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Glücksspiel: Kriminalroman Reihe Dupont 1
Glücksspiel: Kriminalroman Reihe Dupont 1
Glücksspiel: Kriminalroman Reihe Dupont 1
eBook363 Seiten5 Stunden

Glücksspiel: Kriminalroman Reihe Dupont 1

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Über dieses E-Book

Inspiriert von Plätzen meiner Jugend, handelt Das Glücksspiel an Orten, die ich selber besucht oder an denen ich gelebt habe. Die Liebe zu Frankreich und seiner Literatur sind in Handlung und Personen, die Archetypen des französischen Kriminalromans (Maigret!) wiederspiegeln, spürbar.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum26. Sept. 2013
ISBN9783847655022
Glücksspiel: Kriminalroman Reihe Dupont 1

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    Buchvorschau

    Glücksspiel - Hans W. Schumacher

    Die Hauptpersonen

    Henri Dupont, Angestellter bei der Assurance Internationale Paris (AI)

    Armida Cecchini, Korrespondentin für Italienisch bei der AI

    Dr. Gustave Vlassens, Justitiar bei der AI

    Gasparo Cecchini, Bauunternehmer in Nizza

    Armida Cecchini, Angestellte bei der AI Guglielmo

    Celentano, Möbelfabrikant in San Remo

    Alida Celentano, Sekretärin im Banco Ambrosiano

    Tancredi Commacchio, Beamter der Guardia di Finanza

    Amanda Torreggiani, Bankangestellte

    André Renard, Kriminalkommissar, Paris

    Paul Lafitte, Inspektor, Assistent von Renard

    Lafayette, Personalchef der AI in Paris

    Chabrier, Filialleiter der AI in Cannes

    Frédéric Lanvin, Hausangestellter

    Federico Mazza, Leibwächter Gasparo Cecchinis

    Corinne Cordonnier, Hausangestellte

    Michel Cordonnier, Hausangestellter

    Pierre Mallory, Kriminalkommissar in Cannes

    Marchand, Inspektor, Assistent von Mallory

    Masini, Kommissar der Polizia Statale in San Remo

    Molino, sein Assistent

    Defferre, Kellner

    Edith Maréchal, Cabaret-Besitzerin in Nizza

    Marius Barre, Chefredakteur der Zeitung La Voix du Sud

    Laura Lefèvre

    Mazzucchelli, Prokurist der Cecchini-Construct

    Für Jacques, der mich in die schöne Welt des literarischen Mordes einführte

    Glücksspiel

    Henri Dupont, 26, Junggeselle, Sachbearbeiter für Privathaftpflichtschäden, Buchstabe H bis M, bei der Versicherungsgesellschaft Assurance Internationale blätterte mit der Rechten die Seiten des Buches um, das er las, während er mit der Linken die Kaffeetasse zum Munde führte. Es war Sonntag, er war früh aufgestanden, um sich gleich wieder seiner Poe-Lektüre hinzugeben, die er nach Mitternacht abgebrochen hatte. Die Geschichten Der Goldkäfer, Der entwendete Brief und Maelzels Schachspieler hatte er schon verschlungen, nun vertiefte er sich in Die Morde in der Rue Morgue. Recht hat Poe, dachte er, nachdem er sich etwas mühsam durch das Vorwort, das eine Lobrede auf das analytische Denken enthielt, gearbeitet hatte, es war schändlich, wie wenig sie in seiner Firma davon Gebrauch machten. Er war überzeugt, daß mindestens fünfzig Prozent der Fälle, die über seinen Schreibtisch liefen, versuchter Versicherungsbetrug waren, aber man ließ es hingehen, weil es zu teuer wäre, jedes Mal die Schäden vor Ort in Augenschein zu nehmen. Er hatte selbst schon manche Täuschungsversuche am Schreibtisch aufgedeckt - Unstimmigkeiten bei den Daten und beschriebenen Hergängen, überhöhte Rechnungen, gefälschte Unterschriften -, aber wenn er seinem Vorgesetzten, dem unangenehmen Vlassens, davon Meldung machte, war er zu seiner Verwunderung zuweilen kühl abgefertigt worden: Aber wegen solcher peanuts - es handelte sich immerhin zuweilen um Summen um 2000 Francs und darüberhinaus, aber für die Herren in den oberen Etagen waren das nun mal kleine Fische - werden wir uns doch unsere Kunden nicht vergraulen. Wenn der Versicherungsnehmer Protest einlegt, müssen wir hieb- und stichfeste Beweise vorlegen, bloßer Verdacht hilft uns nicht weiter und für solche Fälle wie eine eventuell gefälschte Signatur einen teuren Schriftsachverständigen heranzuziehen, lohnt meistens den Aufwand nicht.

