Fliegende Fische
Von Meinrad Braun
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Buchvorschau
Fliegende Fische - Meinrad Braun
Meinrad Braun, geboren 1953, ist Psychotherapeut und lebt in Mannheim. 2005 erschien seine illustrierte Erzählung »Casa dei Nani«, 2006 der Roman »Winterreise« im Axel Dielmann Verlag, Frankfurt, und 2008 die Erzählung »Die künstliche Demoiselle« im Llux-Verlag, Ludwigshafen am Rhein. Im Emons Verlag erschienen bisher die Kriminalromane »Das Schwedengrab« (2006) und »Fürchten lernen« (2007) mit der Figur des Psychiaters Sebastian Sailer.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
Ich danke Madeleine Reckmann für die freundliche und kenntnisreiche Einführung in Rüsselsheimer Details.
© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-676-8
Rhein-Main Krimi
Originalausgabe
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Für Sebastian
May the road rise to meet you,
may the wind be always at your back.
May the sun shine warm upon your face,
the rains fall soft upon your fields.
May the sun make your days bright,
may the stars illuminate your nights.
May the flowers bloom along your path,
your house stand firm against the storm.
And until we meet again may God
hold you in the palm of his hand.
Segen aus Irland
EINS
Irgendwo muss das Ganze angefangen haben. An einem ganz bestimmten Punkt fängt schließlich alles an. Es geht ja nicht einfach immer weiter, eins, zwei, drei bis unendlich. Etwas passiert, das fängt irgendwo an und hört irgendwann auf. Vielleicht hat auch der Koi das Ganze eingefädelt, keine Ahnung. Später habe ich es mir folgendermaßen vorgestellt, und damit bin ich vermutlich ziemlich nahe dran: Es war ein Reh.
Das Reh bewegt sich Richtung Waldrand. Rotbraunes Fell mit etwas Grau. Bei den letzten Bäumen bleibt es stehen, streckt den Hals vor, stellt die Ohren auf. Nur die Geräusche der Nacht, in der Ferne das Rauschen der Stadt, zwischen drei und vier Uhr morgens. Auf seinen langen Beinen stakst das Reh durchs Laub, ab und zu raschelt es. Wenig hier, was man fressen könnte. Es berührt die dürren Blätter ab und zu mit der Schnauze, zieht ein bisschen Luft ein. Dann hebt es den Kopf und wittert. Frisches Gras, nicht weit von hier. Vorsichtig steigt es über die Leitplanke. Weicht mit einem seitlichen Hüpfer einer Coladose aus, über der eine Wolke aus unangenehmem Geruch schwebt.
Ein Stück weiter hinten fliegt eine Eule durch die Schneise zwischen den jungen Buchen, flattert eilig durch die rote Mondscheibe. In den schwarzen Himmel hinein gestochen ganz fein die Sterne. Auf der Autobahn glänzen polierte Splitsteinchen im Asphalt, der noch immer warm ist. Insekten krabbeln darauf herum, unhörbar und unsichtbar. Das Reh überquert die Straße. Mit leisem Klacken über die beiden Spuren. Die Grillen machen eine kurze Pause, feilen wieder weiter, setzen eine Kerbe neben die andere. Ein paar Kilometer entfernt kommt ein Flugzeug herunter: fliegender Teppich, zieht breit vorbei, verschwindet hinter dem Wald, aufgesaugt von der Stille.
Jetzt steht das Reh auf dem Grünstreifen, da wächst das frische Gras, das es gerochen hat. Es senkt den Kopf und fängt an zu fressen. Weiter hinten am Brückenpfeiler jagen sich die Mäuse, pfeifen leise. Ab und zu der Schrei einer Eule, die hinter ihnen her ist. Millionen Spannerraupen raspeln an den grünen Buchenblättern. Dazu das leise Rupfen im Gras.
So bleibt es. Noch dreißig Sekunden.
