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Das zweite Band
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eBook276 Seiten3 Stunden

Das zweite Band

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Über dieses E-Book

Dagolf Sennwang erhält durch ein Tonband mit der Lebensbeichte seines plötzlich verstorbenen Onkels nicht nur eine interessante Lektion in Zeitgeschichte, sondern auch brisante Informationen über Personen und Ereignisse, die noch in der Gegenwart eine irritierende Rolle spielen. Da ist beispielsweise Günther Buschmann, Ex-Agent und jetzt Inhaber einer Firma für Mikroelektronik, der Sennwang den Posten des IT-Leiters anbietet - und den dieser nicht zuletzt wegen Buschmanns Tochter, der attraktiven Maren, annimmt. Während die Liebesdinge gut vorankommen, wird es in Sennwangs Umfeld zunehmend ungemütlich. Mehrere Unglücksfälle, merkwürdige Vorgänge und ein obskurer Bekannter aus früheren Tagen bringen das Paar in größte Gefahr.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum21. Nov. 2017
ISBN9783746019536
Das zweite Band
Autor

Wolfgang Sanden

Wolfgang Sanden, 1946 in Hildesheim geboren, übte nach Abitur und Mathematikstudium dreißig Jahre lang verschiedene Berufe in der IT-Branche aus. Unter anderem war er als Programmierer, Systemanalytiker, Berater, Qualitätsmanager und Ausbilder tätig. In jener Zeit konnte er sich dem Schreiben nur sporadisch widmen. Heute arbeitet Wolfgang Sanden als freier Schriftsteller.

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    Buchvorschau

    Das zweite Band - Wolfgang Sanden

    Nachspiel

    1.

    Bestürzt legte Dagolf Sennwang das Telefon auf die Ladestation zurück. Mit der rechten Hand fuhr er sich über das Auge, starrte ins Leere.

    Onkel Hans war tot.

    Diese völlig unerwartete Nachricht, die ihm sein Bruder Gangolf soeben hatte zukommen lassen, machte Dagolf hilflos. Vor etwa drei Wochen hatte er doch noch mit Onkel Hans telefoniert. Und der hatte ihm dabei unter anderem gesagt, daß er mit seinem Gesundheitszustand – „meinem Alter entsprechend" – sehr zufrieden sei. Er bewege sich ja auch regelmäßig, jeden Morgen Gymnastik und bei trockenem Wetter hinaus zu einem Läufchen – noch vor dem Frühstück.

    Die Todesursache kannte sein Bruder nicht. Ein Günther Buschmann habe ihn lediglich über das Ableben informiert – offenbar ein alter Bekannter des Onkels. Und daß die Trauerfeier am kommenden Freitag um 11 Uhr in Gerbersdorf sei. Auf Dagolfs Bemerkung hin, dann werde man sich ja endlich einmal wiedersehen, wenn auch aus einem wenig schönen Anlaß, hatte der Bruder ein bißchen herumgedruckst, um ihm schließlich zu eröffnen, daß er, Gangolf, nicht kommen werde. „Weißt du, die Entfernung. Das Kaff liegt doch ziemlich abseits. Warum Onkel Hans bloß dahin gezogen ist?"

    Jetzt erst fiel Dagolf etliches ein, was er darauf hätte antworten sollen. Nämlich, daß erstens das mittelfränkische Städtchen einen Autobahnanschluß habe, daß zweitens Hans Raabe ihr Lieblingsonkel gewesen sei, und drittens, daß die Nichtteilnahme leider nur zu gut zu des Bruders Verhalten in den zurückliegenden Jahren passe. Er habe sich doch um den Onkel überhaupt nicht mehr gekümmert. „Der einzige, der ihn eigentlich noch angerufen hat, war ich", genau das hätte er sagen müssen. Und daß sich der Onkel deswegen am Telefon schon das eine oder andere Mal etwas enttäuscht geäußert habe.

    Doch statt dieser mehr als angebrachten Vorwürfe lediglich ein beklommenes „Schade, aber wenn du meinst". Schäbig, schäbig, Gangolfs Verhalten. Zudem auch ärgerlich, denn nun würde er bei der Beerdigung als einziger Vertreter der Familie dastehen. Der Tote war, wie er selbst auch, unverheiratet und kinderlos geblieben. Ob außer diesem Buschmann überhaupt noch jemand kommen würde? Ach, eine traurige Veranstaltung in doppeltem Sinne war zu befürchten.

