicht gesalzenen Butterbrotes. Mmm. Er kommt zu sich. Eine seiner Lieblingsspeisen.

    Anne Kronach wieselt zwischen den Tischen herum und reicht ihren wenigen Morgengästen das Gewünschte. Wenn sie dabei an Benedikt vorbei kommt und dieser zu ihr aufschaut, leuchten ihre Augen, denn sie ist verliebt, und ihr Mann hat durchaus Grund, misstrauisch zu sein. Alle Zellen ihres Körpers erinnern sich an drei wundervolle Nächte mit Benedikt.

    An diesem Morgen sind nur ein paar Auswärtige zu Gast, Fernfahrer, Handelsreisende und Facharbeiter von den Plantagen diesseits und jenseits der Berge, oder Menschen, die in anderen offiziellen oder nicht offiziellen Tätigkeiten durch die Außenbezirke streifen. Genauer nachzufragen ist meistens nicht ratsam. Aber vor diesen Fremden brauchen Anneliese und Benedikt ihre Gefühle nicht zu verbergen. Die kleine, quirlige Wirtin strahlt vor Glück.

    Als sie Benedikt wieder einmal Kaffee nach schenkt, umfasst er zärtlich ihre Hüfte und bittet sie, eine Weile bei ihm Platz zu nehmen.

    „Liebe Anneliese, ich hatte gestern eine Begegnung, und du kannst mir vielleicht erklären, was das war. Da oben, wo ich gerade kartografiere, ist ein ganz merkwürdiger alter Mann an mir vorbeigerauscht. Weißt du was über den?"

    Anneliese hört auf, an Benedikts Ohr zu spielen. Sie sieht ihn aufmerksam an, während er noch hinzufügt:

    „Ich habe ihm einen Namen gegeben. Einen ganz langen, so einen indianischen. Weißt du, so wie ’Young man afraid of his Horse’. Ich habe den Alten ‚Zorniger alter Mann auf seinem Fahrrad bergab rollend’ getauft."

    Anneliese beginnt zu lachen. Sie lacht so herzhaft, dass Benedikt sich wundert, und so gerührt, dass er neugierig wird, und sie schmiegt ihr Gesicht dabei so zärtlich an seinen Hals, dass er ganz gespannt ist, auf das, was sie ihm gleich erzählen wird.

    „Dass du ihn auch magst, finde ich schön," beginnt sie schließlich und seufzt.

    „Ich war bislang die Einzige hier, die ihn nicht ablehnt. Ein Prachtbursche, nicht wahr?"

    „Glaub’ schon, ja. Jedenfalls hat sein Erscheinen mir gestern richtig gut getan. Das war irgendwie - aufrüttelnd. Ich dachte allerdings, er sei möglicherweise ein Illegaler, du weißt schon, einer von diesen verrückten, militanten Berbern. Er darf hier draußen leben?"

    Anneliese schielt zum Nachbartisch. Der Gast dort lauscht ihrem Gespräch mit etwas zu großem Interesse. Deshalb antwortet sie laut:

    „Ja, darf er!"

    Benedikt hat verstanden. Er grinst, und ebenfalls laut genug für den Spion fragt er:

    „Sag, was hat er getan? Womit hat er sich dieses Privileg denn verdient?"

    „Das weiß niemand genau. Manche behaupten, er hat bei der Zerschlagung einer Terrorgruppe geholfen, im Ausland. Er sei sogar mal in den Nachrichten gewesen. Aber mehr weiß ich darüber nicht."

    Anneliese hebt die Schultern und sagt, mehr zum neugierigen Nachbarn als zu Benedikt:

    „Seine Papiere sind jedenfalls in Ordnung. Die habe ich selbst kontrolliert, als er hier mal was einkaufte. Er bekommt eine kleine Staatsrente und verbringt die Tage damit, sein Fahrrad in die Berge zu schieben und dann Abends wieder ins Tal zu rollen. Das tut er schon seit Jahren, seit ich ihn kenne."

    Der Tischnachbar lächelt. Ein freundlicher Spion. Er bedankt sich für den umfassenden Bericht mit einer knappen Verbeugung, wobei er verstohlen einen Finger an die Lippen legt. Endlich wendet er sich wieder mit ungeteilter Aufmerksamkeit seinem Spiegelei und Schinken zu. In normaler Lautstärke unterhalten Benedikt und Anneliese sich weiter. Benedikt wundert sich:

    „Merkwürdig. Leute mit Staatsknete ziehen es doch vor, in den besseren Stadtvierteln zu wohnen, oder in Villenquartieren auf dem Land. Weißt du wie er heißt und wo er herkommt?"

    „Ja, mein Schatz. Guido Zeiß heißt er, und er stammt ursprünglich aus Pupau."

    „Ach, das verlassene Dorf, 15 Kilometer von hier in einem Seitental, an der Straße nach ‚Hopfenhain’?"