    Dr. Vlassens war Jurist und in der Gesellschaft hoch aufgestiegen, aber das hatte seinem Charakter geschadet. Er hatte sich einen hochfahrenden Ton gegenüber den mittleren und unteren Angestellten angewöhnt, der schlicht unerträglich war.

    Aber Kleinvieh macht auch Mist. Wenn Henri an all diese angeblichen Wasserschäden, angebrannten Teppiche, in der Reinigung verdorbenen Pelze dachte, es summierte sich. Er hätte mit seinem analytischen Verstand solche Halunken sofort an Ort und Stelle überführen können, aber man ließ ihn ja nicht. Ihr Platz ist im Büro, bestimmte Dr. Vlassens, der Henri bei der Berichterstattung nicht einmal einen Stuhl anbot, für solche Aufgaben haben wir unsere speziell ausgebildeten Detektive.

    Aber, versuchte Henri einmal aufzubegehren und fixierte seinerseits den schönen Justitiar, der die Leute mit seinem Adlerblick in Schach zu halten pflegte, sich bewußt düpieren zu lassen, ist doch einfach unmoralisch, nicht nur weil die Rechnung die ehrlichen Versicherungsnehmer zahlen müssen, sondern prinzipiell.

    Der große Mann antwortete: Wir sind doch keine Besserungsanstalt, sondern ein Wirtschaftsunternehmen. Das heißt, belehrte er seinen Untergebenen, unsere Maxime ist Minimierung unseres Risikos - lesen Sie einmal genau das Kleingedruckte - und Vergrößerung des Gewinns. Wir ködern Versicherungsnehmer, indem wir bei kleinen Summen großzügig sind, das schafft Vertrauen: sie kaufen auch noch andere Versicherungen bei uns ein, so gewinnt man Kunden. Bei größeren Beträgen schauen wir ihnen auf die Finger.

    Henri zweifelte bei solchen Reden am höheren Sinn seines Berufs. Die Versicherung war ja eine segensreiche und menschenfreundliche Einrichtung, aber sie trat auch zwischen den Menschen und die Wirklichkeit. Für ein regelmäßig entrichtetes Geldopfer brauchte niemand das Mißgeschick mehr zu fürchten, keiner für den Mist, den er machte, selbst geradezustehen. Die Lebensversicherung zum Beispiel war noch grotesker: sie machte aus dem Dahinscheiden eines lieben Angehörigen einen Segen für die trauernden Hinterbliebenen, ja, sie stellte sogar eine ständige Versuchung für sie dar, wenn der Versicherte zu sehr am Leben hing.

    Er sah über die noch taufeuchten Dächer hinweg auf die ferne Silhouette des Eiffelturms und den Hügel von Montmartre. Er beglückwünschte sich jeden Tag zu diesem Ausblick. Aber das Beste war doch die Sicht auf das schräg über ihm liegende Mansardenfenster des Nachbarhauses, zu dem eben eine silbergraue Katze von der Regenrinne aus hinaufstieg und mit dem Kopf mauzend gegen die Scheibe stieß. Dupont erwartete, daß nun ein hübsches Mädchen öffnen und sie in ihre Arme nehmen würde, aber es geschah nichts. Die Katze fuhr mit der Pfote am Fensterspalt entlang, mauzte wieder, setzte sich, begann ihren Latz zu glätten und trieb die Fellpflege bis an die Hinterbeine vor. Als Dupont sein Fenster öffnete, zuckte sie zusammen, hielt inne, ließ die rosige Zunge langsam hinter die Lippen gleiten und sah mit gelbem Blick auf ihn hinunter, wobei sie den bearbeiteten Schenkel weit über das Fensterbrett hinausstreckte.