Ein Käuzchen schreit. Das Reh blickt auf. Ein Licht – kommt näher. Das Reh duckt sich, dreht den Kopf in die Richtung, aus der das Licht herankommt, so schnell kommt, dass das Tier erstarrt. Die Angst staut sich im Rücken, in den Beinen, seine Muskeln werden aufgezogen wie eine Feder. Vor ihm die doppelte Leitplanke, zu breit, um drüber weg auf die dunkle Gegenspur zu springen. Alles ganz hell. Ein Brummen, sehr laut jetzt. Die Scheinwerfer packen zu. Seine Augen füllen sich mit Licht, leuchten rot auf.
Der Mann am Steuer des Toyota versucht seit Stunden wach zu bleiben. Zwischen seinen Oberschenkeln klemmt eine leere Thermoskanne, vermutlich mit Kaffee drin. Eben noch hat er auf die Uhr am Armaturenbrett gesehen, eine Drei darauf, die beiden anderen Ziffern kann man nicht erkennen. Die Straße ist frei, so gut wie kein Verkehr. Er fährt schnell, um wach zu bleiben und um endlich anzukommen. Die Autobahntrasse hat Unebenheiten, der Wagen schwingt auf und ab, die Reifen knallen auf den Stößen der Betonnähte, kleine gummiweiche Schüsse, die den Mann am Dösen hindern. Die Musik hat er schon lange abgedreht. Das Fenster steht offen. In den Wagen strömt der warme Nachtwind, bläst ihm ins Gesicht und lässt seine kurz geschnittenen schwarzen Locken zittern.
Er sieht links über dem Grünstreifen die Augen: leuchten rot auf. Im gleichen Moment springt das Reh auf die Straße und versucht in langen Sätzen vor seinem Wagen vorbeizukommen, scheinbar ganz langsam, extreme Zeitlupe. Aber der Film, in dem der Mann sich befindet, läuft schneller, viel zu schnell. Er reißt das Lenkrad nach links, weg von dem hell angestrahlten Tier. Die Reifen quietschen, das Auto kippt, ein roter Funkenregen sprüht auf den rauen Asphalt, der Wagen pflügt durch den Grünstreifen, knallt gegen die Leitplanke, wird herumgerissen, tritt den Flug an, Richtung Betonpfeiler.
Der Mann, ans Lenkrad gekrallt – sein Film läuft auf einmal sehr langsam –, der Mann sieht vielleicht noch immer das Bild von dem Reh im hellen Scheinwerferlicht, das der Kühler um eine Handbreit verfehlt hat, ein Standbild jetzt, und vielleicht stellt er sich, noch immer in derselben Sekunde, eine Frage. Für die Bearbeitung hat sein Gehirn aber trotz des unglaublich abgebremsten Films keine Zeit mehr, denn der Wagen hat gerade fünf Meter durch die Luft zurückgelegt und prallt jetzt, Dach voran, mit hundert Sachen gegen den Pfeiler der Autobahnbrücke, an der ein großes blaues Schild hängt, auf dem man lesen kann, dass es noch zwei Kilometer zum Frankfurter Kreuz sind.
Das Reh hetzt über die Leitplanke zum Waldrand, hinter ihm ein dumpfer Krach: Glas splittert, Blech staucht sich, Kunststoff bricht, dazu der leidende Ton, den der Betonpfeiler von sich gibt. In diesem Geräusch geht die platzende Thermoskanne unter und das, was der Fahrer vielleicht noch von sich gegeben hat, bevor er starb.
In langen Sprüngen jagt das Reh davon, tiefer in den Wald hinein; so lange, bis seine Angst verbraucht ist, da bleibt es stehen. Hebt den Kopf um zu lauschen: Alles wieder still. In seinen Augen spiegelt sich winzig klein der rote Mond.
