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Schmetterlingsblau
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eBook392 Seiten5 Stunden

Schmetterlingsblau

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Über dieses E-Book

"Und vergiss nicht, ihn zu küssen." Ihre Stimme war jetzt bloß noch ein Hauchen. "Schmetterlinge küssen nämlich nicht, Jade. Schmetterlinge lieben nicht. Sie fliegen bloß. Fliegen und fliegen..., bis sie irgendwann vergehen."
Wie weiche Flügelteppiche legen sich die Schmetterlinge auf die Wiesen der Normandie. Alain kümmert es nicht, schließlich hat er soeben seine Eltern zu Grabe getragen. Doch dann trifft er Jade. Nur für einen Sekundenbruchteil streifen sich ihre Blicke durch das Hoftor einer alten Villa, dann verschwindet das blasse Mädchen mit den leuchtend blauen Augen wieder und Alain ist sicher, dass er sie nie wiedersehen wird. Denn niemand kennt die Mädchen der Villa Papillon. Niemand im Dorf wagt es, ihr Geheimnis zu lüften. Niemand, bis auf Alain. Doch wird es ihm gelingen, Jade vor ihrem traurigen Schicksal zu bewahren?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Okt. 2016
ISBN9783959910606
Schmetterlingsblau

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    Buchvorschau

    Schmetterlingsblau - Sarah Nisse

    geschenkt.

    Prolog

    Alain

    Der Tag, an dem meine Eltern starben, war ein Dienstag. Man sagt, dass Schmetterlinge flogen an diesem Tag, Schwärme bunter Flügel, die in den Himmel stoben und den Autofahrern jede Weitsicht raubten. Der Wagen meiner Eltern prallte gegen einen Baumstamm. Sie schlugen mit ihren Köpfen auf dem Armaturenbrett auf und waren sofort tot.

    Auf der Hand meiner Mutter, die so blass unter ihrer roten Bluse hervorschaute, habe ein Schmetterling gesessen. Weiß und zerbrechlich wie frischer Schnee. Er sei zunächst nicht von ihrer Seite gewichen, erzählten sie. Vielleicht der lebendige Tod oder ihre Seele, die aus ihrem Körper schlüpfte und in die Freiheit entschwand.

    Ich glaube nicht an solche Geschichten.

    Ich glaube an Cremetörtchen mit rosa Zuckerguss, die ich gerade mit den Zähnen zermalme. An eine Tasse dampfenden Milchkaffee, wie die, die hier im Café vor mir steht und meine Finger wärmt. Ich glaube an die Regenströme, die neben uns an der Scheibe herabrinnen und mir das Gefühl geben, von der Welt da draußen abgeschnitten zu sein. An den Geruch von nassen schwarzen Haaren, die auf Jades geröteten Wangen kleben und auf ihrer Stirn. Und ein bisschen auch auf ihren Lippen, zwischen den Krümeln von Cremetörtchen.

    Ich glaube an das, was ich sehe.

    Doch Jade kauert vor mir und spricht einfach weiter, hört nicht auf damit, haspelt die Worte so schnell zwischen ihren Lippen hervor, dass ich nicht mehr mitkomme. Als würde sie einen Zentner Sorgen verlieren, wenn sie all die ungesagten Dinge endlich in die Freiheit entließe.

    »Ich habe nur noch wenige Monate zu leben, Alain. Ich werde dich verlassen, wie deine Eltern es getan haben, und du wirst es nicht verhindern können. Egal, wie sehr du mich bittest.«

    Ihre Augen, so zart wie ein kobaltblauer Schmetterling.

    Vielleicht habe ich mich getäuscht. Zu lange an die falschen Dinge geglaubt. Vielleicht hat der Tod Facetten, die das menschliche Auge nicht zu erkennen vermag. Vielleicht kommt er wirklich daher wie eine sanfte Brise, wie ein kleiner, flatternder Schmetterling. Manchmal.

    Sie wischt sich mit dem Ärmel über die Augen und ich kann nicht mehr erkennen, was auf ihren Wangen Regen ist und was Tränen.

    Da wird mir bewusst, wie viel Zeit ich in meinem Leben verschwendet habe. Jede Minute, in der sie nicht bei mir war.

    Vielleicht habe ich einfach zu lange die falschen Dinge geliebt.

    Zwei Wochen zuvor

    Kapitel 1

    Guy Masson hatte schon lange den Ruf, absonderlich zu sein. Es mochte daran liegen, dass er in seinem bereits fortgeschrittenen Alter allein lebte, ohne Frau und Kind. Es mochte daran liegen, dass seine blaue Latzhose alt und löchrig war und nach nassem Gras und Dünger stank. Oder aber daran, dass Guy Masson zu den Schmetterlingen sprach.