    „Genau. Da soll er geboren sein. Übrigens vor über achtzig Jahren."

    „Achtzig! Erstaunlich, obwohl, er sieht wirklich alt aus. Der älteste Mensch, den ich je gesehen habe. Was weißt du noch?"

    „Nicht viel. Nur was die Leute über ihn tuscheln, die paar Alteingesessenen. Eigentlich nur ein paar Legenden aus grauer Vorzeit und auch nur über seine Kindheit. Er soll wegen seiner unförmigen Nase gehänselt worden sein und war wohl schon immer besonders jähzornig. Man spricht auch von einer Blitz-Karriere als Marathonläufer. War richtig gut. Viele Medaillen und so. Aber bei einem Jugend-Turnier, das unsere Kreisstadt angeblich extra seinetwegen ausgerichtet hatte, soll er einfach abgehauen sein, auf Nimmerwiedersehen, einfach vom Rennen weg gerannt. Damals muss er aber noch sehr jung gewesen sein, vierzehn oder fünfzehn. Man hat nichts mehr von ihm gehört, bis er vor zehn Jahren, nein, jetzt schon fast zwanzig Jahren wieder auftauchte und mit seinem täglichen Ritual begann."

    „Is’ ja schillernd. Von einer besonders unförmigen Nase habe ich aber nichts bemerkt."

    „Hast du ihn denn aus der Nähe gesehen?"

    „Nein, nur durchs Fernglas."

    „Also, der vordere Teil seiner Nase ist heute eine breite, relativ glatte Narbe. Die schimmert bläulich. Aber das ist nicht die ursprüngliche Verunstaltung. Sie soll früher fast dreimal so lang und dick gewesen sein, was ich allerdings für übertrieben halte."

    „Eine riesige Nase also ..."

    „Ja. Als er hier wieder auftauchte, nach Jahrzehnten, da erkannte ihn erst niemand. Wie auch. Aus seiner Generation lebt ja keiner mehr hier."

    „Und du, wie hast du ihn kennen gelernt?"

    „Oh, schon als Kind habe ich ihn bewundert. Und dann kam er mal hier rein"

    Anneliese lacht.

    „Das war ´ne Schote! Ich glaube vor acht Jahren. Ja. Da unterbrach er hier seine Fahrt. Um Wasser zu kaufen. Ich spendierte ihm ein Stück Kuchen. Einer der Gäste wollte Streit mit ihm anfangen. Da hat der Alte eine wahre Schlammlawine von Schimpfwörtern auf den Stänkerer losgelassen. Ein riesiger, derber Kerl. Der will handgreiflich werden. Aber zum Glück kam in dem Moment Patrick aus der Küche, stellte seinen muskelbepackten Körper einfach zwischen die Streithähne, legte sein altes Catcher-Gesicht auf, und schon war Ruhe."

    „Wie – Catchergesicht – dein Mann? Jetzt im Ernst, - er war...?"

    Anneliese nickt.

    „Das muss aber lange her sein."

    „Oh ja, ist es. Fast zehn Jahre. Aber entschuldige mich. Ich muss was tun."

    Gemeinsam gehen sie zur Theke. Nach einem prüfenden Blick zur Küchentür umarmt Benedikt seine Wirtin und küsst sie zärtlich.

    „Wenn du am Abend Zeit hast, dann würde ich mich gerne weiter mit dir über diesen komischen Kauz unterhalten, aber auch über dich natürlich und alles mögliche..."

    Er flüstert ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie sich errötend mit einem kehligem Gurren aus seinem Arm windet. Sie nickt aber und huscht mit federnden Schritten in die Küche.

    Summend schlendert Benedikt zu seinem Wagen. Als er zärtlich über das runde Dach streicht, wird er gerufen.

    „Herr Hottmann! Hallo, Herr Hottmann!"

    Es dauert einen Augenblick, bis er begreift, dass Anneliese ihn so förmlich ruft.

    „Wenn sie den Zeiß heute wieder sehen wollen, dann müssen sie da, wo sie gerade arbeiten, zwischen 17 und 17 Uhr 30 an der Straße warten. Er ist immer sehr pünktlich. Bei uns kommt er täglich etwa 18 Uhr vorbei."

    Benedikt bedankt sich, steigt ein und fährt los.

    Ein lustschwerer Kuss wird ihm vom Küchenfenster aus hinterher geblasen.

    Früher als erwünscht erreicht der Geologe seinen Arbeitsplatz. Wie schön wäre es, jetzt nicht anzuhalten, sondern stattdessen den ganzen Tag durch die weiten, verlassenen Außenwelten zu fahren. Das wäre was.