    Zum letzten Mal gesehen hatte Dagolf seinen Onkel vor circa vier Jahren bei dessen Besuch in Niedrich. Meine Güte, da hatte er ja noch bei den Chemischen Werken gearbeitet, und Onkel Hans wohnte bereits in Gerbersdorf, wohin er bald nach seiner Pensionierung gezogen war. Von Berlin in eine Kleinstadt – ganz verstanden hatte das Dagolf nicht. Aber vielleicht stand einem ja nach jahrzehntelangem Herumreisen im diplomatischen Dienst der Sinn nach Ruhe und Beschaulichkeit? Einen guten Eindruck hatte der Onkel bei der Begegnung gemacht: immer noch schlank, aufrecht, volles graumeliertes Haar, wache Augen, schlagfertig wie eh und je. Doch was kann nicht alles in vier Jahren passieren? Man steckt eben nicht drin. Aber daß Hans Raabe, der jüngere Bruder seiner Mutter, genau einen Monat vor seinem 71. Geburtstag gestorben war, wollte Dagolf Sennwang noch immer nicht so recht in den Kopf.

    Als Kinder hatten sie Onkel Hans mit Jubel begrüßt, wenn er wieder einmal auf Heimaturlaub kam. Er wurde sofort mit Beschlag belegt und mußte von seinen Abenteuern in aller Welt erzählen. Sicherlich war vieles davon erfunden – Gangolf, acht Jahre älter als Dagolf, äußerte manchmal hinterher seine Skepsis gegenüber besonders wilden Geschichten –, aber während des Erzählens hingen sie an den Lippen des Onkels und konnten nicht genug bekommen. Die Eltern mußten ihn meistens befreien: „Nehmt doch euren Onkel nicht andauernd in Beschlag. Er ist nicht nur euretwegen hier." Ja, Hans Raabe war ein begnadeter Märchenerzähler gewesen – auch für Erwachsene.

    An Dagolfs unfreiwilligen Abenteuern hatte er sich übrigens immer sehr interessiert gezeigt. Aber vielleicht hatte er seinem Neffen, eingedenk eigener Erfindungsgabe, gar nicht alles geglaubt? Wenn es tatsächlich so gewesen sein sollte, spüren lassen hatte der Onkel es ihn jedenfalls nicht. Die Aulenstein-Ereignisse mit ihrem geheimdienstlichen Hintergrund hatten es ihm damals besonders angetan. Richtig mitgegangen war er, direkt ein bißchen so, als ob er selbst am liebsten dabei gewesen wäre. Einfühlende Phantasie, darin hatte wohl die hohe Kunst des lieben Geschichtenerzählers bestanden.

    2.

    Der Friedhof lag am Rande von Gerbersdorf. Nach dem Verlassen der Autobahn war Dagolf Sennwang durch eine ziemlich langweilige Landschaft gefahren. Plattes Ackerland, ein paar Waldzungen, ein so großspuriges wie häßliches Einkaufszentrum auf grüner Wiese. Der Ort selbst eher ein Straßendorf mit ein paar alten Fachwerkhäusern inmitten einer ansonsten kaum erwähnenswerten Bebauung. Wieder stellte er sich die Frage: Warum gerade dieses Nest?

    Der kleine Parkplatz neben dem Friedhofseingang war überfüllt. Dagolf mußte wenden und die Straße ein Stück zurückfahren. Halb auf dem Bürgersteig stellte er sein Auto ab.

    Welch ein schöner Märztag. Ein wolkenloser Himmel in Frühlingsblau und eine kühle Luft, die das Atmen angenehm machte. Die kleine, moderne Trauerhalle mit ambitioniertem Schrägdach befand sich wenige Schritte hinter der Pforte. Für Dagolf nicht mehr ganz so überraschend – weshalb denn sonst die vielen Autos? –, drängte sich eine große Anzahl von Leuten auf dem kiesbestreuten Vorplatz, die allermeisten schwarz gekleidet. Von wegen, er allein mit Buschmann! Viele standen in Grüppchen, etliche schauten dem Ankömmling neugierig entgegen.

    Dagolf nickte verhalten in die Runde, hielt aber Abstand. Er bemerkte, daß man sich etwas zuflüsterte. Gleich darauf löste sich aus der Menge ein Mann, weißhaarig und wohl im Alter von Onkel Hans, und kam entschlossen auf ihn zu.

    „Sie müssen Gangolf sein. Dabei streckte er ihm die Hand mit einem flüchtigen Lächeln hin und ergänzte: „Buschmann, Günther Buschmann, ein alter Freund Ihres Onkels. Mein herzliches Beileid.