    Keinem einzigen Dorfbewohner in Fleury und Umgebung war es möglich, sich an eine Unterhaltung mit ihm zu erinnern, sei es über das schlechte Wetter, den Pilzbefall oder die rücksichtslosen Autofahrer, die viel zu schnell über die Landstraßen der Normandie brausten. Guy sprach nur zu den Schmetterlingen. Und das, meinten die Leute, sei nun wirklich ein eindeutiger Fall größter Absonderlichkeit.

    So kam es also, dass er in seinem abgelegenen Gehöft zwischen düsteren Waldstücken und strahlend grünen Apfelbaumwiesen immer einsamer und grantiger und absonderlicher wurde. Er verließ sein Haus nur noch, um zu seinem Schmetterlingspark zu schreiten, einer Holzbaracke, umsäumt von engem Maschendrahtzaun, in der viele kleine Schmetterlingsflügel auf und ab flatterten. Er schöpfte das Regenwasser aus einer Tonne, um daraus dünnen Kräutertee zu brauen. Er stellte Fallen auf und briet Hasenfleisch in altem, ranzigem Öl in seinem Wohnraum, der zugleich als Küche und Schlafzimmer diente. In die Stadt fuhr Monsieur Masson nur dann, wenn ihm der Schnaps ausging, mit dem er sich den kalten Winter über betäubte. Kurz gesagt: Er erwartete nicht mehr allzu viel vom Leben.

    Aber dieser Tag war anders, denn die Schmetterlinge flogen wieder.

    Eine warme Abendsonne tauchte die grünen Wiesen in ein rostiges Licht, während sich am Horizont bereits cremefarbene Bänder in den Himmel legten. Guy Masson stand in diesem stillen Frieden auf einer Kuppe, das Fernglas unter den struppigen Brauen an die Augen gepresst, und folgte dem Schmetterlingsschwarm, der sich in regelmäßigen Abständen zu einer wabernden schwarzen Masse zusammenfand und dann wieder auseinanderstob. Guy kannte sich aus mit Schmetterlingen. Er hatte etliche dieser Insekten mit einem Kescher gefangen und zur Beobachtung in seinen Schmetterlingspark gesteckt. Er hatte tote Falter mit einer Pinzette auseinandergenommen und natürlich hatte er alle Bücher über Schmetterlinge gesammelt, die er jemals in die Finger bekommen hatte.

    Er wusste also, dass sich die Schmetterlinge von Fleury seltsam verhielten. In gewisser Weise waren sie so absonderlich wie er selbst und das machte sie umso interessanter. Sein Blick folgte diesem Schwarm aus bunten Flügeln. Die exotischsten Arten in den exotischsten Farben tummelten sich in der Menge. Zitronenfalter neben Geißkleebläuling und Tagpfauenauge, Flügel wie verwelktes Laub neben Flügeln voller Augen und bunten Zeichnungen. Und es schien, als vollführten sie einen gemeinsamen Tanz, als seien sie durch eine unbekannte Anziehungskraft miteinander verbunden. Ein einziger wabernder, flatternder Körper im Abendlicht.

    Lange hatte Guy auf ihre Vorstellung warten müssen. Seit Tagen lag er bereits auf der Lauer und jetzt endlich, wo sie wieder gemeinsam tanzten, war er so versunken in dieses Schauspiel, dass er den Wagen nicht bemerkte.

    Er fuhr auf der Straße, die von Fleury nach Honfleur führte, weder besonders schnell noch besonders langsam. Es war ein roter Wagen, weder besonders neu noch besonders alt. Niemand würde nach dem Unfall von Schicksal sprechen. Sie würden alle sagen: »Was für ein schrecklicher Unfall. Hat er denn nicht auf die Straße geschaut, als er den Wagen gelenkt hat? Haben ihn die schönen bunten Schmetterlinge abgelenkt, die so gerne über die Obstwiesen fliegen? Oder war es gar Sekundenschlaf?«

    Einzig Guy Masson wusste, dass der Unfall Teil eines großen Tanzes gewesen war. Der Schmetterlingsschwarm bewegte sich auf den Wagen zu wie eine anmutige Tänzerin, die durch die Luft gewirbelt wurde. Er formte sich zu einem großen Mund mit vollen Lippen und legte sich auf die Windschutzscheibe des Wagens, als wolle er die Insassen küssen und in die wunderbare Choreografie flatternder Flügel mit einbeziehen. Der Wagen prallte gegen einen Baumstamm am Straßenrand und die beiden Insassen waren sofort tot. Guy sah es an der Art, wie der Tanz der Schmetterlinge sich veränderte. Die Bewegungen wurden weicher, das Flattern langsamer. In einer melancholisch anmutenden Schleife flogen sie davon.

