Für immer sexy: Die NEXUS-Texte
Von Marc Fischer und Uwe Kopf
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Über dieses E-Book
Ob er übers Jungsein nachdachte oder über Balkons, ob er in Indien den Seelenfrieden suchte oder in Brasilien den perfekten Strand: So frei wie für das Schweizer Magazin NEXUS schrieb der 2011 verstorbene deutsche Journalist Marc Fischer selten. Seine zwischen 1997 und 2003 veröffentlichten Reportagen, Essays und Erzählungen (viele davon autobiographisch) liegen hier nun erstmals gesammelt vor.
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Buchvorschau
Für immer sexy - Marc Fischer
FÜR IMMER SEXY
Dumme Sache, das mit der Jugend. Ich stelle mir das vor wie eine Zugfahrt, bei der man seine Haltestelle verpasst und an der falschen Station aussteigt: Man steht dumm da, keiner kennt einen, und man ist überhaupt ein Riesentrottel. Und kein Weg, wirklich gar keiner, der zurückführt.
Will ich um keinen Preis werden – so ein Riesentrottel, der den Absprung verpasst. Will niemand werden – so ein Riesentrottel. Muss ich mir noch keine Sorgen darüber machen, sagen meine Freunde. Muss ich doch, sage ich, denn ich habe mir das ausgerechnet, wie ich mir alles ausrechne, weil in der Mathematik die Verlässlichkeit liegt: Ich bin 26 jetzt, da bleiben mir noch 1295 Tage bis zum dreißigsten Geburtstag. Bis dahin muss sie klar sein, die Sache. Bis dahin habe ich Zeit. Bloß: Wie mache ich das? Wann geht es los mit dem Riesentrotteltum? Und was ist das eigentlich: diese Riesensause, die sie Jungsein nennen?
Neulich war sie wieder voll da, die Jugend. Die Nacht war kalt und klar, als meine Freunde und ich auf dem Weg zu der Party eines Mädchens waren, das keiner kannte. Philip fuhr seinen Wagen viel zu schnell, die Ramones schrien „Punkrock! aus dem Radio, und Enver trank ein Bier nach dem anderen auf der Rückbank. „Wie früher
, rief Philip in die Nacht hinaus: „Drei Jungs, die Ramones und eine Geburtstagsparty, für die man kein Geschenk dabei hat. „Wie früher
, riefen Enver und ich zurück: „Eine blöde Nacht von tausend, von der man hofft, sie wird wie keine andere."
Natürlich war sie wie alle anderen, diese Nacht. Die Party fand statt in einer kleinen Bar auf der Hamburger Reeperbahn, der DJ spielte diese neue Tanzmusik aus England, die Mädchen hüpften auf der Tanzfläche herum, und die Jungs machten sich zum Affen. Jeder sah aus wie jemand anderes: Ein Mädchen sah aus wie Björk, ein Mädchen sah aus wie Kate Moss, ein anderes sah aus wie Chloe Sevigny von „Kids, und wieder ein anderes sah aus wie Valery aus „Beverly Hills 90210
. Die Jungs genauso: Ein Junge sah aus wie Ewan McGregor aus „Trainspotting", ein Junge sah aus wie Werner Schreyer, ein anderer sah aus wie Liam Gallagher, und wieder ein anderer Junge sah aus wie Mike D. von den Beastie Boys. Ich habe zehn Millionen solcher Partys erlebt, dachte ich, und zehn Millionen solcher Leute gesehen, und alles ist gleich, alles funktioniert nach demselben System: Ein paar Jungs betrinken sich, ein paar Mädchen nehmen ihre Drogenpillen, ein paar andere verabreden sich in der Toilette zum Koksschnupfen, alle reden, tanzen, springen herum und hoffen darauf, dass diese Nacht das Besondere bringt, dass diese Nacht sie erlöst von dem immer gleichen Kreislauf der ewigen Wiederkehr der immer gleichen Gefühle.
Ich will das nicht, dachte ich, und gleichzeitig: Ich will das doch.
Ich bestellte mir ein Bier an der Bar, sah mir die Gesichter der Leute an und begann nachzudenken. Ich stellte mir die großen Jungs in den wunderbaren Gucci-, Prada- und Helmut-Lang-Anzügen als kleine Jungs vor. Ich stellte mir ihre Kinderzimmer vor, ihre Kinderbetten, ihre viel zu großen Kleiderschränke und die Poster, die sie an den Wänden hatten. Dieser da, der aussieht wie Martin Fry von ABC, dachte ich mir, wird früher ein ABC-Poster an der Wand gehabt haben, er wird ein Popperjunge gewesen sein, der Khaki-Shorts und Lacoste-Polos und eine Jacke von Fred Perry getragen hat. Er wird abends mit seiner Ciao zu einem Freund gefahren sein, ohne Helm, weil der Weg kurz war und der Wind mit seinem Scheitel gespielt hat, und die beiden werden ihre Platten von Sade und Roxy Music und Heaven 17 und eben ABC gehört haben. Sie werden über Mädchen geredet haben, die dunkle Benetton-Pullis trugen und einen Pagenkopf hatten, sie werden vielleicht aus der Hausbar eine Flasche Martini geklaut haben, die sie austranken, und später dann, gegen zwölf oder so, ist der eine Junge wieder zu sich nach Hause gefahren und ins Bett gegangen.
Dieses Mädchen da, dachte ich, während ich mir ihr schwarzes Kostüm und die blondierten Haare ansah, hat eine ganz schlimme Jugend gehabt, weil sie Pickel im Gesicht hatte und schlechte Haut überhaupt, die Jungs haben sie nicht gemocht, und sie wird Riesenpullis getragen haben, um ihre beginnende Fettleibigkeit zu kaschieren. Sie hat kurz an Selbstmord gedacht, garantiert. Als sie mit der Schule fertig war, ist sie ins Ausland gegangen, um ein neues Leben anzufangen, sie war in Paris und New York, hat die „Vogue" gelesen, und jetzt kennt sie sich sehr gut aus mit Mode, und die Redakteure ihrer Zeitschrift mögen sie, aber ein Stück ihrer Vergangenheit ist geblieben, so wie die Vergangenheit immer bleibt, weil sie nur auszulöschen ist, wenn man alle Zeugen umbringt und alle Fotos verbrennt.
Niemand heute mehr hat Poster von Popstars an der Wand hängen, dachte ich, höchstens Jungs, die noch nie eine Freundin hatten, oder Mädchen, für die sich noch kein Junge interessiert hat. Früher hatte ja jeder einen Popstar an der Wand – Mädchen, weil sie verliebt waren, und Jungs (davon bin ich überzeugt), weil sie größer werden wollten als das Bild von Elvis Presley oder Duran Duran oder George Michael an der Wand. Popstar-Verehrung bei Jungs hat immer etwas mit Distanz und Selbstkasteiung zu tun – das Poster an der Wand ist praktisch so eine Art Zielmarke, die es zu erreichen gilt, es ist eine Mahnung. Darum, weil das meistens nicht klappt, verschwinden die Poster über den Jungsbetten auch früher als die über den Mädchenbetten.
Jedenfalls: Es ist heute nicht nur so, dass