    Renaud, flüsterte Dupont, was ist los? Wo ist Armida? Der Kater sah ihn gleichmütig an und vertiefte sich wieder in sein Fell. Hinter den spiegelnden Scheiben rührte sich nichts. Dupont wurde bewußt, daß es seiner seelischen Lage angemessen war, zu seufzen, und er seufzte, schob das Buch beiseite, griff zerstreut nach der Morgenzeitung und schüttelte sie auf: Regierungskrise in England, Die Waffenstillstandsverhandlunge in Genf dauern an, Der Dollar fällt, Immobilienpreise in Paris steigen, Liebe im Fernen Osten...Die Zeitung flatterte zu Boden. Er starrte einen Augenblick auf den Teller vor sich, sprang plötzlich auf, lief ans Fenster und beugte sich hinaus. Die Katze war verschwunden. Die Scheiben glitzterten böse. Sein Kummer überfiel ihn so heftig, daß er den Kopf nach hinten an die Wand lehnte und zwei Tränen weinte, die an seinen Wimpern hängen blieben. Er schloß die Augen.

    Sie hieß Armida Cecchini, ihr Ressort war die Korrespondenz mit Italien. Mittags aß sie stets am gleichen Tisch in der hintersten Ecke der Kantine allein oder mit einer Kollegin, aber nie hatte er gewagt, sich ihr zu nähern, er sah auch, daß sich selten ein Mann zu ihr setzte. Auch Vlassens, der keinen Weiberrock in Ruhe lassen konnte, hatte es zwei Mal versucht, aber dann hatte er es wohl aufgegeben. Wahrscheinlich hatte sie ihn nachhaltig abblitzen lassen. Sie schien mit ihrer zarten Schönheit eine Distanz um sich zu schaffen, die auch die gallischen Hähne unter den Mitarbeitern, die stets mit einem frechen Witz bei der Hand waren, zu respektieren schienen. Und Henri war zu schüchtern, sie anzusprechen, obwohl sie den gleichen Heimweg hatten. Er wünschte ihr guten Tag, wenn er sie am Fenster sah, und sie nickte ihm freundlich zu, das war alles. Wenn er hinter den Gardinen beobachtete, wie sie den Kater in die Arme nahm, zitterten ihm die Hände, ihm war, als wäre er selbst das Wesen, das sich schnurrend an ihren Busen schmiegte und den dicken Kopf an ihrer Schulter rieb. Er war in Renaud fast ebenso verliebt wie in sie. Er hätte ihn gern gestreichelt, so wie sie ihn liebkoste, dann fühlte er seinen weichen Pelz gleichsam mit ihrer Hand.

    Sie kleidete sich mit dem sicheren Geschmack der Italienerinnen. Oft sah er sie im gleichen schlicht eleganten Kostüm in den Fluren der Firma vor sich hergehen, beschwingt und doch wie in einen Traum gehüllt, ein Zauber umgab sie, der ihm jedes Wort im Mund abschnitt. Er war stumm vor Liebe.

    Wo blieb sie nur? Sonst öffnete sie das Fenster immer zur gleichen Zeit morgens, wenn der Kater mit der Regelmäßigkeit einer Uhr an die Scheiben pochte. Das war Henris Signal, er stand hinter der Gardine und sah wie eine Zauberin die Pforten zu ihrem Paradies öffnete.

    Er ging ratlos an den Tisch zurück und raffte die am Boden liegenden Zeitungsblätter auf. Mord aus Eifersucht? las er auf der letzten Seite:

    Kurz vor Redaktionsschluß erreichte uns noch folgende Mitteilung der Kriminalpolizei: Gestern, Samstag, gegen 22, 45 Uhr fand ein Nachtwächter auf einer Großbaustelle in der Rue Béranger die Leiche einer weiblichen Person auf, die, wie die ärztliche Untersuchung erwies, durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand auf den Hinterkopf getötet wurde. Ihr Gesicht ist durch weitere Schläge völlig entstellt worden. Bei der Toten wurden außer einem Portemonnaie mit Geld in französischer und italienischer Währung und einem kleinen Notizbuch mit den auf den Einband gedruckten goldenen Initialen A.C., das der Aufmerksamkeit des Mörders entgangen sein muß, da es in einer ungewöhnlichen Innentasche der Kostümjacke steckte, keine Gegenstände gefunden, die eine Identifizierung ermöglichen könnten. Einzig die in italienischer Sprache geschriebenen Aufzeichnungen in dem Büchlein, die im folgenden in Übersetzung abgedruckt werden, liefern Hinweise auf das Drama, das dem Mord eventuell vorausging. Es scheint sich um ein Eifersuchtsdelikt zu handeln. Zuständig für die Untersuchung ist Hauptkommissar Renard, Revier VII, 16, Bd. Montparnasse, Paris XIe. Tel.: Montparnasse 4567. Wer kennt die Tote? Sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.