    „Danke, vielen Dank. Aber ich bin der jüngere Neffe Dagolf – Dagolf Sennwang. Mein Bruder ist heute leider verhindert." Eigentlich blöd, Gangolf auf diese Weise Absolution zu erteilen, dachte er im nächsten Moment. Aber auf die Familie ließ man Fremden gegenüber eben nichts kommen.

    „Folgen Sie mir doch bitte, ich möchte Ihnen ein paar gute Bekannte Ihres Onkels vorstellen." Damit bahnte sich Buschmann energisch den Weg zwischen den Leuten hindurch bis vor den Eingang der Trauerhalle. Die dort wartenden Personen drückten Dagolf unter teils gemurmelten, teils deutlich artikulierten Beileidsbekundungen die Hand.

    „Ihr Onkel war ein großartiger Mensch. Wir sind über sein völlig unerwartetes Ableben alle ziemlich erschüttert, versicherte man ihm. „Er ist beim Joggen einfach umgefallen. Bei aller Schrecklichkeit – eigentlich ein schöner Tod. Eine Frau behauptete sogar: „Der Hans hat viel von Ihnen erzählt."

    Glücklicherweise erschien der Friedhofsdiener, öffnete die Flügeltür und lud mit einer sparsamen Geste zum Betreten des Gebäudes ein. Im Vorraum lag auf einem schmalen Pult das Kondolenzbuch aus, vor dem sich nun eine kleine Schlange bildete. Dagolf ging direkt zur Halle durch. Das Tageslicht wurde vom vielfarbigen Glas der langen, schmalen Fenster kaum behindert, so daß der Raum von lebendiger Helligkeit erfüllt war. Selbst die auf einem Podest ruhende und von einem Blumenmeer umwogte Urne verlor auf diese Weise etwas von ihrem leisen Schrecken.

    Dagolf war durch den kurzen Mittelgang nach vorne geschritten. Mit in Bauchhöhe gefalteten Händen betrachtete er die aufwendige Dekoration, ohne sie richtig wahrzunehmen. Hängen blieb sein Blick am großen Porträtfoto des Verstorbenen, das man etwas seitlich zwischen zwei hohen Kerzen auf einen Bilderständer gesetzt hatte. Ja, so hatte er ihn in Erinnerung, seinen Onkel Hans.

    Als nun andere Trauergäste hinzutraten, wendete er sich ab und suchte sich auf der linken Seite einen Platz in der ersten, noch leeren Reihe – nicht in der Mitte, sondern mehr zu den Fenstern hin. Aus seinen Gedanken, die eigentlich keine wirklichen Gedanken waren, sondern eher ein Auf- und Absinken unscharfer Vorstellungen, Empfindungen und Bilder, wurde er von Buschmann gerissen.

    „Ich darf mich doch neben Sie setzen? Er wartete eine Antwort gar nicht erst ab. „Ich habe mir erlaubt, die Trauerfeier zu organisieren, raunte er Dagolf zu. Sein rechter Zeigefinger beschrieb dabei einen vagen Kreis. „Nur zu Ihrer Information – ich habe für nachher in der ‚Post‘ einen Raum reservieren lassen. Keine Sorge, das habe alles ..." Seine letzten Worte gingen im einsetzenden Orgelspiel unter.

    Durch eine halb verborgene Tür betrat mit feierlicher Miene der Pfarrer, lang und schmal in seinem schwarzen Talar, den Raum. Vor der Urne verbeugte er sich, verharrte für einen Augenblick in kurzem Gebet und ging dann zum Rednerpult hinüber. Die Trauerfeier begann.

    Die von manchem unterdrückten Schluchzen begleitete Ansprache zeichnete Hans Raabes Erdenleben in wenigen, jedoch bewegenden Worten nach und nahm dabei mehrfach Bezug auf einen Brief des Apostels Paulus. Sehr viel bekam Dagolf Sennwang nicht mit, aber zwei Textstellen machten doch Eindruck auf ihn. Die eine lautete Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk, die andere Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