    Aber er ist dazu verdonnert, stundenlang zwischen Felsen und Geröll herumzukriechen, durch seinen Messbereich 10-Z. Jetzt heißt es wieder, das Profil des Geländes in digitale Karten einzuscannen, so genau, dass auch kleinste Reste vorhandenen Erdreiches, dessen Zusammensetzung, Durchfeuchtung, Anteil an organischem Material und die genaue Oberflächenstruktur der darunter liegenden Gesteinsschichten registriert werden. Eine Unmenge von Daten, die er dann, nach erster Bearbeitung, dem Zentralcomputer seiner Behörde senden wird.

    Den ganzen Vormittag baut er auf, misst, sichtet, speichert, baut wieder ab und dann, einen Steinwurf weiter, wieder auf und so fort. Die ganze Zeit wird er von der Sonne gebraten. Heiße Winde treiben ihm Staub in Mund, Nase und Augen, und, was am Schlimmsten ist, in den Nacken unter den Hemdkragen, wo er mit Schweiß vermischt die Haut wund scheuert.

    Intermezzo

    Der Landvermesser da unten hat keine Lust zu seiner Arbeit, genau so wenig, wie ich zu meiner. Mir ist klar, was das bedeutet, nämlich, dass ich keine Lust zu leben habe, wie immer, wenn ich der Mühsal regelmäßigen Schreibens entfliehen möchte.

    Aber! Keine Lust mehr zu diesem Leben? Das – darf – nicht – sein! Oh nein! Also vermesse ich dort als Benedikt weiter die zukünftige Einöde und trage hier schreibend meinen Teil bei zur Sicherung vegetationsfähigen Erdreiches, arbeite mit daran, reproduktionsfähiges Menschentum in Leib und Gefühl, in Verstand und Fantasie zu erhalten. Obschon die Verkarstung in dieser Endzeit meiner Zivilisation in allen Gebieten, auf allen Ebenen rasch, rasch, rasch vorangetrieben wird.

    Wir ICH’s sind schon lange unvereinbar mit dem WIR, dem WIR der Berge und Täler, der Meere und Küsten. WIR und ICH’s das lohnt sich nicht. Die Kräfte zur Einbindung der Einzelnen scheinen zu fehlen, oder fehlen zu müssen, weil sie da, wo sie noch wirken, bloß noch Klicken-Leiber stählen, Klüngel zu Geschossen härten, die einander tausendfältig (wie versteinerte Kotze) um die Ohren fliegen, Kleinkriege in allen Städten.

    Zu groß ist die Angst vor dem Schmerz einer Vereinigung ohne Endlösung. Alles oder Nichts. Also kaum etwas. Zu groß die Angst vor trostloser Traurigkeit. Also Spaß = vieler Menschen Selbstbeleuchtung – die Viertel stehen in Flammen.

    Dumpfer Schmerz.

    Ach ja, Schmerz, - auf Dich komme ich noch zurück, wenn ich den

    zornigen Alten wieder suche. Jetzt muss erst einmal ein Absatz her. Der kennzeichnet folgendes Überlegen: Was war denn das eben? Ob ich weiterschreibe Heute? Ob ich den da unten noch ein paar Flächen vermessen lasse und Daten einsammeln für eine Wiederaufforstung, an die er nicht mehr glauben kann? Also Absatz.

    *

    Es kam wie erwartet: Heißtrockene Sinnlosigkeit ließ die zarten, gelbgrünen Keimblättchen regelmäßiger Kreativität welken. Weich und gefährdet dorrten sie tagelang auf dem Fels televisionärer Gedankenlosigkeit.

    Aber jetzt – ich bin wieder bereit. Ich will in die Geschichte zurückkehren. Und ich freue mich, dass Sie auch noch da sind, liebe Leserinnen und Leser:

    Intermezzo unterbrochen

    Benedikt sitzt unter einem großen, grauen Wetterschirm auf einem weiß getünchten Kilometerstein. Sein Wagen steht ein paar Meter entfernt am Straßenrand in der prallen Sonne. Gut für das Aufladen der Batterien. Aus der geöffneten Tür dringt ein von Poptönen und Jammern durchsetztes Rauschen, ein schlecht eingestellter Sender. Der Landvermesser döst pflichtvergessen vor sich hin.

    Intermezzo Fortsetzung

    Ich kann es ihm nicht übel nehmen. Zwar ist sein Kopf nach den Tagen des Schlafens, Fressens und Fernsehens nicht völlig gedankenleer, aber er kann die eigenen Gedankengänge kaum wahrnehmen. Eigentlich wollte er heute wieder arbeiten, jedoch wenn er hochschaut, sieht er nur dieses Hitzflimmern über Gestein, heiß wie Herdplatten. Der Anblick wirkt sich sofort auf das bioelektrische Flimmern in seinem Kopf aus. Er steckt fest in ungewollter Abwesenheit.

    Ich werde ihn mal rufen:

    Hey Benedikt! Wo bist du? Wo?"

    Im alltäglichen Fluchtland – fast besinnungslos."