    Personenbeschreibung: Alter: Mitte zwanzig, Größe 1,70 m, Gewicht 52 kg. Haarfarbe hellblond, Augen graublau,.... Die Kleidung: ....

    Dupont las mit erschreckt geweiteten Augen, dann betrachtete er das unklare, grobgerasterte Foto der Leiche, ihm war, als habe er einen Tritt in die Magengrube erhalten, sein Blick wurde trüb, in seiner Nase kribbelte es, als müsse er niesen:

    4.5. Heute früh steckte jemand den Kopf zur Tür herein. Ich schrak zusammen, und er verschwand wieder. Nachher mußte ich immer wieder an sein schönes, kluges Gesicht denken und die Kraft und Geschmeidigkeit seiner Bewegungen.

    5.5. Er heißt Rinaldo.

    15.5. Geliebter Rinaldo!

    2.6. Die Helle im Gewitter. Vom Wind gebeugte Pappeln. Der Duft des Regens und des Staubes. Rinaldo kam ganz naß herein.

    6.6. Manchmal ist mir, als entstehe bei der Annäherung zweier Wesen, die wie Doppelsterne umeinander zu kreisen beginnen, ein Sog, der in den Raum zwischen ihnen etwas Neues, Beunruhigendes ziehen muß.

    10.6. Als ich Tancredi bei seinem Einbruch ertappte, wußte er nicht, ob er davonlaufen oder bleiben sollte. Er war ängstlich, aber auch frech, und er blieb. Seitdem habe ich viel über mich selbst erfahren. Ich bin doch falscher, als ich mich eingeschätzt habe. Manchmal frage ich mich, wie ich imstande sein kann, zwei in ihrer Natur so verschiedene Wesen gleichzeitig zu lieben.

    15.6. Als Herrin von Tancredi und Rinaldo entdecke ich die Eigenschaften der großen Buhlerinnen in mir: Tancredi saß vor mir auf dem Fußboden, als ich draußen Rinaldo rufen hörte. Tancredi, zu vornehm, um mich bloßzustellen und wohl auch aus Rücksicht auf seine zarte Körperlichkeit war blitzschnell unter dem Bett. Seine demütigende Unterlegenheit empörte mich plötzlich gegen Rinaldos Zärtlichkeiten. Er war etwas erstaunt, als ich ihn bald verabschiedete.

    17.6. Rinaldo empfindet, daß ich ihm etwas verheimliche. Zerstreut läuft er im Zimmer herum und sieht mich manchmal mit großen Augen an, als wolle er eine Frage stellen.

    20.6. Er weiß die ganze Wahrheit. Heute sah er ins Zimmer hinein. Tancredi saß, wie gewohnt, auf dem Tisch. Plötzlich sah ich, wie er zusammenzuckte, seinen Blick zwischen mir und dem Fenster pendeln ließ. Da erblickte ich Rinaldo, seine Miene war undurchdringlich,

    21.6. Rinaldo besuchte mich, als sei nichts geschehen. Seine Gleichgültigkeit war verletzend. Als ich ihn, der alten Gewohnheit nachgebend, umarmte, ließ ein triumphierender Schimmer in seinen Augen mich plötzlich meiner Unwürdigkeit bewußt werden. Ich stieß ihn zurück und lief in die Küche. Tancredi lag dort, auf den Fußboden hingestreckt, in einer Blutlache. Noch jetzt weiß ich nicht, was ich tat. Alles schwankte um mich her. Rinaldo trat ein, ich warf mich gegen ihn, schlug ihn mit Fäusten...

    Die Nacht fällt nieder. Der Kellner dreht die Lampen auf den Tischen an. Ich fürchte mich nach Hause zu gehen, vor der Nacht, vor Rinaldo...

    Armida, murmelte Dupont. Er warf sich über den Tisch und sein ganzer Körper zog sich vor Schmerz zusammen, eine ungeheure Dunkelheit umfing ihn und zog ihn hinab, immer tiefer, ins Grundlose. Und zwischen seinen Fingern quollen die Tränen unaufhaltsam, warm, bitter und salzig. Um sein Herz war ein Loch, ein Nichts, ihm war, als leere er sich aus, bis zum letzten Tropfen, in ihm war Nacht, ewige, entsetzliche Nacht.