    Es dauerte eine Weile, bis sich der kleine weiße Schmetterling vom Körper der Toten im Wagen löste und ebenfalls davonflog. Die umstehenden Dorfleute verstanden es nicht. Nur Guy Masson wusste, dass der Schwarm in dieser Nacht eine neue Tänzerin empfangen würde. Erzählen würde er es allerdings niemandem, denn die Leute glaubten ihm sowieso nicht.

    Absonderlich, würden sie sagen. Einfach viel zu absonderlich.

    Und irgendwie, dachte Guy Masson auf seiner Kuppe, hätten sie damit sogar recht.

    Kapitel 2

    Alain

    Unten auf der Straße trat jemand zehnmal gegen die Mülltonne und genauso häufig hallte das Geräusch von schepperndem Blech durch mein Zimmer und riss an meinem Trommelfell.

    »Echt, ich find das langsam nicht mehr okay, Alain.«

    Das war Brian. Er stand mit meinem Handy in der Tür und schaute wütend auf die vielen dreckigen Teller und Löffel, die sich auf meinem Fußboden zwischen Bett und Fernseher stapelten.

    »Ich meine, die Kaffeeflecken auf dem Teppich habe ich dir schon verziehen und die Tatsache, dass du dich die letzten zwei Wochen kein einziges Mal an unseren Putzplan gehalten hast. Aber jetzt lässt du dich wirklich gehen. Jeden Abend bringst du irgendein Mädchen von einer Party mit und sprichst kaum mehr ein Wort mit mir.«

    »Ich muss lernen …« Ich fuhr mir mit der knochigen Hand durchs Haar und wünschte, Brian würde von irgendeiner magischen Anziehungskraft aus dem Türrahmen und hinaus auf die Straße gerissen werden. Zu dem Mülltonnentreter und all dem, was sich in dieser schmuddeligen Seitengasse sonst noch so aufhielt. Doch so etwas wie magische Anziehungskräfte existierten nun mal nicht und so stand Brian weiterhin oberlehrerhaft im Türrahmen und schnitt Grimassen unter seinem roten Haarschopf.

    »Und dann sitze ich auf dem Klo und was passiert?«, rief er und gestikulierte aufgebracht mit den Händen. »Dein Handy klingelt! DEIN Handy, Alain Thibault, direkt neben der Kloschüssel! Kann man denn nirgendwo seine Ruhe vor dir haben?«

    »Gib schon her«, sagte ich und griff nach dem Telefon. Brian war eigentlich kein schlechter Kerl, aber er hatte die unangenehme Eigenschaft, sehr zimperlich zu sein. Dass er, Charly und meine Wenigkeit als WG eine Wohnung seiner Eltern bewohnten, machte die Sache auch nicht besser. Die Fliesen hat mein Vater gerade neu verlegt, Nimm deine Haare aus dem Abfluss oder Hast du heute schon gelüftet? waren Sätze, die ich in den letzten Monaten nur allzu häufig zu hören bekommen hatte.

    »Als wir zusammengezogen sind, dachte ich noch, Franzosen seien edle Menschen, die viel Wert auf ihr Aussehen, einen guten Duft und delikates Essen legen.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber du, Alain Thibault, bist schlimmer als jeder Engländer, den ich kenne!«

    »Vielleicht liegt es daran, dass ich schon seit zwei Jahren in London lebe?«, murmelte ich und begann, auf meinem Handy herumzutippen. Ein Anruf in Abwesenheit. Französische Nummer. Ich rief die Mailbox an.

    »Jaha, mein Lieber, zwei Jahre schon. Aber ich sag dir, Charly macht das auch nicht mehr mit. Du musst dich echt mal zusammenreißen. Es ist ja nicht mehr auszuhalten mit so einem griesgrämigen Mitbewohner. Wir bekommen schon fast Angst, wenn du morgens mit deinem ,Ich töte euch alle, weil mein Leben scheiße ist‘-Blick aus dem Zimmer kommst.«

    »Mein Leben ist nicht scheiße!«, rief ich und schleuderte ihm einen Löffel entgegen. Die Milch vom Morgenmüsli lief dickflüssig über seine roten Wangen und tropfte auf seinen blauen Hemdkragen. Das Handy tutete und es knisterte in meiner Ohrmuschel. Sie haben eine neue Nachricht. Erste neue Nachricht.