    Aber Benedikt, willst du denn da bleiben? Das ist doch grauenhaft. Wenn ich bedenke, dass auch ich fast alle meine Tage so neben mir stehe, wie du jetzt neben dir, so fern deiner selbst ..."

    Nun, mein lieber Autor. Das ist mir aber schleierhaft. Du solltest doch wirklich leicht Lachen haben, du, in deiner Vergangenheit. Ja! Wie kannst du es wagen, so zu jammern?! Ihr habt im Sommer doch noch regelmäßige Niederschläge, und die fallen bei euch nicht auf schutzlose Erde, sondern auf grüne Weiden und Wälder, sogar in den Bergen noch! Überall habt ihr’s grün, und euer Sonnenlicht ist so weich, dass ihr ein Wort wie ‚Sonnenbad’ gelassen aussprecht, wie eine Selbstverständlichkeit. Mein Gott! Ein Bad – in der Sonne!

    Warum, das habe ich mich oft gefragt, wart auch ihr Menschen der Vergangenheit, jener doch wirklich angenehmen Zeit, reich an natürlichen Schätzen und kostenloser Erholung, warum seid auch ihr immer nur auf der Flucht gewesen, in Gedankenlosigkeit und Verschwendung..., wo ihr doch so viel Schönes hättet genießen können, ohne irgendwem zu schaden.

    Und dann du!

    Du setzt dich da in deiner Vergangenheit hin und schreibst.

    Denkst dir irgendwas aus, denkst dir mich aus, - ok, dagegen will ich gar nichts sagen -, aber dann wagst du es, mich hierhin zu setzten, hierhin, auf diesen einsamen, weiß getünchten Grabstein für 15,5 Kilometer tote Landschaft. Das ist so trostlos, dass einem gar nichts anderes übrig bleibt, als geistesabwesend vor sich hin zu dösen.

    Aber – was soll’s, Frau Scholz. Auch dagegen wird irgendwann ein Waschmittel erfunden. Vielleicht lässt du dir ja mal was NETTES einfallen!

    Und nun genug geschwätzt und Unfug gedacht. Ich muss endlich wieder arbeiten. Weil ich sonst gefeuert werde und mich wieder in der Stadt mit Idioten herumschlagen muss, was du dir ja auch nur ausgedacht hast. Uff! Mein Hirn ist von der Hitze wie geschwollen."

    Intermezzo zu Ende

    Es ist fast 17:00 Uhr. Die Straße flimmert als graugelbe Schliere in der brodelnden Luft. Die Wüsten in alten Western sahen so aus, findet Benedikt, und er weiß, gleich wird der einsame Reiter auftauchen. Der Alte wird auf seinem Fahrrad angaloppiert kommen. Jippijeh! Den Cowboyhut im Nacken, graue Haarsträhnen umwehen den Kopf. Er wird die Beine mit den nackten Füßen abspreizen, den Oberkörper weit vorbeugen, eine Hand am Zügel, die andere hoch in der Luft. Jippijeh! Und anstatt mit einer Pistole herumzuballern, wird er Worte des Hasses heraus schleudern ... und tatsächlich, da kommt er.

    Drei flache Flecken haben sich da hinten in der schwirrenden Hitze über der Straße gebildet. Langsam wachsen sie zusammen und formen sich zu einer länglichen Gestalt. Ein zischendes und knarrendes Geräusch ertönt von dort. Je näher die Gestalt kommt, desto schriller wird es. Es ist sein Gebrüll. Jetzt ist er schon zu erkennen: „Zorniger alter Mann auf seinem Fahrrad bergab rollend". Er schreit mal hoch mal tief, aber immer durchdringend. Ja, das hat er geübt. Mit den Worten speit er schaumigen, gelben Speichel aus.

    Wie schön, denkt Benedikt. Wie ein Heiliger.

    Jetzt kann er das Fernglas absetzen und Zeiß’ Boxhiebe in die dicke Luft, diesen Kampf mit unsichtbaren Dämonen, aus der Nähe betrachten. Dabei lauscht er zum ersten Mal der unglaublichen Rede dieses Propheten des Wahnsinns:

    „Waaah...! Dassselbe, immmerr, immmerr immmerr wiederr...!

    Haut ab, ihr Fürze, ihr schlammgeborenen Winde blähungsreicher Zeit –

    Fencheltee, Fencheltee, tut nur gift’gen Ärschen weh...!

    Ein Motto. Ein Motto!

    Mein Name ist Schwein, arme Schweine, arme Schweine,

    und ich bin Dreck,

    und ich liebe es,

    so zu sein!

    ... das Motto eines Mannes – Friedrich-Wilhelm hochwohlgeboren,

    ein Wesen, das lange schon tot ist, tot war, sich jetzt aber wieder steigender Beliebtheit erfreut – an dem Orte seines gegenwärtigen Aufenthaltes, hier und jenseits von hier. Kein Tier.