    Nachher wußte er nicht, wieviel Zeit vergangen war. Plötzlich richtete er sich auf, eine Mumie, eine Larve, er war tot. Nur in seinem Kopf entzündete sich ein Licht, glimmend erst, dann heller, bis es grell leuchtete.

    Langsam ging er durchs Zimmer in den Flur, zog sich das Jackett an, betrat das Bad, kühlte sein Gesicht mit Wasser, fuhr mit der Bürste durchs Haar und verließ die Wohnung. Sein Weg führte zum Boulevard Montparnasse. Er wollte nicht anrufen, am Telefon würde man ihm nicht zuhören. Er betrat das Kommissariat und verlangte, Inspektor Renard zu sprechen.

    Worum handelt es sich? fragte der diensthabende Beamte.

    Es geht um den Mord in der Rue Béranger, murmelte er.

    Ich habe nicht verstanden, sprechen Sie doch lauter.

    Die tote Frau in der Rue Béranger, flüsterte er, fast schluchzend.

    Kommen Sie! der Uniformierte ging ernst vor Dupont her und klopfte an einer Glastür, hinter der man einen älteren, grauhaarigen Mann am Schreibtisch in Akten vertieft sitzen sah.

    Der Fall Rue Béranger, kündigte der Beamte den Besucher an und ließ ihn ins Büro eintreten.

    Nehmen Sie doch Platz! Der Kommissar stand auf, drückte ihm die Hand und schob ihm einen Stuhl zu.

    Renard, ein angenehmer provenzalischer Typ in den Fünfzigern mit Lachfältchen um die Augen, sah ihn ermutigend an. Er hatte den Gram in Duponts Gesicht erkannt und ließ es geruhsam angehen. Man soll Aussagewillige nicht verstören, das war die erste Regel, die er auch seinen Mitarbeitern mitgab. Es klopfte an der Tür, sein Assistent Laffitte schob sich still hinein. Renard nickte ihm schweigend zu, er sollte sich an den Tisch hinter Dupont setzen und das Gespräch mitschreiben.

    Zunächst einmal, wer sind Sie? wandte er sich an Henri. Entschuldigung, ich brauche das fürs Protokoll.

    Henri gab Name, Adresse und Beruf an, auch seine Arbeitsstelle. Der Knoten in seinem Hals löste sich, er sprach lauter.

    Also wer, glauben Sie, ist die Tote aus der Rue Béranger? fragte der Inspektor, die Hände auf dem Tisch vor sich faltend.

    Ich bin sicher, daß es sich um meine Kollegin Fräulein Armida Cecchini handelt, sie wohnt, wohnte, wollte ich sagen, in der Rue Bernard 11 in einer Mansardenwohnung.

    Pardon, räusperte sich Laffitte, wie schreibt sich das? Cecchini.

    Dupont buchstabierte.

    Wie kommen Sie darauf?

    Dupont wußte, daß es jetzt schwierig wurde. Er schickte daher etwas voran: Ich weiß, daß Sie das, was ich anzuführen habe, für überspannnt oder weithergeholt halten werden, aber ich bin kein Phantast. Ich bin Versicherungsangestellter und kann von mir sagen, daß ich gesunden Menschenverstand besitze.

    Der Kommissar sah ihn mit einem skeptisch heiteren Blick an: Nur zu, wir sind ganz Ohr.

    Dupont zog die Morgenzeitung aus seiner Jackentasche : Ich denke, Sie haben das Tagebuch gleichfalls vor sich, sagte er.

    Klar, antwortete Renard, zeigte auf ein rotes Büchlein auf dem Schreibtisch und hielt ihm die Übersetzung vor die Augen.

    Sie werden erstaunt sein. Wahrscheinlich machen Sie sich Ihre Vorstellungen von diesem Rinaldo: einer dieser übereleganten, breitschultrigen Herren, mit einem Schuß korsischen Blutes und archaischen Sitten, die sie von Ihrer Kindheit in der Provinz her bewahrt haben.

    Oh, bitte, der Grauhaarige lächelte liebenswürdig, aber verschlossen, Sie sind doch nicht hergekommen, um uns Rätsel raten zu lassen.