ZWEI
Das Blaulicht kann man schon aus drei Kilometern Entfernung sehen, es pulsiert gegen die Autobahnbrücke, die belagerte Festung. Davor Polizei, Krankenwagen, Feuerwehr. Das ganze Aufgebot. Ich trete aufs Gaspedal. Der schwere Diesel grollt, gibt dem leeren Abschleppwagen einen Stoß, lässt ihn vibrieren wie eine Bassgeige. Den Funk einschalten. Durch das Rauschen drehe ich auf die Frequenz der Polizei und drücke den Knopf für das gelbe Blinklicht auf dem Kabinendach. Adrenalin. Macht mich immer fit, wenn was los ist. Ich kann so ziemlich alles ab in dieser Hinsicht, rege mich nicht groß auf, wenn was passiert. Nur Langeweile kann ich nicht ertragen, die macht mich fertig. Während die Autos auf der linken Spur an mir vorbeiflitzen, suche ich weiter nach dem Polizeifunk, es quiekt und rauscht, aber ich kriege ihn diesmal nicht rein. Gewohnheit. Ohnehin immer dasselbe, was da geredet wird, paar Witzchen dazwischen. Also abschalten, auch gut. Bulle sein – überlege ich mir für einen Moment. Mit meiner Veranlagung hätte das vielleicht was werden können: Klare Vorschriften, straffe Führung. Hieß immer, dass mir das guttun würde. Man verdient zwar kaum was, ist dafür aber dauerversorgt: bewegliches Staatseigentum.
Die Frühpendler sammeln sich am Frankfurter Kreuz. Die tägliche Blechkarawane drängelt im Morgengrauen zusammen. Alles enorm hässliche Autos, tonnenschwer, fette Raumwunder mit gefährlich glotzenden Fressen, genau wie die gestressten Spießer, die darin sitzen. Ein Dach nach dem anderen rutscht unter mir durch, schert ein, überholt noch mal schnell für den besten Platz im Stau da vorn.
»Hallo, Richie, kannst du gleich raus?« Ötün. Hatte es ziemlich eilig vorhin. »Muss schnell gehen. Vollsperrung am Kreuz, machst du das?«
Ötün liegt im Bett mit seiner Neuen.
Kann sich auf mich verlassen. Ein Anruf um diese Zeit, das geht bei mir immer, solange die Karte noch funktioniert. War überhaupt meine Erlösung, die Erfindung des Handys. Dauernd habe ich Sachen liegen gelassen früher, Verabredungen vergessen.
Heute Nacht hat mich das Klingeln noch nicht mal geweckt. Ich wollte die neue Festplatte ausprobieren, war deshalb in meiner Wohnung, wenn man das so nennen kann. Drei Stunden lang, meine Augen haben sich angefühlt wie eingelegt in Aspik, obwohl es blöde ist, offline spielen zu müssen. Trotzdem, der Rechner hatte endlich ein bisschen Hubraum. Die Extraprämie für den Fischzug heute Nacht reicht vielleicht, um das Ding vollends zu bezahlen. Ötün ist großzügig, wenn er nachts keine Lust hat. Seitdem Nesche da ist.
Den Fuß vom Gas. Die Bremslichter leuchten nacheinander auf, als wären sie hintereinander geschaltet, aufgeregte Warnblinker gehen an. Hilfe! Fahr mir bloß nicht hintendrauf!
Vor mir, über den Bergen, wird es heller. Gute Zeit, die letzte Stunde vor Tagesanbruch, wenn man nachts fitter ist als am Tag und einen Biorhythmus hat wie ein Colaautomat.
Ein schwarzer Mercedes. Kommt mit einem Affenzahn auf der Überholspur angebraust, bremst zackig ab, um nicht auf die anderen aufzufahren, die da bereits aufgereiht stehen, schert so dicht vor mir ein, dass ich tatsächlich auf die Bremse tippen muss. Arschloch. Zweimal aufs Horn drücken. Meine Truckposaune. Reicht für ein Linienschiff. Kann leider nicht sehen, wie es den Typen im Benz zusammenreißt. Rechts rüber auf den Standstreifen jetzt, ich brumme am Stau vorbei. Gehe auf dreißig herunter, um nicht einen von den Idioten umzufahren, die bei so was gern aussteigen, um bessere Sicht auf den Unfall zu haben.