    Es wächst die Zahl menschlichen Geschmeißes, das sich in den Dreck wirft und ihr huldigt, dieser Missgeburt, diesem Symbol vergangener nationaler Allscheiße.

    Nach eingehender Recherche – von einer qualvollen Sekunde Dauer – und einer unappetitlichen Summe unreflektierten Hörensagens von den Anhängern dieser Allmacht in Person kann als erwiesen gelten: Friedrich-Wilhelm war ein Mensch; hielt sich selbst für einen Vertreter der Gattung ‚sapiens’ gar.

    Oh, er wusste zwischen ‚homo nur’ und ‚sapiens fein’ fein zu unterscheiden, was nicht wissenschaftlichem Verstande entsprang, sondern seiner eigenen gottgegebenen Intuition.

    Es gab andere, nach ihm, die waren göttlicher noch, ausgestattet mit wahrhaft heiligmäßiger Definitionssucht. Denen verdanken wir das ‚wissenschaftliche’ Fundament, auf dem da fußt der alles überragende Sapiensmensch arischen Erbes, eingegossen bis zu den Knöcheln. Dessen Schöpfergott ‚Schnäuzelchen’ hatte noch weit mehr Gewalt über Menschen und Nationen, als Friedrich-Wilhelm der Kleinere.

    Seiner wird daher von einer noch schneller anwachsenden Masse aus in Stolz erstarkender Menschen mit noch größerer Ehrfurchtsucht und Nacheifer gedacht, als des respektablen kleinen Kaiserchens.

    Sehe ich da Gründe schwären, einen Pesthauch sich verbreiten, der selbst gute Seelen nach der Abtreibung schreien lässt und für das Wegmachen behinderter Föten plädieren?

    Vielleicht, ja, denn was diese Schöngeborenen – als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen – was diese Schöngeborenen an Quälerei durch die ‚Makellosen’ erwartet, das vielleicht, das allein spräche schon – jedoch grässlich kreischend – dafür, ihnen ein Sein in dieser Welt zu ersparen! –

    In diesem Moment rollt der Alte an Benedikt vorbei. Den schüchternen Gruß des jungen Mannes ignorierend, schreit der immer lauter. So kann Benedikt noch einen kleinen Teil der Rede des Davonrasenden verstehen:

    - Da in Zukunft ein noch selbstgefälligerer Abschaum sich aus dem Elend nie dagewesener seelischer Verwahrlosung erheben wird, und da dieser grausamer gegen alles vorgehen wird, was seinen selbstgezimmerten Herrentümern nicht entspricht, - da ich schon jetzt die Verwesung behinderter ‚Untermenschen’ riechen kann, darum könnte ich versucht sein, es für ratsam zu erachten, unkorrekt verlaufenden Schwangerschaften ein rrrechtzeitiges Ende zu bereiten. Aberrr, wie ich schon sagte, wenn , ja wennn!

    Dann würde der Menschheit Gang in einen neuen polymeren Faschissmus ein klein wenig unblutiger, etwas weniger stinkend verlaufen. Wenn auch nur – ein ganz klein wenig weniger! –

    Wie ein donnergrollend Feuer speiender Drache grölt „Zorniger alter Mann auf seinem Fahrrad bergab rollend":

    - ist das korrekt?! Jaa-aa-aa-woll! Zackzack!"

    Der Alte verschwindet in der wabernden Luft. Aber seine Worte bleiben. Wie brummende Schmeißfliegen schwirren sie in Benedikts heißem Kopf herum. Es pocht und zuckt in seinem Gehirn wie in einem aufgedunsenen Kadaver, darin ein Gewühl fetter Maden.

    Aus der Nähe hatte ihm der Alte nicht mehr so gut gefallen. Was für ein Scheiß war das denn? denkt er. Ich habe nicht ein Wort verstanden.

    In seiner Enttäuschung fallen ihm die wenigen Dinge ein, die ihn trösten können: Feierabend.

    Bier, Futtern, Sex. - Vergessen!

    Er packt ein und fährt.

    3.

    Der nächste Tag. Es regnet. Tief hängende Wolken streifen ihre Last an den Hängen ab. In breiten Rinnen werden auch die letzten dünnen Erdschichten fortgeschwemmt. Das Skelett der Berge tritt täglich deutlicher hervor.