    »Doch, das ist es, Alain. Du lebst doch kaum mehr! Du hockst ständig über deinen Büchern und abends gibst du dir auf irgendwelchen Partys die Kante und lässt dich von Mädchen bequatschen. Und weißt du, was das Schlimmste daran ist? Du hast nicht mal Spaß dabei!«

    Dienstag, 1. September, 19:28 Uhr.

    Ich presste das Handy fester gegen mein Ohr, um Brians Gefasel nicht länger ertragen zu müssen.

    »Es ist eher wie eine Sucht, die dich schon längst nicht mehr befriedigt!«, rief er noch.

    Bonjour, Alain. Ich zuckte zusammen, denn ich erkannte die strenge Stimme meines französischen Großvaters. Es ist etwas ungünstig, dass du nicht ans Telefon gehst. Aber nun ja, früher oder später muss ich es dir ja sagen. Deine Eltern sind tot. Sie sind tot, Alain, hörst du? Es war ein Autounfall. Deine Großmutter ist am Boden zerstört. Du musst sofort herkommen, hörst du, Junge? In die Normandie, nach Fleury, deine Heimat, hast du verstanden? Wir können den Bauernhof doch nicht alleine bewirtschaften, in unserem Alter. Also dann … Es entstand eine kurze Pause, in der ich nur sein schweres Atmen hörte. Also dann, Alain, mach’s gut.

    »Was ist? Hast du heute Abend wieder ein Date?«, fragte Brian und schaute hämisch.

    »Nicht wirklich …« Ich ließ das Handy fallen und starrte ihn an. »Meine Eltern sind tot.«

    Brian schluckte und als ich anfing, die Hände zu verkrampfen und gegen mein Gesicht zu pressen, hockte er sich neben mich und schlang seine Arme fest um meinen Oberkörper. »Scheiße, Mann, verdammte Scheiße«, flüsterte er. Und diesmal konnte ich nichts weiter tun, als ihm zuzustimmen.

    Die Straßen von London waren mir schon immer unsympathisch. Anonyme Hausfassaden, viel zu lauter Verkehr, Menschen, die immerzu durch mich hindurchstarrten und sich gegenseitig anrempelten – auf dem Weg zur überfüllten U-Bahn, in überfüllten Einkaufstempeln, auf kreisrunden Plätzen, wo die Leuchtreklamen viel zu hell blinkten, sobald es Nacht wurde. Und doch war ich einer von ihnen geworden in den letzten zwei Jahren. Ein richtiger Großstädter, der nur noch gehetzt durchs Leben ging, das Smartphone stets in der Jackentasche, um ja keine Mail, ja keinen Anruf zu verpassen. Ausgerechnet heute hatte ich es neben der Kloschüssel liegen lassen. Das Leben war seltsam.

    Ich fühlte mich taub, als ich an diesem Abend hinter Brian und Charly hertrottete, die Straße hinauf, auf dem Weg in irgendeinen Pub, in dem Brian mit mir über »meinen Verlust« reden wollte. Man sollte das nicht zu Hause tun, hatte er gesagt, denn dort falle einem nur allzu leicht die Decke auf den Kopf. Man müsse rausgehen, in die pulsierende Metropole, um zu erkennen, dass die Welt sich weiterdrehe. Brian war ein echter Spinner.

    In dieser Nacht spürte ich weder die rempelnden Passanten noch den kalten Wind, der um meinen Nacken wehte. Ich roch weder die Abgase der Stadt noch sah ich die bunt geschminkten Lippen der Mädchen, die mir etwas hinterherriefen. Mein ganzer Körper war taub. Und in meinem Kopf liefen die Bilder eines Autowracks wie in Schleife.

    »Was hast du jetzt vor?«, fragte Brian, als wir in der Ecke eines verrauchten Pubs Platz genommen hatten. Neben uns grölten ein paar Motorradfans und Charly balancierte drei Gläser Apfelsaft vom Tresen zu unserem Tisch.

    »Apfelsaft?«, rief Brian sogleich ganz aufgebracht. »Was soll das denn? Ich brauch ein Bier!«

    »Alkohol ist jetzt ganz schlecht«, sagte Charly und drückte Brian zurück auf die gepolsterte Bank. Ihr Name war eigentlich Charlene, doch wir kannten sie bloß als Charly. Sie studierte Maschinenbau und trug immerzu Jogginghosen, so auch heute, wo sie sich neben mich setzte und dafür sorgte, dass ich meinen Saft bis auf den letzten Schluck herunterspülte.