    Der Mörder Rinaldo ist eine Katze.

    Waaas?

    Eine Perserkatze! Genauer gesagt, ein prachtvoller silbergrauer Kater.

    Machen Sie Witze?

    Ich wußte es doch, ich habe Sie vorgewarnt, Sie werden mir nicht glauben. Aber hören Sie zu, lesen Sie mit!

    Moment, eine silbergraue Perserkatze erschlägt Ihrer Ansicht nach eine Frau von 1, 70 m Größe, schleppt sie zu einer Baugrube und zermantscht ihr Gesicht mit einer Eisenstange?

    Das habe ich nicht gesagt. Ich weiß nicht, wer Armida Cecchini erschlagen hat und warum. Ich weiß aber, wer die Tote ist, und ich weiß, daß Rinaldo der Mörder von Tancredi ist.

    Und wer ist Tancredi? Renard lachte verzweifelt, Laffittes Rücken bewegte sich zuckend.

    Tancredi, nehme ich an, ist eine Maus.......war eine Maus. Vielleicht eine weiße Maus, die sind sehr zutraulich. Ich hatte auch eine, als ich klein war...

    Monsieur, Sie treiben es zu weit.

    Verdammt, stöhnte Henri und preßte die Fäuste an seine Schläfen, ich hab's doch gewußt, ich hab's gewußt...Sie wollen nichts wissen, was nicht in ihr Schema paßt. Haben Sie jemals Edgar Allan Poe gelesen?

    Nein, sagte Renard schroff, er wurde nur ungern an seine Bildungslücken erinnert, sein Weg war geradlinig auf seinen praktischen Beruf zugegangen, er las nichts außer Akten, Fachbüchern und Zeitungen; Literatur war für die Eierköpfe da, ohnehin bloße Zeitverschwendung, irreal, unnütz. Die Wirklichkeit war phantastischer als das, was man in Romanen lesen konnte, er fand seinen Beruf spannender als jeden erfundenen Krimi.

    "In Poes berühmter Kriminalgeschichte Die Morde in der Rue Morgue...."

    Was, hier in Paris? Renard zeigte sich interessiert.

    Ja, hier in Paris, also in dieser Geschichte geschieht ein unheimlicher, rätselhafter Mord an zwei Frauen, Mutter und Tochter. Nachbarn hören entsetzliche Schreie, als sie vergeblich versuchen, den beiden zu Hilfe zu kommen, denn die Tür ist von innen verschlossen, hören sie zwei weitere Stimmen, die eines Landsmanns und eine schrille, unartikulierte Stimme, die man einem Ausländer zuschreibt, aber jeder Zeuge hört eine andere Sprache heraus. Als die Polizei die Tür aufbricht, sieht man ein chaotisches Durcheinander, alle Möbel sind zerbrochen, niemand ist im Raum, die Fenster sind zugenagelt. Nach längerem Suchen findet man die Opfer: Mutter und Tochter in gräßlich verstümmeltem Zustand von unten in den Kamin hineingezwängt. Entkommen sind der oder die Täter durch das Schiebefenster, das nur scheinbar zugenagelt war. Zwar waren die Nagelköpfe zu sehen, aber die Nägel waren in der Mitte durchgerostet und nach dem Entkommen des Täters aus dem vierten Stock war das Fenster wieder zugefallen. Die Polizei steht, da sie das nicht erkennt, vor einem unlösbaren Rätsel. Dupin, ein Amateurdetektiv, kommt nach Prüfung aller Indizien zu dem Schluß, daß der Doppelmord nicht von menschlicher Hand begangen werden konnte. Er schließt aus alle dem, daß nur ein Affe - es war tatsächlich ein Orang Utan - mit seiner Körperkraft und Klettergeschicklichkeit, die Tat begangen haben konnte. Er findet dann auch den Besitzer des Tiers, einen Matrosen, dem der Affe entlaufen war. Er hatte ihn die Fassade ersteigend verfolgt, der Orang Utan war in das Zimmer der beiden Frauen eingedrungen, hatte sie getötet und in den Kamin gestopft, sich dann aber von seinem Herrn wieder bezähmen lassen, worauf sie beide gemeinsam das Zimmer durch das Fenster verließen, das hinter ihnen zufiel. Der Matrose, der Angst hatte, für die Tat seines Tiers verantwortlich gemacht zu werden, trat die Flucht an, aber Dupin spürte ihn auf.