    Unser Wiederaufforstungsexperte ist kaum zu entdecken. Er sitzt unter seinem großen grauen Schirm am Straßenrand. Er trinkt lauwarmes Bier und ärgert sich wieder. Seine ‚beschissenen Rolle in dieser Geschichte’ gefällt ihm nicht. Auch mir scheint seine Tätigkeit da unten nicht besonders zweckmäßig zu sein, und wahrscheinlich wird es so etwas in der realen, noch ungeschriebenen Zukunft gar nicht geben. Dieser Dauerregen verändert die Landschaft dermaßen, dass Benedikts Daten von gestern heute schon nicht mehr stimmen können. Was soll er also da? Das fragt er mich zu Recht. Aber auch ich kann noch nicht sagen, was dies hier werden soll, was der Sinn dieser Geschichte ist. So ist das nun mal. Um es herauszufinden, muss ich weiterschreiben. Sie, die Leserinnen und Leser, folgen mir vielleicht darum. Und Benedikt? Der hat keine Wahl.

    Alles begann mit dem Auftauchen des zornigen alten Mannes während einer Yoga-Übung und nahm seinen Fortgang, weil ich und jetzt wir alle wissen wollen, was es mit ihm auf sich hat. Also beobachten wir einfach weiter. Er wird gleich erscheinen, und Benedikt wird versuchen, ihm ein Stück des Weges zu folgen. Wie gesagt, er hat keine Wahl – im Gegensatz zu uns – nicht wahr?

    Nur zwanzig oder dreißig Meter entfernt taucht der Alte in dem allgemeinen Grau auf. Sein Anzug klebt ihm faltig auf der Haut. Selbst die vielen bunten Flicken sind im Regendämmerlicht nur Abwandlungen von Farblosigkeit. Allein der Bart des Greises wirkt heller, wie ein Schwall Wasser, der ihm aus dem Gesicht fällt. Reglos kauert er auf dem schwarzen Gestänge seines Rades. Lautlos rollt er vorbei.

    Benedikt springt auf und läuft neben Zeiß her. Er sieht ein von Trauer gezeichnetes Gesicht. Um den zusammengekniffenen Mund und die weit aufgerissenen Augen zeichnen unzählige Falten eine Maske der Verzweiflung. Wasser rinnt durch die Runzeltäler, als wolle es das welke Fleisch der Wangen mit sich reißen. Der Anblick trifft Benedikt. Er rührt an seine eigene Hoffnungslosigkeit, und plötzlich durchflutet ihn ein neues, großes Gefühl. Selbst niedergedrückt von Traurigkeit und hoffnungsloser Sehnsucht spürt er gleichzeitig eine gewaltige, fast unerträgliche Freude in sich aufsteigen. Was ist denn das? Liebe? Aber dann – stolpert er, fällt hin. Die Bierflasche in seiner Hand zerspringt, ganz entfernt spürt er es brennen, und dann ganz nah den Schlag an den Kopf und ein hartes Reißen am Gesicht, als er auf den Asphalt prallt. Mühsam richtet er sich auf. Da verschwindet der Alte schon wieder hinter einem Vorhang aus Regen.

    Benedikts Herz schlägt wild. „Warte!" ruft er und springt von den Knien auf, läuft hustend zu seinem Wagen zurück, schwingt sich hinein und haut auf den Starter. Der Motor sirrt kurz und verstummt wieder. Das war’s. Wie so oft bei Regen. Aber warum ausgerechnet jetzt! Verzweifelt heult Benedikt auf. Er flucht, haut gegen das Lenkrad, rüttelt am Schalterkasten und flucht wieder. Er fährt sich durchs Gesicht und zieht dabei mit seiner verletzten Hand eine Blutspur über die linke Wange. Dann lässt er sich stöhnend nach vorne sinken, bis seine Stirn auf die Hupe drückt. Der verreckte Wagen gibt keinen Laut von sich.

    Benedikt wäre dem Alten langsam hinterher gefahren. Er hätte ihn angesprochen, hätte ihn zu einem Bier eingeladen, oder zu einem warmen Essen bei Anneliese. Wozu das? Um ihn zu trösten, - und um sich selbst zu trösten und die ganze gottverdammte Welt gleich mit. Aber im entscheidenden Augenblick war er betrunken, und die Technik hat natürlich auch versagt.

    Das starke Gefühl von Zuneigung, das Benedikt beim Anblick des traurigen alten Mannes befallen hatte, ist dumpfer Leere gewichen, und er ist zu erschöpft, um sich zu einem forschen Spruch oder einem spaßigen Vorhaben aufzurappeln. Langsam beruhigt sich sein Atem und wird schließlich regelmäßig. Weich und fett zerrinnen Regentropfen auf der Windschutzscheibe. Das leise wattige Trommeln auf dem Solarzellendach und das Flüstern vieler Stimmen in seinem Kopf lullen Benedikt ein. Eine dieser Stimmen sagt: Vergessen. Immer wieder – vergessen.

    Und der Regen hört nicht auf. Ohne Unterlass fällt er auf die Glatze des Gebirges und trommelt seinen monotonen Rhythmus auf dem Dach des Volkswagens.