    »Ich hab in zwei Wochen eine wichtige Prüfung«, sagte ich wie in Trance. Rechtswissenschaften. Ein langweiliges Studium. Ich fragte mich langsam selbst, warum ich vor zwei Jahren ausgerechnet dieses Fach gewählt hatte. Vielleicht, weil es egal gewesen war? Weil ich einfach nur fortwollte aus Fleury, meiner trostlosen Heimat und dem Leben auf dem Bauernhof meiner Eltern?

    Charly legte mir die Hand auf die Schulter. »Die Prüfung ist egal, Alain. Es gibt jetzt Wichtigeres.«

    Ich schaute sie verwirrt an.

    »Du musst nach Hause fahren«, half sie mir auf die Sprünge. »Du musst dich von deinen Eltern verabschieden, deinen Großeltern Beistand leisten. Du musst dich diesem verdammten Schicksalsschlag stellen, bis der Schmerz in dir unerträglich wird. Dann erst kannst du ihn verarbeiten.«

    Ich schaute Hilfe suchend zu Brian, doch der senkte den Blick. »Du weißt, sie hat immer recht«, sagte er.

    »Was bringt es mir, dorthin zu fahren?«, fragte ich schwach. »Trauern kann ich genauso gut hier. Es bringt meine Eltern nicht zurück, wenn ich den Fuß wieder auf französischen Boden setze.«

    »Meine Güte«, Brian ließ die Faust auf den Tisch fallen. »Das klingt fast so, als hättest du Angst davor, in deinen Heimatort zurückzukehren. So schlimm kann es da ja wohl nicht sein, Alain Thibault!«

    Ich seufzte: »Ich dachte, ihr wolltet mich trösten und nicht in die Mangel nehmen …«

    »Wir kennen dich mittlerweile ganz gut, Alain.« Charly beugte sich vor und eine ihrer Locken streifte meine Hand. »Du liebst es, dich vor dem Leben zu verstecken. Damit du ja nicht von seiner Unberechenbarkeit getroffen werden kannst. Das muss aufhören. Du musst dahin fahren.«

    Ich wollte etwas erwidern, doch die Bilder in meinem Kopf begannen wieder zu rasen und so brachte ich nichts zustande als ein müdes Nicken. Wahrscheinlich hatten die beiden recht und ich musste mich der ganzen Sache stellen. Dem Tod meiner Eltern. Der Tatsache, dass ich sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Dass ich nicht mehr angerufen hatte. Dass ich ihre Briefe nicht beantwortet hatte. Sie lagen säuberlich gestapelt in einem alten Schuhkarton, irgendwo in meinem Kleiderschrank. Ungeöffnet. Weder Brian noch Charly wussten davon. Ich hatte meine Vergangenheit aus meinem Leben gestrichen und jetzt holte sie mich ein, so viel heftiger als jemals erwartet.

    »Puh, jetzt brauch’ ich aber wirklich ein Bier«, sagte Brian und suchte meinen Blick. Als ich ihm zustimmte, erhob er sich erleichtert und verschwand in den Rauchschwaden.

    »Er hat ein schlechtes Gewissen, weil er dich heute Nachmittag so angepault hat«, sagte Charly lächelnd.

    »Ich weiß«, erwiderte ich und als Brian mit den Bierkrügen erschien, prostete ich ihm zu. »Danke, dass du mich hergeschleppt hast.«

    Sein Gesicht lief rot an und verschwand so schnell wie möglich hinter dem Bierkrug. »So was machen Freunde doch, oder?«, nuschelte er.

    »Nur die allerbesten«, antwortete ich. Dann lauschte ich seinem verlegenen Schlürfen.

    In jener Nacht lag ich wie erstarrt im Bett, mein Rücken fühlte sich steif an, meine Arme und Beine schwer, ich konnte nicht einschlafen. Es war, als würde ich plötzlich mit der Gewissheit übergossen, die ich in den Stunden zuvor lediglich wie betäubt, wie durch einen Schleier wahrgenommen hatte. Plötzlich hieb er mir mit der Faust in den Magen, der Schmerz, der grausame, nicht auszuhaltende Schmerz. Die Gewissheit. Ich krümmte mich auf der Matratze zusammen, ich wollte weinen, ich wollte heulen, ich wollte es so sehr, es war ein verdammter Albtraum. Keine einzige Träne entwich meinen Augen. Meine Eltern waren fort, mein Ein und Alles, und doch irgendwie so fremd. Alles drehte sich vor meinen Augen, ich sprang auf und lief auf die Toilette. Ich übergab mich, mehrmals. Ich war am Boden. Was sollte ich nur tun? Mein ganzes Leben war gerade über mir zusammengebrochen. Ich sah bloß noch Scherben. Ich würde das nicht auf die Reihe kriegen. Ich brauchte meine Freunde.