    Nach einem weiteren Lied, von der Trauergemeinde kräftig mitgesungen, erhob sich Buschmann und trat nach vorn. In freier und fester Rede gedachte er des toten Freundes. Wie sie sich kennengelernt hatten damals in München, wie sehr man sich auf Hans habe verlassen können – im Dienst und in privaten Dingen. Und daß man sich leider – aber so spiele das Leben nun einmal – später aus den Augen verloren, dann aber gottseidank vor ein paar Jahren wiedergefunden habe. Schnell habe sich der Freund hier im beschaulichen Gerbersdorf eingelebt, was die große Trauergemeinde nur zu gut bezeuge. Beliebt sei er gewesen – ja, geliebt. Etwas, das sich wie ein mühsam ersticktes Kichern anhörte und sofort in ein lautes Räuspern überging, ließ Buschmann für den Bruchteil einer Sekunde stutzen. Dann fuhr er mit noch lauterer Stimme fort: „Hans Raabe, wir werden dich nicht vergessen, du wirst in unseren Herzen weiterleben." Noch eine Verbeugung zur schwarzglänzenden Urne hin, dann kehrte er an seinen Platz zurück. Beim Hinsetzen drückte er Dagolfs Hand.

    Was Dagolf bei der Predigt, dort noch nicht ganz faßbar, und nun recht deutlich bei Buschmanns Rede aufgefallen war: Die Bonner Jahre und die vielen Auslandsaufenthalte im diplomatischen Dienst hatte man überhaupt nicht erwähnt. Statt dessen Anspielungen auf knifflige und gefahrvolle Situationen, die zum Wohle des Landes zu bestehen gewesen seien. Das bekam er nicht auf die Reihe. Unklar blieb ihm auch der Umstand, daß Buschmann seinen Onkel in München kennengelernt hatte. Er würde ihn nachher in der „Post" deswegen einmal fragen.

    Unter den Klängen der Orgel zogen sie zum Seitenausgang hinaus ins Freie. Vorweg mit der Urne der Friedhofsdiener, als nächstes der Pfarrer, dann Dagolf und Buschmann, direkt hinter ihnen eine einzelne, verschleierte Dame und schließlich in langer Reihe die übrige Trauergemeinde.

    So grau und unbedeutend Dagolf der Ort erschienen war, so hübsch kam ihm jetzt der Friedhof vor. Auf sorgfältig gepflegten Gräbern und zwischen braunem Laub blühten Krokusse, Primeln, Märzenbecher und Lenzrosen. Rhododendronblätter glänzten in der Sonne. Ein Eichhörnchen wischte vor ihnen über den Weg und jagte den Stamm einer hohen Fichte hinauf. In den Bäumen zwitscherten Vögel. Hier möchte man auch begraben sein. Im nächsten Moment kam Dagolf dieser Gedanke schon wieder ganz komisch vor. Doch befand er sich denn nicht in einer merkwürdigen Stimmung?

    Zweimal bewegte sich der Zug um die Ecke, dann machte er vor einem frisch ausgehobenen Loch, halb unter einer noch kahlen Linde, halt. Der Pfarrer wartete, bis jeder einen Platz gefunden hatte. Nach weiteren tröstenden Sprüchen und dem gemeinsamen Vaterunser wurde die Urne hinabgelassen.

    Nach dem Pfarrer nahm Dagolf die kleine Schaufel in die Hand und warf dreimal Erde in die Öffnung. Ein kurzer Moment des Verharrens, eine leichte Verbeugung, dann machte er Buschmann Platz und stellte sich seitlich des Grabes auf. Die Trauergäste zogen an ihm vorüber, drückten ihm dabei die Hand. Das nahm einige Zeit in Anspruch. Einige Frauen umarmten ihn sogar. Nicht so die Verschleierte, die sich gleich darauf rasch entfernte.

    Als es endlich vorbei war, wartete Dagolf zusammen mit Buschmann, dem Pfarrer und ein paar anderen, bis der Friedhofsdiener das Loch gefüllt und darüber einen kleinen Erdhügel geformt hatte. Von einem etwas abseits stehenden Wagen, den Dagolf noch gar nicht bemerkt hatte, holte der Mann nach und nach Kränze und Blumengestecke, die bald die gesamte Grabstätte und das Umfeld gnädig bedeckten. Buschmann zog die eine oder andere Schleife glatt und machte auf einzelne Inschriften aufmerksam. Die Namen sagten Dagolf natürlich nichts, doch allein die große Zahl bedeutete ihm einen gewissen Trost: Onkel Hans hatte in den letzten Jahren wenigstens kein einsames Leben geführt. Warum hätte es aber auch anders sein sollen? Ein Diplomat wußte Kontakte zu knüpfen, er durfte gar nicht eigenbrötlerisch sein.