Fehlen nur ein paar träge Monster da oben an der Brüstung, die hätten auf der Autobahnbrücke jetzt ganz natürlich gewirkt. Die Baumkronen pulsieren in Blau, darüber der orangefarbene Mond. Sieht aus wie ein Fehler in der Grafik. Feuerwehr und Notarztwagen stehen hintereinander auf der linken Spur. Die Polizei winkt mit Kellen rum, rote Glühwürmchen drin, beide Spuren sind blockiert. Der Notarztwagen hat als Einziger sein Blaulicht nicht an. Rampe zu, Innenbeleuchtung aus. Tot also. Nur noch aufräumen.
Ein Polizist, orange gestreifte Kutte, winkt mich mit der Kelle ran. Das Fenster runterkurbeln, beuge mich ein Stück raus.
»Firma Yilmaz? Sind Sie das?«
Der Grüne sieht gleich wieder auf die Straße zur Schlange rüber, Verantwortungsträger. Gesichter stieren weiß aus den Autofenstern, pumpen mit den Mündern.
»Bin ich.«
Werde weiter gewunken.
Ich ziehe an meiner Zigarette und blase einen Rauchschwaden zum Fenster raus, ehe ich es wieder hochdrehe, brumme langsam vor bis zum Ende der Schlange. Direkt beim Unfallwagen winkt noch ein Grüner. Halt, eine Frau. Tatsächlich. Immer mehr Frauen gehen zu den Bullen. Stoppen, Handbremse ziehen.
Da liegt der Wagen. Ziemlich platt. Ein Cabriolet. Nein: Das Dach ist ab. Die Feuerwehr hat es mit der Rettungsschere abgetrennt, herausgesägt eher, der Wagen ist bis auf die Sitze runter flach gequetscht. Am Brückenpfeiler eine frische, drei Meter lange Prellmarke. Wohl kein Selbstmörder diesmal, die gehen die Sache immer frontal an. Der Anblick erinnert an eine Sardinendose, auf die einer mit einer großen Schuhnummer draufgetreten ist. Ich springe vom Trittbrett. Lasse den Motor weiternageln.
»Sie nehmen den Wagen mit?«
Die Polizistin hat blaue Augen und Sommersprossen. Ein paar lange blonde Fransen hängen unter ihrer Dienstmütze raus.
»Wenn Sie nichts dagegen haben.«
Mein Grinsen und der Blick auf die obere weibliche Etage, bloß so als Reflex – sie hat ja ohnehin die Leuchtkutte über –, macht ihr Gesicht noch um ein paar Grad unfreundlicher.
»Wir brauchen Ihren Ausweis. Gehen Sie zu dem Polizeifahrzeug.« Schubst mich mit dem Kopf, ein-, zweimal rüber zu dem grünen VW-Bus auf dem Standstreifen. »Und stellen Sie den Motor so lange ab, ja?« Schaltet den Blickkontakt aus, dreht sich weg.
Na schön. Wieder hoch aufs Trittbrett, Schlüssel rausziehen. Dann trotte ich zu dem Bus hinüber, gucke durch die offene Schiebetür: Zwei Beamte hocken drin, schreiben.
»Der Abschleppwagen«, melde ich mich an. Tippe »Zu Diensten« an meine Baseballkappe.
»Wurde Zeit«, müffelt der Ältere mit dem Seehundschnauzer – ein Markenzeichen für Polizisten finde ich, genau wie Klobrille bei Lehrern –, prüft meine Erscheinung, kurzer Blick. Der andere nimmt Ausweis und Führerschein in Empfang, die ich ihm hinstrecke, langsam und konzentriert wie die fehlenden Buben für einen Grand Hand. Legt die Plastikkarten auf das Klapptischchen vor sich, ohne dabei aufzublicken. Dann fängt er wieder an zu schreiben. Im Hintergrund quäkt der Polizeifunk. Eine Streifenwagenbesatzung erzählt umständlich und aufgekratzt, wo sie gerade langfahren.