    Kapitel 3

    Jade

    Ich lehnte die Stirn gegen das Fenster und spürte die Kälte der Scheibe auf der Haut. Gleich würde es geschehen.

    »Komm vom Fenster weg, Jade!« Chloés gepresste Stimme erklang in den Weiten des langen Flures und mahnte mich vorsichtig zu sein, doch ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Ich musste es einfach mit eigenen Augen sehen.

    »Du bist wahnsinnig, wenn Madame Dupont uns sieht …« Ich spürte den warmen Atem meiner Freundin im Nacken und ihre Finger auf meinem blauen Kleid. Sie stellte sich auf Zehenspitzen, um an mir vorbei in den Garten schauen zu können.

    »Gleich ist es so weit«, flüsterte ich.

    Die Hausdamen hatten einen Kreis gebildet und fassten sich an den Händen. Sie standen in der Mitte des großen Gartens, beleuchtet vom Abendrot der untergehenden Sonne, das durch die dichten Baumkronen in den Garten fiel. Das ganze Anwesen war umschlossen von einer meterhohen Mauer aus grauem Stein, in der sich im Sommer Eidechsen und bunte Blumen versteckten. Doch der Sommer neigte sich dem Ende zu. Und mit ihm verabschiedeten sich vier Mädchen, die in der Mitte des Kreises auf dem Boden hockten, in bunte Kleider gehüllt, und ängstlich in den Himmel blickten.

    »Vier auf einmal, das hat es lang nicht mehr gegeben«, flüsterte ich traurig. »Ich werde sie vermissen.«

    »Ich verstehe nicht, warum du dir das antust.« Chloé versuchte mich am Ärmel vom Fenster wegzuziehen, zurück in unser Schlafzimmer, doch ich befreite mich aus ihrem Griff und meine Fingerspitzen berührten erneut die Fensterscheibe. So kalt, als sei sie aus Eis.

    Plötzlich ertönten Schritte in dem langen Korridor, der zu den Schlafsälen führte. Spitze Absätze auf poliertem Parkettboden – das konnte nur Madame Dupont sein. Voller Panik versteckten wir uns hinter den bodenlangen Samtvorhängen, wagten es nicht einmal, ein- und auszuatmen, bis sich das Geräusch der Schritte wieder entfernte.

    »Diese Hexe ist aber auch wirklich überall im Haus«, fluchte Chloé, während wir uns aus den Vorhängen schälten. Ich beachtete sie gar nicht mehr. Mein Blick fiel durch das Fenster auf die vier Schmetterlinge, die flatternd in die Luft stiegen und die Mauer der Villa überwanden. Sie glitzerten in den schönsten Farben, die Ränder der Flügel weich gezeichnet vom Abendrot. Der restliche Garten war leer.

    »Es ist vorbei«, flüsterte ich und kämpfte gegen die Tränen, die an meinen Wimpern zu perlen begannen.

    Kapitel 4

    Alain

    Die Türme von St. Pancras leuchteten lehmrot vor einem furchtbar blauen Himmel und ich hatte das Gefühl, die Augen zusammenkneifen zu müssen bei so viel Tageslicht. Gestern erst hatte ich erfahren, dass meine Eltern gestorben waren und ausgerechnet heute hatte London entschieden, zur Abwechslung mal in spätsommerlicher Pracht zu leuchten.

    Vor dem Bahnhof war die Hölle los. Mir blieb kaum Zeit, den alten, neugotischen Bau zu bewundern. Mit seinen Rundbogenfenstern, spitzen Türmchen und Giebeln, die sich zackig in den Himmel bohrten, sah er so gar nicht wie ein Bahnhof, sondern eher wie ein Palast aus. Brian zog mich bereits durch eines der Eingangstore – zu Starbucks natürlich. Hier würden wir frühstücken, bevor ich in einen der Eurostars stieg, der mich unter dem Ärmelkanal hindurch nach Frankreich bringen würde.

    Im Gegensatz zu dem altehrwürdigen Gebäude, in dem wir uns befanden, war die Einrichtung bei Starbucks ziemlich kalt und lieblos. Ich saß steif auf einem der Holzstühle, über mir das kalte Flackern eines Neonlichts, und blickte auf die Passagiere hinter der Glaswand, die hektisch ihre Koffer hinter sich herzogen und nach ihren Zügen auf einer der blauen Anzeigentafeln suchten. Mir ging es schlecht, doch ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen. Ich hatte nicht geschlafen, ich konnte noch immer nicht fassen, was geschehen war. Ich lief im Robotermodus, und doch wollte ich Brian beschwichtigen, der sich solche Sorgen um mich zu machen schien. Ich wollte ihn nicht mit meinem Kummer belasten, er tat schon so viel für mich. Jetzt setzte er sich in mein Sichtfeld und ich sah ausschließlich den Berg an Frühstück, den er auf seinem Tablett zu unserem Tisch balanciert hatte.