    Auf dem Weg zum Ausgang bemerkte Dagolf einen Mann, der das Begräbnis offenbar aus der Ferne beobachtet hatte. Der bewegte sich nun zwischen zwei Grabreihen fast parallel zu ihnen und schaute dabei mehrfach herüber. Ein Bartträger mit dunkler Brille, soviel konnte Dagolf erkennen. Im übrigen ihm völlig unbekannt – wie hätte es auch anders sein können? Während Dagolf mit seiner Begleitung nach rechts abbog, entfernte sich der Fremde schnell in entgegengesetzte Richtung.

    „Zur ‚Post‘ ist es nicht weit. Sie fahren mir am besten hinterher, meinte Buschmann, als sie aus dem Friedhof traten. „Wo stehen Sie?

    3.

    Erfreulicherweise hatte man Dagolf Sennwang einen Platz am Zehnertisch von Buschmann und Pfarrer Fleischauer freigehalten. Auf den Tischen standen Kerzen und kleine Töpfe mit Primeln. Als sich die allermeisten gesetzt hatten, begab sich Buschmann in die Mitte des Raumes und verkündete sehr vernehmbar, daß die „lieben Anwesenden" die Auswahl zwischen Nürnberger Rostbratwürsten und Blauen Zipfeln hätten, beides mit Brezeln serviert.

    „Ja, bei uns geht’s fei zünftig zu, sagte der gegenübersitzende Fleischauer lächelnd. Er ließ, anders als vorhin bei der Trauerfeier, seinem fränkischen Tonfall freieren Lauf. Die Blauen Zipfel, klärte er den ahnungslosen Dagolf auf, seien in Essigsud gegarte Bratwürstchen. Sehr empfehlenswert. Dazu passe ein kräftiges Helles aus Franken. „Hier in der ‚Post‘ gibt’s des gude Weißenoher.

    „Wenn Sie keine Wurst mögen oder hinterher noch etwas Appetit haben – ich habe auch Blechkäsekuchen bestellt, ergänzte der nun links neben ihm sitzende Buschmann. „Kaffee und ein Schnäpschen können Sie natürlich auch bekommen.

    „Ich muß nachher noch nach Hause fahren, wehrte Dagolf ab. „Aber ein Glas trinke ich schon.

    Lange mußten sie auf das Essen nicht warten – die zwei Kellnerinnen arbeiteten sehr zügig, und der Wirt half auch noch ein bißchen aus. Dagolf hatte sich für die Nürnberger entschieden. Er aß das halbe Dutzend mit viel Senf und großem Genuß. Das Bier schmeckte tatsächlich, so daß er zu des Pfarrers Vergnügen noch ein kleines Glas nachbestellte.

    Auf Dagolfs Bitte hin berichtete Fleischauer in taktvoller Weise über Hans Raabes Ableben. Er müsse wohl beim morgendlichen Lauf durch den Hainberg, ein großes, parkähnliches Gelände und ein Eldorado für Freizeitsportler, einen Herzschlag erlitten haben. „Ihr Onkel war noch sehr sportlich und hielt sich eisern fit." Ein früher Spaziergänger mit Hund habe ihn mitten auf dem Weg liegend gefunden. Nach Aussage des Arztes sei es ein plötzlicher Herztod gewesen, keinerlei Leiden also. So etwas komme durchaus auch schon in jüngerem Alter vor.

    „Sehr schade, daß Ihre Tochter nicht dabei sein kann, sagte unvermittelt die adrette Frau mittleren Alters an Dagolf vorbei zu Buschmann. „Er hat eine äußerst hübsche Tochter, wissen Sie, richtete sie das Wort dann an Dagolf selbst.

    „Maren ist darüber ganz unglücklich, antwortete, sich ebenfalls vorbeugend, der Vater. „Hans war für sie wie ein Onkel. Deshalb hat sie sein Tod sehr berührt. Schon der zweite Schicksalsschlag in so kurzer Zeit. Sie hockt den ganzen Tag in ihrem Zimmer und brütet vor sich hin. Ich mache mir ernstliche Sorgen. Damit wendete sich Buschmann einem Ehepaar auf der anderen Tischseite zu.

    „Die Maren hat wirklich Pech, ließ sich die Frau halblaut vernehmen. „Ihr Freund ist Anfang des Jahres tödlich verunglückt. Nachts mit dem Auto auf gerader Strecke. Keiner weiß, warum. Das arme Ding. Hübsch, so schrecklich talentiert, keine materiellen Sorgen, und dann so etwas. Sie seufzte. „Das Glück kann man eben nicht kaufen."