»Der muss in die Autobahnmeisterei«, sagt der Seehund. »Hinter dem Kreuz. An Langen Mörfelden vorbei, bei der Raststätte Erzhausen.« Ob ich wisse, wo das sei?
»Sicher.«
»Die wissen Bescheid dort. Hier ist Ihr Ausweis wieder und der Auftrag. Wenn Sie draußen Hilfe brauchen, sprechen Sie uns an oder die Feuerwehr. Gute Fahrt.«
Einen Finger dienstlich an die Kappe, und ich drehe ab. Wie ich um den Bus herum bin, werfen zwei Feuerwehrleute gerade die Reste des Wagendachs auf das Wrack: Bang! Gucken mich nicht an dabei. Ich mache eine Runde um den plattgedrückten Wagen, inspiziere. Die Räder sind alle noch dran.
Autos abschleppen kann man auch mit – wie heißt das noch? – erheblichen Konzentrations- und Gedächtnisproblemen. Die paar Papiere mitnehmen, das geht schon klar, und natürlich die Karre selbst. Es gibt vieles, wofür man sein Gedächtnis kaum braucht, kann auch störend sein, ganz nebenbei.
Drüben auf der anderen Seite der Autobahn der Stau der Gaffer. Sauber aufgereihte bunte Glasbehälter mit aktiven weißen Gesichtsquallen drin, die Münder gehen im Frühlicht hinter den Scheiben auf und zu, als würden sie gerade gefüttert. Im Aquarium, wo ich jeden Winter Stammgast bin, dort wird nämlich zuverlässig geheizt, man kann sich auf den Bänken den ganzen Tag vertreiben, also dort haben sie keine Quallen, sind schwer zu halten, habe ich mal gelesen, gehen schnell ein, wenn man nicht alles richtig macht.
Wie ich oben auf der Ladefläche stehe, die Schlepptrosse klarmache, öffnet sich drüben die Heckklappe am Notarztwagen. Die Innenbeleuchtung geht an, fällt auf zwei Sanitäter, die hieven eine Trage raus, was Längliches ist drauf, in schwarze Plastikfolie eingewickelt. Sie legen die Trage auf den Standstreifen neben den Polizeiwagen, dicht an die Leitplanke. Na eben. Hab ich mir schon gedacht.
Einsteigen, den Motor starten. Ehe ich zurückstoße, um die Rampe an das Wrack ranzubringen, lasse ich den Notarztwagen passieren, der biegt auf die leere Autobahn Richtung Frankfurter Kreuz ein.
Das Auto kommt erst mal an die Winde, und dann hoch damit auf die Rampe. Geht alles glatt, die Vorderräder blockieren, aber die hinteren drehen sich noch. Das abgetrennte Dach strippe ich mit einem Seil oben auf dem Wagen fest. Ein einziges Chaos dort drin. Zersplitterter Kunststoff und verbogenes Blech, der zerdellte Reif vom Lenkrad. Auf dem Fahrersitz dunkle Flecke. Ein zweites Mal sehe ich nicht rein. Ich springe von der Rampe, steige ins Führerhaus. Niemand kümmert sich um mich außer vielleicht die Gaffer, aber um die kümmere ich mich nicht. Die Feuerwehrleute trinken noch Kaffee, stehen mit den Tassen in der Hand neben ihrem Fahrzeug, lassen sich von der Polizei zur Eile antreiben. Jemand lacht fortwährend, immer die gleiche Stimme. Tür zugeknallt und los, an den Feuerwehrleuten vorbei. Am Rand meines Blickfelds sehe ich noch, wie einer von ihnen eine Coladose auf den Standstreifen wirft, ehe er einsteigt.