    Stunden später erwacht Benedikt in völliger Finsternis. Erst weiß er nicht, wo er sich befindet. Eine Pfütze aus Blut zu seinen Füßen erschreckt ihn. Aber es hat aufgehört. Er versucht den Wagen zu starten, aber der ist immer noch tot. Er beschließt, zu Fuß nach Pfürzingen hinunter zugehen. So stolpert Benedikt wenig später klitschnass durch die Nacht. Weil der Wind zu stark bläst, hat er den Schirm zurückgelassen. Bleierne Müdigkeit hängt an seinen Lidern. Jedes Mal, wenn er die Augen widerwillig nach einigen Schritten öffnet, ist er dem tiefen Graben zwischen Steilhang und Straße wieder gefährlich nah. Zurück auf dem Mittelstreifen fallen ihm die Augen wieder zu. Er versucht zu kompensieren, aber torkelt immer wieder dem Graben zu. In Gedanken ist er längst hineingefallen und von dem schlammigen Sturzbach ins Tal gerissen worden. Die verletzte Hand brennt und pocht. Auch der gestoßene Kopf und das zerschrammte Gesicht tun weh. Es ist kalt. Eine leblose Puppe in dem reißenden Strom rechts der Fahrbahn zu sein, ist für ihn gar keine so unangenehme Vorstellung mehr. Aber so weit kommt es nicht. Wildes Hupen ertönt und ein Wagen hält vor ihm. Mit hängenden Schultern und geschlossenen Augen, den Kopf tief im Nacken, bleibt Benedikt im Scheinwerferlicht stehen. Anneliese, ach Anneliese, geht durch seinen Kopf. Ach, gut, dass du da bist... Lächelnd sinkt er in die Knie und lässt sich seitwärts auf den Boden fallen. Anneliese schleift ihren durchnässten Geliebten um das Auto herum, hievt ihn auf den Beifahrersitz und braust heimwärts. Der Anblick dieses zitternden, fast ohnmächtigen Jungen weckt in ihr ein starke Gefühle. Sie sind mit denen verwandt, die Benedikt beim Anblick des traurigen Zeiß hatte.

    In einer Duschwanne kauernd kommt der Gerettete wieder zu sich. Er hat keine Ahnung, wie er hinein gekommen ist. Anneliese steht über ihn gebeugt und lässt heißes Wasser auf ihn herabregnen. Behaglich seufzend sieht er sie an und sagt mit krächzender Stimme:

    „Ich muss weniger trinken."

    Sie nickt.

    „Und auch weniger arbeiten," fügt sie hinzu. Schließlich führt sie ihren dampfenden Freund zum Bett, wickelt ihn in Handtücher und Decken und verlässt leise das Zimmer. Benedikt schläft schon. Er hört nichts von dem Streit, der in den Räumen über seinem Hotelzimmer tobt. Das Brüllen und Kreischen, das Bollern umstürzender Möbel und das Klirren von Glas dringen nicht zu ihm. Nur seltsames, aber beruhigendes Reimen geht in seinem Kopf um, zum Beispiel:

    ‚Wo der Geist kommt, da weichen die Haare.

    Von diesem bedrängt weichen auch Stare,

    verwöhnt von der Sattheit der Jahre,

    als im Wald viele Maden und fürs Nest viele Haare.

    Doch der Geist kam, die Haare gingen aus.

    Es starben Milben und Maden, oh Graus.

    Die Stare fanden nicht mehr Futter, kein Haus.

    Sie blieben fort.

    Erst kahl dann stumm ward der Ort.

    Denn der Geist, der gekommen, war Mord.’

    Nach erholsamen zwölf Stunden erwacht Benedikt mit Halsschmerzen aber gut gelaunt. Dass er im Schlaf gereimt hatte, wundert ihn gar nicht, denn seit er vor ein paar Tagen Annelieses Heinz Ehrhard-Programm in einem Rutsch anhörte, reimen sich seine Gedanken oft automatisch im Stiele Erhards. Er drückt einen Knopf am Kopfende seines Bettes, sagt laut „Ehrhard – Gesammelte Werke – Die Made – Sprecher: Ehrhard – repeat," und prompt beginnt mit einem für Benedikt unnachahmlichen Witz die Stimme des Dichters zu rezitieren:

    Die Made

    Hinter eines Baumes Rinde wohnt die Made mit dem Kinde.

    Sie ist Witwe, denn der Gatte,

    den sie hatte, fiel vom Blatte,

    diente so auf diese Weise

    einer Ameise als Speise.

    Eines Morgens sprach die Made:

    „Liebes Kind, ich sehe gerade,

    drüben gibt es frischen Kohl,

    den ich hol, so leb denn wohl.

    Halt, noch eins! Denk was geschah,

    geh nicht aus, denk an Papa!"

    Also sprach sie und entwich. –

    Made junior aber schlich

    hinterdrein; und das war schlecht!

    Denn schon kam ein bunter Specht

    und verschlang die kleine fade

    Made ohne Gnade. Schade!