    Doll, bekannte Renard überrascht, aber das ist Literatur. Hier geht es um die Wirklichkeit.

    Ich habe auch weniger Phantastisches bemerkt: das Kostüm, das die Tote anhatte, scheint mir das zu sein, das Armida Cecchini zu tragen pflegte.

    Aber es ist leider kein Einzelstück. Davon gibt es Hunderte. Eine Kollegin hat mir das gesagt. Frauen kennen sich da aus. Vielleicht wäre es besser, Sie sähen sich einmal die Polizeifotos der Toten an, das Bild in der Zeitung ist zu undeutlich. Er zog aus einem Aktenhefter einige Hochglanzbilder, wollte sie ihm hinüberreichen und zögerte:

    Glauben Sie, Sie können es aushalten? Da kann sich einem, der das nicht gewohnt ist wie wir, der Magen umdrehen.

    Henri blickte einen Augenblick lang auf seine Fußspitzen, hob den Kopf und sagte tapfer: Geben Sie her!

    Er betrachtete die großen Farbfotografien. Nur das Bild, das sie nackt zeigte, steckte er sofort unter die anderen. Es würgte ihn in der Kehle. Das Gesicht war nur eine blutige Masse, die zerzausten Haare hatten die ihm bekannte Farbe und Länge. Er musterte lange die Wiedergabe des bekleideten Körpers, aber das Kostüm war farblich doch anders als in seiner Erinnerung, nur der Schnitt war ähnlich.

    Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher mit dem Kleid, sagte er, aber Figur und Haarfarbe sind gleich.

    Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?

    Die Initialen A.C. auf dem Notizbuch.

    Renard blickte anerkennend auf seinen Besucher: Das ist ein starkes Argument!

    Laffitte wandte ein: Aber es gibt doch Tausende von Namen mit den gleichen Anfangsbuchstaben.

    Klar. Doch wenn dies zu anderen Indizien hinzukommt, kann es zur Erhärtung eines Beweises beitragen. Die Menge muß es machen. Nur ganz selten führt eine einzelne Spur für sich zum Erfolg .

    Das Wichtigste sind die Namen: Armida, Tancredi, Rinaldo. Wissen Sie, wo die herkommen, wie sie zusammenhängen? fuhr Henri fort.

    Sie werden es uns sagen! Bestimmt wieder aus der schönen Literatur.

    "Richtig! Denken Sie daran: meiner Ansicht handelt es sich um eine Italienerin. Als Dolmetscherin hatte sie eine Universitätsausbildung. Sie kannte deshalb gewiß das italienische Nationalepos Das befreite Jerusalem von Torquato Tasso."

    Ich wette, ein ziemlich alter Schinken.

    Klar, aus dem 16. Jahrhundert. Und in diesem Schinken geht es um zwei Helden, die in den Kampf Gottfried von Bouillons um die Befreiung Jerusalems aus arabischer Hand verwickelt sind: Rinaldo und Tancredi und um eine schöne heidnische Hexe Armida, die in ihrem Zaubergarten residierend, die Helden wie Circe oder Delilah zu umgarnen versucht, damit sie sich nicht in die Schlacht gegen die Heiden werfen. Und Fräulein Armida Cecchini besitzt, besaß, eine Perserkatze namens Renaud, italienisch Rinaldo, ich kann sie Ihnen zeigen.

    Und sie hört auf diesen Namen?

    Dupont wurde unsicher, Katzen hören eigentlich auf nichts und niemand.

    Vielleicht, meinte er und wurde auf einmal rot.

    Gibt es andere Zeugen für Ihre Beobachtungen?

    Sicher. Man muß sie finden, man wird sie gewiß finden, wenn man am richtigen Ort sucht.

    Haben Sie noch weitere Hinweise?

    Henri zögerte mit der Antwort: Im Moment noch nicht. Ich dachte, es sei wichtiger, Sie schnell zu informieren. Aber wenn Sie die Wohnung der Toten durchsuchen oder an ihrem Arbeitsplatz nachfragen würden, werden sie noch mehr Indizien finden, als ich Sie Ihnen jetzt liefern kann, da bin ich sicher.