Dann bin ich weg, auf Tour. Der Motor hämmert ans Bodenblech unter meinen Füßen, bringt es zum Singen. Ich drücke mein Knie gegen die Blechhutze: Will es spüren, so gehen die Vibrationen hoch bis in meinen Bauch, lassen die Neurotransmitter in mein Hirn einströmen, das Zeug, von dem ich angeblich nicht genug habe. Sprudelt aber umso heftiger, wenn was los ist.
Schulversager. Der Junge ist hyperaktiv, Frau Salewski, der kann nix dafür! Der ist nicht bloß verträumt, der ist krank! Das macht es auch nicht besser, Herr Doktor, traute sich Frau Salewski zu antworten, trotzig in ihrem Unglück und mutig vom ersten Fläschchen Jägermeister des Tages. Ich kann Mama da nur recht geben. Rückblickend, sozusagen. Immerhin: eine schlechte Mittlere Reife nach drei Ehrenrunden. Habe ich ausschließlich meinen aufgehellten Stunden in schulischen Krisenzeiten zu verdanken. Wenn es richtig eng wurde, fing ich nämlich an durchzublicken und gab eindrucksvolle Zeugnisse meiner Intelligenz von mir: ein Gehirn wie ein Rennmotor, zieht erst bei hohen Drehzahlen richtig durch. Und den Pädagogen verdanke ich viel – man muss dem Jungen doch 'ne Chance geben, der ist intelligent! –, besonders Herrn Assmann. Lies das, Richard, ich weiß, dass du was auf dem Kasten hast. Gute Bücher sind durch nichts zu ersetzen! Ja. Ich hab's ihm schlecht gedankt, ich weiß. Obwohl einige davon wirklich nicht übel waren, hab leider vergessen, welche das gewesen sind.
Motoren bringen mich immer zum Singen. Das Blech schwirrt an meiner rechten Kniescheibe, das Schwirren wird in den Schädel weiter geleitet, dort wird es weicher, musikalischer, wie der Streicherteppich in solchen altmodischen Filmen. Dazu passt was von Robbie Williams, so ein alter Sinatra-Song aus den Fünfzigern oder weißgottvonwann, aber gut: »I know I stand in line until you think you have the time to spend an ev'nin' with me …« Ist eigentlich zweistimmig, glaube ich, oder? Ich halte den Schlepper mit seinem Dreihundert-PS-Orchester per Gaspedal in der richtigen Tonlage. »… Then afterwards we drop into a quiet little place and have a drink or two …« Jedes Wort weiß ich noch, na bitte.
Die Sonne. Trennt die Autobahn vom grauen Dunst, dort drin hingen vor Kurzem noch ein paar Sterne. Sehr heiß und rot kommt sie rauf, ein himmlischer Schneidbrenner, sticht durch nach Westen in die Ebene. In der Luft hängt schon eine Ahnung von blauem Himmel.
Mir geht beim Singen nun doch der Text aus, der Diesel prasselt allein weiter. Schalte das Radio an. Wildes Technogewummer quillt raus. Drücke die Wahltasten nacheinander durch, beim dritten Sender mit Ötüns lamentierender Türkenmusik gebe ich es auf, sehe auf die Uhr. Viertel nach fünf. Keine Lust, nach was anderem zu suchen, und Senderfrequenzen kann ich mir nicht merken, das ist bei mir nicht drin.
Im Internet gibt's Chatrooms für hyperaktive Erwachsene: Leiden auch Sie am ADS-Syndrom? Waren Sie ein hyperaktives Kind? Sind Sie zerstreut? Nennen sich Adies. Nehmen das Ganze äußerst positiv, trösten sich gegenseitig wegen ihrer Macke: mit Mozart, Einstein, Churchill und Bill Clinton. Die waren alle ADS-krank und wussten's nicht. Vielleicht ist deshalb aus ihnen was geworden. Aus mir leider nicht,