    Hinter eines Baumes Rinde ruft die Made nach dem Kinde...

    Benedikt, der im Sitzen gelauscht hatte, lässt sich lachend zurückfallen und ruft: „Oh, wie schade! Oh, wie schade!" Durch das Fenster scheint ihm die Sonne direkt ins Gesicht. Er seufzt und denkt:

    Nein, es gibt nichts Schweres in der Welt. Nicht heute.

    So bleibt er liegen und lauscht den Wiederholungen des Gedichtes, und jedes Mal wenn seine Lieblingsstelle kommt, sagt er laut und gedehnt „Schade!", um sich sofort wieder kichernd im Bett umherzuwerfen. Als ihm etwas später seine Pflichten wieder einfallen, ist es wieder da, das leichte Ziehen in der Herzgegend. Aber er hält sich nicht lange beim Unbehagen auf. Er hat eine Idee. Während er sich wäscht und anzieht, setzt er sie in die Tat um:

    „Computer Stopp – Neu – Sporträder – Mountainbikes – Angebote – auf den Monitor – hm – weiter – weiter – weiter – weiter – halt – zurück – bestellen – Nr. 22 – alle Extras – Bestätigen:"

    Mit seinem Personalausweis, den er einfach einmal vor einem unsichtbaren Sensor am Kopfende des Bettes vorbeiführt, bestätigt er den Auftrag. Gleichzeitig werden dabei seine anatomischen Daten für die Abmessungen des bestellten Rades übermittelt, und seine Bank wird angewiesen, den zu erwartenden automatischen Einzug zu gestatten. Fertig.

    4.

    „... es geschafft hat, dann steht es da, das Menschentier, und stiert in die Welt, ob nicht irgendwer lobhudelnderweise vor ihm Bücklinge macht. Vor ihm, der es geschafft hat. Und dann fletzt es sich hin auf einen hölzernen Stuhl und bekommt im Gesicht diesen freundlich-arroganten Zug, mit dem es dann – Kaugummi kauend – lauscht. Es lauscht den „Weniger als es, nur um von Zeit zu Zeit sein „Guter-Rat-Maschinengewehr zu zücken und loszuballern. Es ballert heraus aus seiner gut ausgebauten, lässig hingeflegelten Stellung, die da heißt: ‚Seht her. Ich hab es geschafft. Ja, seht nur her!’

    Guter Rat ist gar nicht teuer, ist massenhaft umsonst zu haben von masturbierenden Helden. Allerorten spritzen sie ihr beziehungsloses Sperma in die Welt der Opfer, dieser Monster, die begierig alles in ihre Ohren saugen, um auch einst Heldenmütter zu werden, Mütter von Stars.

    Aber diese –äh’- ekelhaften, giftstrotzenden Nachkommen der Paarung von Guter Rat und Opfermonster, sie verkünden nur noch klebrige Lebensweisheiten von den Kanzeln ihrer Postkartenkalender und Platinplatten herunter. Die heilige Hure des Mittelalters und die Sex-Bombs der Neuzeit reichen sich die, die ... nein, werfen die Silikonbälle einander zu.

    Und das Wundern hört auf. Hört auf!

    Hä – das Wunder? Hört das Wunder auf?

    Nein, das Wunder nicht, aber das Wundern über das Wunder das hört auf? Begriffen?

    So hört er auf, der heilige Schrecken. Überall!

    Anstatt sich morgens schon zu wundern, darüber, dass sie tatsächlich erwachen... –

    Benedikt, der direkt hinter dem dozierenden Greis fährt, noch ohne von diesem entdeckt worden zu sein, freut sich über dessen letzte Sätze. Die hat er ausnahmsweise verstanden. Sehr gut sogar. Und dass es nicht stimmt, weiß er auch, denn er wundert sich beim Aufwachen, und zwar fast jeden Morgen.

    -... reißen sie sich, noch schlaftrunken und bevor sie nüchtern werden, ein Blatt vom Sprücheklopfer, und er ballert ihnen die nächste Klischee-Weisheit in den Kopf. So auch heute Morgen weltweit. Tausende Würmer warfen sich gleich nach dem Aufstehen in das konservierte Fleischwort einer alten Hure des Christentums, die mal gesagt haben soll:

    ‚Wer reich werden will, muss geben.

    Nur wer gibt, der empfängt.

    Seien wir heute bereit,

    uns zu jeder Gelegenheit

    mitzuteilen und Liebe zu geben.’

    Da kotze ich drauf – scheiß dogmagammeliges Papsttum – du Wiege faschisstischen Gewürms. Ich will nicht reich werden. Ich bin es. Von Geburt. Und Liebe? Liebe ist nichts, was zu haben oder zu geben wäre! Aber dieses feige Gezücht frommer Denkungsart hockt da, warme Semmeln kauend, vor dem Kalender, schluckt ´s

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