    Dagolf Sennwang nickte und blickte einen Moment vor sich hin. Leichte Müdigkeit bemächtigte sich seiner. Immerhin war er schon seit sechs Uhr auf den Beinen, die lange Autofahrt, die Trauerfeier, die ihm ziemlich nahegegangen war, das Essen, das Bier, und jetzt das Stimmengewirr der bestimmt vierzig bis fünfzig Leute in dem großen, dunkel getäfelten Raum. Den toten Punkt überwand man erfahrungsgemäß am besten durch Bewegung oder wenigstens durch Reden.

    „Herr Pfarrer, für Ihre Predigt möchte ich mich herzlich bedanken. Die Stelle mit der Liebe wird ja häufig zitiert, aber der Kontext, in dem diese Worte stehen, ist einem natürlich nicht geläufig."

    „Daß die Trauerfeier Ihre Zustimmung gefunden hat, freut mich außerordentlich, Herr Sennwang. Immerhin war ich bei der Abfassung der Predigt nur auf meinen persönlichen Eindruck angewiesen, den ich von Hans Raabe im Laufe der Zeit gewonnen habe. Verwandte konnte ich aus naheliegenden Gründen nicht befragen, allerdings hat Herr Buschmann dankenswerterweise ein paar Details beigesteuert. – Ja, Korinther 13, Vers 13, der muß bei Trauungen sehr oft herhalten. Ohne die übrigen Verse bekommt er einen anderen Klang."

    „Geht es nicht vielen Bibelsprüchen so? Die Bibel wird meistens wie ein Steinbruch ausgebeutet – hier ein passendes Stück und dort ein passendes Stück. Lädt dieses Herausreißen aus dem Zusammenhang nicht zu Interpretationen ein, die etwas Beliebiges an sich haben und im Lichte des Ganzen sogar falsch sein können?"

    Pfarrer Fleischauer blickte Dagolf nachsinnend an, nahm einen Schluck Bier und meinte dann: „Ich sag’ Ihnen was: So ähnlich hat Ihr Onkel auch argumentiert. Dagolf mußte wohl ein überraschtes Gesicht machen, denn sein Gegenüber ergänzte: „Sie werden es sich möglicherweise nicht vorstellen können, aber Hans Raabe und ich haben uns öfters über Glaubensdinge unterhalten. Er fühlte sich zur Gemeinde gehörig. Ein Zweifelnder, gewiß, aber mit Ernst bei der Sache. Unsere Gespräche waren auch für mich ein Gewinn. Dabei habe ich übrigens auch einiges sehr Interessantes und Staunenswertes aus dem Berufsleben Ihres Onkels erfahren.

    „Ja, von seinen Erlebnissen im Beruf hat er meinem Bruder und mir früher auch viel erzählt. Spannende Geschichten, und so wunderbar vorgetragen. Ich fand das alles so toll, daß ich eine Zeitlang auch Diplomat werden wollte." Dagolf winkte der Kellnerin und bestellte eine Tasse Kaffee mit einem Stück Kuchen.

    „Diplomat! Buschmann neben ihm lachte aus vollem Hals. „Das muß man dem Hans wirklich lassen: Verschwiegen war er!

    Auch Pfarrer Fleischauer konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

    Dagolf blickte von einem zum anderen und wieder zurück. „Sollte ich etwas nicht mitbekommen haben?" erkundigte er sich unsicher.

    „Herr Sennwang, Ihr Onkel war nie im diplomatischen Dienst. Er hat für den Bundesnachrichtendienst gearbeitet. So wie ich auch. Wir waren zu Verschwiegenheit verpflichtet, sicherlich. Aber daß es der Hans geschafft hat, seinen Arbeitgeber bis zum Schluß vor der Familie zu verbergen – da hat er wohl ein bißchen übertrieben. Doch im Erfinden von Geschichten ist er schon immer ganz groß gewesen." Buschmann lachte schon wieder.

    „Und ich habe mich bei der Trauerfeier gefragt, warum so merkwürdig über das Berufsleben meines Onkels geredet wird. Stellen Sie sich vor, er hat uns aus den exotischsten Ländern Ansichtskarten geschickt – und in Wahrheit ist er da wohl überhaupt nicht gewesen?"

    „Ganz sicher nicht, unser Aktionsfeld war Europa, wir befanden uns damals im Kalten Krieg, dessen Demarkationslinie mitten durch Deutschland ging. Das bedeutete Abenteuer genug." Buschmann griff zum Glas und prostete in die Runde. „Noch einmal auf meinen toten Freund. Hans,

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