    »Wer soll das alles essen?«, fragte ich, doch meine Stimme ging fast unter in der lauten Geräuschkulisse des Cafés.

    »Keine Sorge, du bist eingeladen«, erwiderte Brian und schob mir einen großen Becher Kaffee, eine Schüssel Porridge, Pancakes und ein Käsepanini entgegen. Das alles musste ihn ein Vermögen gekostet haben. Und obwohl mich ein solches Frühstück normalerweise begeisterte, wusste ich, dass es heute nach staubiger Pappe schmecken würde. Denn so war das, wenn man trauerte, oder? Man hatte keinen Appetit mehr, weder auf Essen noch auf Reden noch auf Leben.

    Brian schmatzte und offenbarte dabei die Hälfte seines eingeweichten Wurstsandwiches. Er hatte für mich seine Physikvorlesung geschwänzt und das sollte schon was heißen, denn Brian liebte Physik. Irgendwann würde er ein Ingenieur sein und die Brücken und Abwasserkanäle, die Regierungsgebäude und Kindergärten Londons instand halten. Oder er würde dabei helfen, Opernhäuser zu bauen und Bürotürme. Ich wäre stolz, später mal in einem von Brians Bürotürmen zu sitzen. Es würde der höchste von ganz London sein.

    »Sag mal, was ist eigentlich so schlimm an deiner Heimat, dass du in zwei Jahren kein einziges Mal zu Besuch gefahren bist?«, nuschelte Brian.

    Ich wollte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen bringen, doch er bestand darauf, weiterzubohren.

    »Hast du dort denn noch andere Familienangehörige als deine Großeltern?«

    Ich schüttelte den Kopf. »Mein Vater war Einzelkind und meine Mutter ist im Waisenhaus aufgewachsen. Sie weiß nichts über ihre Familie.« Ich biss mir auf die Zunge. Sie wusste nichts über ihre Familie, so hieß es richtig, Alain. Sie wusste nichts. Präteritum. Weil tot. Brian schien meinen Fauxpas gar nicht bemerkt zu haben.

    »Gar nichts? Habt ihr nicht versucht, etwas in Erfahrung zu bringen? Vielleicht hatte sie ja Geschwister.«

    »Es schien ihr nie wichtig zu sein, nach ihren Wurzeln zu suchen. Das war bei uns zu Hause nie ein Thema.«

    »Wenn du über deine Familie sprichst, klingt es nicht, als seien sie Monster.«

    Ich funkelte Brian an: »Hab ich jemals behauptet, sie seien Monster?«

    »Nö, du hast gar nichts gesagt. Da muss man sich ja irgendwas zusammenreimen, als Freund

    Ich zerquetschte das Käsepanini zwischen meinen Fingern und Brian trank vor lauter Erregung ein wenig zu hastig aus seinem Kaffeebecher, sodass er sich die Zunge verbrannte. Geschah ihm recht. Doch als er mit schmerzverzerrtem Gesicht begann, sein Porridge zu löffeln und dabei die Mundwinkel so tief hängen ließ wie ein schmollender fünfjähriger Junge, erbarmte ich mich.

    »Ich wollte weg vom Land. Da wo ich herkomme, kennt jeder jeden und jeder im Dorf meint genau zu wissen, was aus dir mal werden wird.«

    »Was ist so schlimm daran? Selbst meine Großtanten wussten schon immer, dass ich mal Ingenieur werden würde. Oder Astrophysiker. Hab ich schon im Alter von zehn Jahren zu hören bekommen und weißt du was? Es hat mich nicht gejuckt.«

    »Findest du es normal, wenn alle Welt zu wissen meint, wie deine Zukunft aussieht? Alle, bloß du selbst nicht?«

    »Ist mir noch nie untergekommen«, schmatzte Brian. »Mir war nämlich auch schon immer klar, dass ich mal etwas bauen will, wenn ich groß bin. Das wusste ich schon, als ich im Alter von zehn Jahren Legostädte entworfen habe. Die waren gar nicht so übel, sage ich dir!« Er nahm erneut einen Schluck von seinem Kaffee und wischte sich dann den Mund mit einer Papierserviette ab. »Was sollte denn aus dir Schreckliches werden?«

    »Was Anständiges.«

    »Und das wäre?«

    »Was mit Hand und Fuß.«

    »Ach komm schon, Alain! Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!«

    Ich schaute ihn böse an, doch Brian erwiderte meinen Blick ebenso penetrant. Dieser Sturkopf!