    Gut, sagte Renard, der innerlich darüber lächelte, daß ihn ein Laie über Polizeiarbeit belehren wollte, und erhob sich, Sie haben uns sehr geholfen. Wir werden uns darum kümmern. Sie hören vielleicht noch von uns, wir haben ja Ihre Adresse.

    Ja, dann auf Wiedersehen, sagte Henri schleppend, es kam ihm vor, als nehme man ihn nur zum Schein ernst, um sich nachher wieder ausgiebig vor Lachen ausschütten zu können.

    Ich bin nicht so verrückt, wie ich scheine, ich bin Versicherungsmann, man kann mir nichts vormachen. Ich bin auch kein Grünschnabel, trotz meiner jungen Jahre.

    Natürlich, der Kommissar geleitete ihn, seinen Unterarm in der Hand haltend, sorglich aus dem Büro, wir werden uns das, was Sie zu Protokoll gegeben haben, durch den Kopf gehen lassen. Wir sind auch keine heurigen Hasen und ebenfalls nicht mehr so grün, eher schon grau.

    Henri sah sich zu ihm um und begegnete seinem Lächeln mit einem zutraulichen Blick, aber als er genauer hinsah, erkannte er einen harten Zug unter den Lachfältchen der Augen und um den Mund und zuckte zurück. Nein, der war nicht überzeugt, der tat nur freundlich, um ihn loszuwerden!

    Nachdem der Kommissar Dupont hinausgeleitet hatte, kehrte er in sein Dienstzimmer zurück, wo der lange Laffitte mit ausgestreckten Beinen und hinter dem Kopf verschränkten Händen den Stuhl dem Schreibtisch gegenüber eingenommen hatte. Er grinste von einem Ohr zum anderen.

    Mann, Chef, mir sind ja schon viele Spinner untergekommen, aber der schlug wirklich alle Rekorde.

    Meinen Sie? fragte Renard trocken und schaute über des Sergeanten Kopf starr auf die Kurve der Kriminalstatistik, die an die Wand zwischen den Aktenschränken geheftet war.

    Aber Chef, das sind doch Hirngespinste! Lesen Sie doch den Text, der handelt von Menschen, nicht von Tieren.

    Renard blätterte in dem Notizbuch herum: Sind Sie da so sicher? Wenn man es mit seinen Augen sieht, kann man tatsächlich seine Version herauslesen. Wer das geschrieben hat, war träumerischer poetischer Natur: 'Die Helle im Gewitter. Vom Wind gebeugte Pappeln. Der Duft von Regen und Staub.' Kennen Sie das nicht auch, erst die heftigen warmen Windstöße, wenn im Sommer ein Gewitter losbricht, dann ist alles schwarz, plötzlich gleißend hell, das Gewölk bricht auf, die heiße Erde dampft...?

    Na, Chef, jetzt fangen sie ja selber an zu dichten!

    Sagen Sie doch gleich, ich spinne.

    Na, soweit wollte ich nicht gehen. Aber die Aufzeichnungen haben keine Jahreszahl. Sie könnten auch vom letzten, vorletzten, was ich weiß ich, von welchem Jahr stammen. Das Ganze kann auch schlicht phantasiert sein, vielleicht ist es der Anfang einer Geschichte, die diese Frau schreiben wollte.

    Die letzte Eintragung trägt immerhin das Datum vom letzten Mittwoch.

    Purer Zufall!

    Aber Dupont schien ehrlich bekümmert über das Schicksal des Mädchens, wahrscheinlich ist er verliebt in sie. Sie war seiner Ansicht nach doch eine Kollegin. Normalerweise sind Leute, die verstiegene Theorien vortragen, persönlich an den Fällen gar nicht interessiert, es geht ihnen nur darum, sich selbst in den Vordergrund zu spielen, sich wichtig zu machen.

    Er machte mir genau diesen Eindruck. Wie er mit seiner Bildung prahlte, er wollte uns doch nur beweisen, daß wir alle Banausen sind.

    Lassen wir das zunächst dahingestellt sein. Da dies der erste und einzige Hinweis zu unserem Fall ist, müssen wir ihm nachgehen, so seltsam er uns auch vorkommt. Wer das Phantastische verwirft, ist kein Realist.

    Chef, jetzt übertreiben Sie wieder schamlos.

    Das war ein Zitat!

    Renard schob Aktenbündel auf dem Tisch herum, als wollte er dort gleichzeitig ebenso Ordnung schaffen

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