    »Meine Schulnoten waren nicht besonders gut«, sagte ich, als mir dieses Spielchen zu viel wurde.

    »Mh«, brummte Brian wenig enthusiastisch.

    »Niemand im Dorf ging davon aus, dass ich studieren würde.«

    »Mh.«

    »Sie gingen davon aus, dass ich den Hof meiner Eltern übernehme.«

    »Bauer?«, fragte Brian ungläubig und verschüttete beinahe seinen Kaffee. Ich fürchtete, er würde gleich einen Lachanfall bekommen, der die Aufmerksamkeit aller Nachbartische auf uns lenken würde, deswegen verpasste ich ihm unter dem Tisch einen Tritt gegen sein Schienbein.

    »Landwirt«, sagte ich. »So nennt man das heute.«

    »So richtig mit Kühen und Hühnern und Traktoren?«

    Ich gab’s auf. Brian hatte keine Ahnung von meiner Welt. Wie auch? Er war eine Großstadtpflanze.

    »Und weil du kein Bauer werden wolltest, quälst du dich jetzt mit Jura?«, stocherte er weiter.

    »Ich quäle mich nicht. Das Studium ist okay.« Natürlich hatte ich es schwerer als andere. Manchmal hatte ich den Eindruck, die vielen Paragraphen und Gesetzestexte wollten einfach nicht in meinen Kopf, egal, wie viele Nächte ich über den Büchern verbrachte. Aber Rechtswissenschaften in London war die Chance auf mein eigenes Leben, weit, weit weg von Fleury und all den Erinnerungen. Und ein bisschen war ich auch stolz darauf, mir diesen Studienplatz erkämpft zu haben. Wenigstens verfügte ich über gute Englischkenntnisse, amerikanischen Serien und englischen Songtexten sei Dank. Ein bisschen Globalisierung war auch in Fleury zu spüren gewesen.

    »Warum bewirbst du dich nicht endlich mal bei einer Agentur? Du hast das Zeug zum Model, Alain! Damit lässt sich Geld verdienen.«

    Die Leier schon wieder. Langsam sehnte ich mich wirklich nach meiner Zugfahrt. Doch die Bahnhofsuhr zeigte mir an, dass ich noch ganze zwanzig Minuten in diesem Starbucks aushalten musste.

    »Jetzt mal ehrlich. Du hast so was Geheimnisvolles. Ist dir nicht aufgefallen, dass dich die Mädchen in diesem Café schon mindestens einmal unter ihren Augenlidern angeschmachtet haben? Und dass sie tuscheln, wenn du dir mit Zeigefinger und Daumen über die Nase fährst?«

    »Ich fahre mir nicht mit Daumen und Zeigefinger …«

    »Doch! Tust du ständig.« Brian hatte sich richtig in Fahrt geredet. »Ich meine, man kann wahrscheinlich nicht sagen, dass du hübsch bist, aber du bist auf jeden Fall besonders. Und glaub mir, das zieht in der Branche.«

    Ich fragte mich, woher Brian sein Insiderwissen hatte, doch ich verbot es mir, die Frage auszusprechen. Es war mir peinlich, wie er von mir schwärmte und wie stolz er sich umschaute, nur weil er mit mir, dem angeblichen Mädchenschwarm, an einem Tisch sitzen durfte. Doch er meinte es ja nur gut. Und ich wusste, wie sehr er hoffte, meine bloße Anwesenheit könnte auf ihn ausstrahlen. Denn Brian wünschte sich nichts sehnlicher als eine Freundin, auch wenn er das niemals zugeben würde. Er war nicht besonders anspruchsvoll, er wollte einfach nur nicht immer allein einschlafen müssen. Tief im Inneren war Brian genauso einsam wie ich.

    »Das ist das letzte Mal, dass wir dieses Gespräch führen«, sagte ich und versuchte, eine dicke Portion Autorität in meine Stimme zu legen. Ich kam mir lächerlich dabei vor. »In diesem Leben werde ich kein Model mehr.« Dann biss ich endlich in mein Käsepanini.

    Es schmeckte staubig. Und nach Pappe.

    Kapitel 5

    Jade

    Vorsichtig ließ ich den Löffel in das geköpfte Ei gleiten. Ich achtete darauf, nur das Eigelb auszulöffeln, schob es mir in den Mund und ließ es ein paar Sekunden lang auf meiner Zunge liegen. Ich liebte mein

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